Göttinger Predigten im Internet
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Neujahrstag, 1. Januar 2006
Predigt über Josua 1, 1-9, verfasst von Tilman Beyrich
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinden,

„Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“
Anders als wir Menschen, die wir so schnell andere fallen lassen, wenn sie uns zur Last geworden sind.
Anders als es auf dem Arbeitsmarkt üblich geworden ist: wo fallengelassen wird, wer zu alt ist oder nicht mobil genug.
Anders als in den Medien: wo über Nacht fallen gelassen wird, wer out ist, wer die Quote nicht mehr bringt.

„Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“
Immerhin ist das auch der Maßstab unseres Grundgesetztes und seines sozialen Netzes, in das fallen möge, wer woanders fallen gelassen wird.
Immerhin ist das auch der Maßstab unseres Gesundheitswesens, wo niemand aufgegeben wird, bevor es heißt: auch Sterben hat seine Zeit.
Immerhin ist das auch der Maßstab der in der Kirche gilt, solange sie mit Recht Kirche Jesu Christi zu sein versucht: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.
„Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“

Liebe Gemeinde, diese Jahreslosung begleitet uns in das neue Jahr 2006.
In ihrer Prägnanz könnte sie die Summe unseres Glaubens sein. Mit Gott ins neue Jahr gehen heißt, sich dessen gewiss sein, dass Gott mich nicht fallen lassen wird – was da auch auf uns zukommen möge: im persönlichen Leben, im Beruf, in meiner leiblichen und seelischen Gesundheit, in der großen Politik, in unserer Kirche.
Gott wird uns nicht fallen lassen und verlässt uns nicht. Nicht: komme, was da wolle. Sondern: weil da kommt, was Gott will.
Diese prägnante Jahreslosung ist freilich nur ein kleiner Ausschnitt aus einem größeren Geschichte. Es handelt sich um den Anfang des Buches Josua im Alten Testament. Und dies ist auch der Predigttext für den heutigen Gottesdienst am Neujahrsmorgen.

- verlesen: Jos 1, 1-9

Liebe Gemeinde, es geht um Josua – und seine Berufung, das Volk Israel ins Heilige Land zu führen.
Genau genommen also ist das, was hier gesagt wird, gar nicht für unsere Ohren bestimmt. Die Jahreslosung lässt uns darüber ein wenig im Unklaren. Indem sie vor den Vers ein „Gott spricht“ setzt, lässt sie es offen zu wem Gott hier spricht.
Zu uns allen? So sind wir es gewohnt, die Bibel zu lesen. Irgendwie gilt alles, was dort zu Abraham und Mose und David usw. gesagt wird – irgendwie gilt dies alles auch uns heute.
Aber dieses „Irgendwie“ ist nicht immer leicht einzulösen. Und ist es überall erlaubt?
Ich möchte Ihnen zwei Lesarten dieses Textes vorschlagen. Die erste geht unbefangen davon aus: Gott spricht das alles auch zu uns.
Die zweite Lesart lässt uns nur das mithören, was anderen von Gott gesagt wird. Doch ich will schon jetzt sagen: auch an Geschichten, in denen man selbst nicht im Mittelpunkt steht, kann ja was dran sein.

1. Also nehmen wir an: Gott spricht zu uns, zu uns heute, hier in der Heringsdorfer Kirche am Neujahrsmorgen 2006:
„Mein Knecht Mose ist gestorben. Mach dich also auf den Weg und zieh über den Jordan hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde.“
Mit Josua setzen wir über den Fluß – in ein neues Jahr. Wir übersetzen uns diese Erfahrung:
Das alte Jahr ist vergangen. Vielleicht liegt eine sehr anstrengende Zeit hinter Ihnen. Wüstenwanderungen. Jemand ist gestorben. Es gilt, das Leben neu in die Hand zu nehmen.
Ein neuer Anfang. Nicht nur „gute Vorsätze“ – das ist so eine abgegriffene Redeweise – sondern wirklich neu anfangen können und dürfen und müssen.
Vielleicht wie Josua mit einer ganz neuen Verantwortung für viele Menschen.
Wir bewegen uns zu auf ein verheißenes Land.
„Jeden Ort, den euer Fuß betreten wird, gebe ich euch.“
Wir müssen nicht auf leisen Füßen durchs neue Jahr gehen. Wo wir hintreten – da stehen wir auf von Gott verheißenem Boden. Erhobenen Hauptes durchs Jahr gehen. Nicht wie Fremdlinge im eigenen Haus.
„Euer Gebiet soll von der Steppe und vom Libanon an bis zum großen Strom reichen ... und bis zum großen Meer.“
Nicht alles im Neuen Jahr wird blühenden Landschaften gleichen. Es wird auch Steppen-Zeiten geben, wo nur wenig wächst, von dem, was wir sähen, wo wir sparsam umgehen müssen mit unseren Lebensmitteln, wo wir allein sind und sehnsüchtig warten auf ein Zeichen Gottes: auf Regen oder den Schatten der Nacht.
Aber ebenso sind uns Zeiten am großen Strom verheißen, am Strom des Lebens, wo wir reichlich von allem haben, auch mal mit dem Strom schwimmen können.
Und Zeiten am großen Meer: am Ostseestrand. Den Blick in die Ferne schweifen lassen, dort wo Himmel und Meer sich berühren, durchatmen, Gottes Wind, Gottes Geist spüren.
Und all diese Orte, diese Zeiten, sind uns von Gott gegeben.
Ja, der Text verheißt Josua – und also uns allen – noch viel mehr: „Niemand wird dir Widerstand leisten können, solange du lebst. Wie ich mit Mose war, will ich auch mit dir sein. Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“
Ist das nicht fast zu viel des Guten? Keinen Widerstand finden? Wenn alles so einfach wäre.
Wäre das nicht sogar zu einfach? Man lernt doch auch aus Konflikten? Und Widerständen? Wer hat gesagt, dass Christsein das Selbstverständlichste und Einfachste wäre. Jesus sicher nicht. Und in unserer Region schon gar nicht.
Aber auch Josua bekommt ja den Auftrag „mutig und stark“ zu sein. Und wir wissen, dass dies nötig sein wird, angesichts der Kämpfe, die auf ihn zukommen.
Am Ende steht dann eine Verheißung wie man sie sich schöner am Neujahrsmorgen nicht wünschen kann: „Fürchte dich also nicht, denn der Herr, dein Gott, ist mit dir bei allem, was du unternimmst.“

