Göttinger Predigten im Internet
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Neujahrstag, 1. Januar 2006
Predigt über Matthäus 6, 5-13, verfasst von Lars Ole Gjesing (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Es ist merkwürdig, dass in der Entwicklung unserer Gesellschaft gewaltige Gegensätze eingebaut sind. Und das wird Jahr für Jahr deutlicher, wenn wir zurückschauen. Der Wohlstand wächst ununterbrochen in unserem Teil der Welt, und mit ihm wächst unsere Freiheit zu tun, wozu wir Lust haben. Die Zahl der Möglichkeiten steigt unablässig, und dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht bloß um oberflächliche Möglichkeiten, die sich vermehren; es ist nicht bloß die Wahl zwischen verschiedenen Sorten Brot zum Frühstück oder zwanzig Marken Spülmittel, die wir im Namen der Wahlfreiheit fast täglich zu treffen haben. Es gilt bis hinab in das aller Grundsätzlichste, dass der Zwang aufgehört hat.

Niemand braucht da zu wohnen, wo er oder sie geboren ist, das ganze Land, ja die ganze Welt steht offen. Niemand braucht den väterlichen Hof oder den mütterlichen Haushalt zu übernehmen, man kann werden, was man will, mit nur wenigen Einschränkungen. Wie der Körper aussehen soll, bestimmt man auch selbst: Muskelprotze von Trainingsungeheuern oder bleich und gebrechlich und interessant oder eine von den zahlreichen anderen spannenden Möglichkeiten. Welche Art von Person man sein will, muss man auch herausfinden. Die Kultur der Jugend bietet etwa sechs bis acht Möglichkeiten, die sich abwechseln, und zwischen denen man sich nach Gutdünken hin und her bewegen kann. Es gehört jeweils eine ganze Identität dazu.

Die Freiheit ist fast unendlich geworden. Und keine einzige Wahl, die man trifft, ist bindend; sie läßt sich immer ändern, ungeachtet, ob es sich um Fach oder Wohnort oder Familie oder Typ oder Persönlichkeit handelt.

Das Merkwürdige dabei ist, dass, wenn die Freiheiten so zahlreich werden, dann auch der Zwang genau im selben Tempo wächst. Denn man kann nicht einfach „nicht wählen wollen“. Wenn die Möglichkeiten erstmal dasind, ist man gezwungen, Stellung zu nehmen. Jetzt ist es gezwungenermaßen so, dass man seinen Körper nach einem der schreienden Ideale, die auf dem Markte sind, formen und sozusagen sein eigener Bildner sein muss. Vielen Menschen gelingt das ausgezeichnet, und deshalb ist unsere Welt so voller Leute mit einem schönen und interessanten Aussehen, während es anderen nicht gelingt und diese Menschen dann ihren Körper mit Hungerkuren oder übermässigem Essen peinigen – manche bis zur Todesgefahr, die Hälfte von allen an Magersucht leidenden Mädchen, die in psychiatrische Kliniken eingeliefert werden, stirbt an ihrem Leiden – oder sie essen giftige Tabletten, um vor Kraft zu strotzen. Die Abschaffung der Freiheitskultur können wir uns nicht gut wünschen, wenn wir an den Zwang alter Tage denken. Und wer sollte bestimmen, wozu wir zu zwingen wären, wenn wir uns denn dazu entschlössen, die Freiheit einzuschränken?

Wir können ihre Abschaffung nicht wollen.

Aber die Freiheitskultur ist gnadenlos. Sie ist zermürbend, vor allem für die jungen Menschen zwischen zwölf und dreißig Jahren, die mitten im Kampf und all den Wahlmöglichkeiten stehen und denen ein einigermaßen fester Standort fehlt und die ununterbrochen die Frage beantworten müssen, wer sie im Grunde selbst sind, wenn es denn überhaupt so etwas wie „man selbst zu sein“ gibt, wo sich doch alles in wechselnde Rollen aufgelöst hat. Und das Urteil über die, die dieses Spiel nicht beherrschen, ist hart. Sie heißen die Verlierer, und für die Verlierer gibt es keine Gnade.

Das ist merkwürdig: Wir haben die Gesellschaft der Freiheit erreicht; aber es zeigt sich, dass gerade diese Tatsache die Bildung eines gesunden Ichs bedroht, die Leute in Identitätsprobleme stürzt, in Magersucht, Depressionen und unaufhörliche Jagd nach Anerkennung.

Die unbarmherzige, moderne Gesellschaft der Freiheit ist eine der großen gesellschaftlichen Fragen, deren wir uns im Ernst annehmen müssen. Tun wir das nicht, kann es dazu kommen, dass die Sehnsucht nach Krieg und Katastrophen als Gegenzug an Stärke gewinnen würde. Denn im Krieg und bei Katastrophen ist die Freiheit klein und die Notwendigkeit groß; aber nur Dummheit und Gedankenlosigkeit können Menschen dazu veranlassen, sich diese Art von Lösungen zu wünschen. Das sind nur Leute, die die Schrecken von Krieg und Katastrophen nicht kennen.

Aber welche Alternative haben wir?

Ja, das Christentum zeichnet sich dadurch aus, dass es keine Gesetzesreligion ist, die fertige Vorschriften liefert, wie die Probleme der Welt zu lösen wären. Wir können also nicht sagen: Jetzt kommt die Antwort des Christentums. Es ist erlaubt, Neujahr zum Nachdenken und zur Einsicht zu benutzen, wie es auch gedacht ist, und es ist erlaubt, Fragen zu formulieren, auf die man keine Antworten hat, wenn die Frage sich aufdrängt. Aber der Text des Neujahrstages gibt denn doch immerhin eine ganz wesentliche Andeutung einer Antwort.

Der Neujahrstext ist das Vaterunser, dargestellt als ein kleines Stück Unterricht in regelmäßiger Anwendung. Das Vaterunser ist also ganz einfach dazu bestimmt, fest und immer wieder gebraucht zu werden. Es ist dazu bestimmt, ein Anker zu sein, der allein durch die tägliche Anwendung einige Stabilität zu schenken vermag, wie das ein Anker kann. Das Vaterunser ist nicht nur ein Gebet, sondern auch ein Ritual, etwas, was man regelmäßig und oft tun soll. Und genau dies ist das Wesentliche in diesem Zusammenhang.

Denn eine der wesentlichsten Sicherungen gegen die alles verzehrende Freiheit sind gute, unerschütterliche Rituale. Etwas, das fest steht, weil es in derselben Form in bestimmten Abständen wiederkehrt, gleichgültig, in welcher Stimmung wir uns befinden, gleichgültig, wie und wo die Welt brennt und wie es um die Liebe bestellt ist. Ohne Rituale ist das Dasein zerfahren.

Eines aber muss man sich klar machen: die Rituale sind natürlich auch in die Falle der Freiheit geraten. Einst betete man das Vaterunser regelmäßig, morgens und abends, es war eine Selbstverständlichkeit. Das baute, zusammen mit vielen anderen festen Rahmen, Stabilität auf. Heute ist das Vaterunser aber keine Selbstverständlichkeit mehr. Hier draußen in der Freiheit sind wir doch gezwungen, erstmal zu beschließen, ob wir überhaupt feste Rituale haben wollen, und wenn ja, ob es ein Morgen- oder ein Abendgebet sein soll. Und danach haben wir frei zu wählen, ob es irgendein Gebet sein soll, vielleicht ein buddhistisches oder jüdisches, oder vielleicht eine Meditation. Und warum nicht auch wechseln, ein bisschen von hier, ein bisschen von da nehmen? Der naive selbstverständliche, wahlfreie Gebrauch des Vaterunsers ist uns abhanden gekommen. Aber der Weg dahin lässt sich wieder öffnen: Nicht so, dass das Beten des Vaterunsers plötzlich wieder eine einfältige Selbstverständlichkeit werden könnte, sondern so, dass wir beschließen, dass wir das Ritual jetzt wieder haben wollen, und einen unumstößlichen Entschluss fassen, dass es genau so sein soll, und uns an diesen Entschluss halten.

So ein Entschluss verlangt heutzutage gute Gründe. Wir wollen deshalb diese Neujahrspredigt damit beenden, dass wir einige gute Gründe für den Gebrauch des Vaterunsers andeuten:

Erstens ist es einfach phantastisch, dass wir tatsächlich ein Gebet haben, das Jesus selbst formuliert hat. Dieser Mensch, der einem jeden Respekt und Hingabe abverlangt für ein Leben voller Glauben, Hoffnung und Liebe. Es bürgt für Qualität, dass es Jesu eigenes Gebet ist.

Zweitens ist es das Gebet, das unsere Vorväter Generation für Generation benutzt und hoch geschätzt haben. Es ist vor über tausend Jahren auf dänischen Grund und Boden umgepflanzt worden und ist deshalb in unsere Volksseele hineingewachsen, wenn wir denn so etwas wie eine Volksseele haben. Es ist jedenfalls in unsere Literatur und unsere Kirchenlieder hineingewachsen, und es ist unlöslich mit unserer Taufe und mit unserem Begräbnis verknüpft.

Drittens ist es ungewöhnlich schön formuliert als Sprache, als Gedicht, könnte man sagen, – mit einem strengen Aufbau aus sieben Einzelgebeten, eingeleitet mit einer Anrede und abgeschlossen mit einem Lobpreis.

Viertens ist es ein Gebet, das in seinem Inhalt genau das Wichtigste und Grundlegende erfasst. Die letzten vier Teile bitten für den Alltag um alles, was wir nötig haben, um gut zu leben: das tägliche Brot im umfassenden Sinn, Vergebung, Schutz vor Versuchungen und vor allem Bösen. Und die drei ersten Gebete graben ein Stück tiefer, denn sie bitten darum, dass das Reich Gottes und sein Wille hier gelten sollen. D.h. es sind Gebete, dass sogar das, was das bestmögliche Dasein hier auf Erden niederdrückt, aufgehoben werden möge: dass Krieg und Katastrophen aufhören, dass Krankheit und Schaden verschwinden mögen, ja, dass Tod und Trauer und Sehnsucht aufhören mögen, auf dass der Friede und die Freude Gottes alles in allen wirken kann.

Amen

Pastor Lars Ole Gjesing
Søndergade 43
DK-5970 Æreskøbing
Tel.: +45 62 52 11 72
E-mail: logj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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