2. Wenn denn das alles auch zu uns gesprochen ist!
Liebe Gemeinde, können wir davon ausgehen, dass alle Worte der Bibel ohne weiteres auch uns gelten? Ist das nicht auch eine Überforderung?
Bin ich, sind wir Josua? Der, der das Volk Israel über den Jordan ins verheißene Land führt? Jenes Volk, das Gott zu seinem Volk erwählt hat und zu dem wir nicht gehören. Nicht so ohne weiteres!
Und ist da nicht auch von manchem die Rede, mit dem wir nicht richtig was anfangen können:
- vom verheißene Land Palästina z.B., das wir doch nicht so einfach als auch uns versprochen betrachten können!
- von beängstigenden Kriegen wird erzählt, die um dieses Land geführt werden – bis heute.
- Vom Einhalten der Tora ist die Rede, über die Josua zu sinnieren hätte Tag und Nacht. Was wissen wir Protestanten schon davon, was es heißt nach einer Weisung sein Leben einzurichten, die dem ganzen Tagesablauf, Essen, Kleidung, Sitten ihr erkennbares Gepräge gibt? Seit Luther uns gelehrt hat: „Auf Werke kommt es bei Gott nicht an“ fehlen uns doch alle Voraussetzungen, um eine solche Frömmigkeit recht zu würdigen, geschweige denn zu praktizieren.
Doch dies erwartet unser Text! Dann erst gilt die Verheißung.
Und schließlich: müssen wir nicht in Rechnung stellen, dass dieses Buch Josua den Anfang einer großen Geschichte Israels erzählt, die schließlich damit endete, dass Jerusalem zerstört und die Israeliten außer Landes deportiert wurden, ins Exil? Von diesem Ende her erinnern sich die biblischen Verfasser an die Anfänge bei Mose und Josua – wie verheißungsvoll alles begann und wie schließlich alles in eine Katastrophe führte.
Die Geschichte von Josua ist also im Ganzen wie ein großer Seufzer zu lesen – über eine verspielte Chance. Daher auch die leise anklingenden Warnungen in unserem Text.

Liebe Gemeinde, wie also können wir diesen Text auf uns beziehen? Wie hören wir das, was eigentlich anderen gilt?
Es gibt eine Lösung und diese ist in der Bibel selbst vorgesehen: Wir sind nicht die, die zusammen mit Josua noch vor der Überquerung des Jordans stehen, sondern wir stehen schon auf der anderen Seite: Wir gehören zu jenen Völkern, auf die Israel zukommt.
Wir sind die, auf die andere im Namen Gottes zukommen!
Und was wir da indirekt zu hören kriegen, ist nicht beruhigend, was die kommenden Gefahren, und nicht harmlos tröstend, was das Mit-Sein Gottes angeht. Denn es sind andere – und nicht ich – denen die Verheißung der Landnahme gelten.
Von Eroberung sogar ist die Rede, für die Gott sich verbürgt, die uns keine Chance des Widerstands lässt.
Den Völkern, die dies mithören, - und zu denen wir jetzt gehören – wird viel genommen werden, und Gott lässt das nicht nur zu, sondern er steht dafür ein!
Liebe Gemeinde, Das ist natürlich eine ungeheuerliche, eine fast skandalöse Perspektive. Eine ungewohnte Herausforderung unseres Glaubens.
Aber könnte sie nicht gerade am Beginn eines neuen Jahres eine äußerst heilsame sein.
Gott ist ja nicht nur die Bestätigung unserer Wünsche für das neue Jahr, sondern er kommt uns auch in dem entgegen, was wir so nicht erwartet haben.
Er kommt uns auch entgegen in vielem, das wir nicht verstehen.
Nicht nur in dem, was das kommende Jahr an Guten bringt, sondern auch in dem, was es in unserem Leben vielleicht gegen unseren Willen verändern wird, sollen wir Gott am Werke glauben.
Auch das gehört dazu, wenn wir uns von Gott in diesem neuen Jahr führen lassen wollen.

Liebe Gemeinde,
niemand hat dies so treffend in Worte gefasst wie Dietrich Bonhoeffer, dessen Neujahrslied wir gleich singen werden und dessen 100. Geburtstag wir in einigen Wochen, am 4. Februar, begehen.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag, Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Komme, was da wolle: es ist Gott, der auf uns zukommt. Und wir werden dabei die wunderbare Erfahrung machen, dass Gott, indem er auf uns zukommt, uns auch schon ganz nahe ist.
Das würde bedeuten, dass beide Lesarten des Texte ihr Recht besitzen. Zum Glück. Immerhin soll uns die Jahreslosung doch ein ganzes Jahr lang begleiten.
Also: „Gott spricht zu Josua und zu uns heute: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“
Amen

Dr. Tilman Beyrich
Klenzestr. 9
17424 Seebad Heringsdorf
beyrich@uni-greifswald.de


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