Göttinger Predigten im Internet
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Altjahresabend, 31. Dezember 2005
Predigt über 2. Mose 13, 20-22, verfasst von Bernd Eberhardt
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Also zogen sie aus von Sukkoth, und lagerten sich in Etham, vorn an der Wüste.

Und der Herr zog vor ihnen her, des Tages in einer Wolkensäule, dass er sie den rechten Weg führte, und des Nachts in einer Feuersäule, dass er ihnen leuchtete, zu reisen Tag und Nacht.
Die Wolkensäule wich nimmer von dem Volk des Tages, noch die Feuersäule des Nachts.
(2. Mose 13, 20-22)

Wolken und Feuer als Wegweiser Gottes für den Zug des Volkes Israel durch die Wüste. Liebe Leserinnen und Leser der Internetpredigt, wer wird hierbei am Ende eines ereignisreichen Jahres nicht Assoziationen haben, die alles andere als positiv belegt sind.

Wolken und Feuer! Lassen sie mich kurz rekapitulieren, worüber uns im vergangenen Jahr die Medien besonders berichtet haben.

Gleich zu Beginn des Jahres erfahren wir von über 178 000 Toten bei einer Tsunamie-Flutwelle in Südostasien.
Im Oktober müssen New Orleans und zahlreiche weitere Städte evakuiert werden, weil der Hurrikan „Katrina“ sein zerstörerisches Werk vollendet. Die Nationalgarde verhindert tagelang eine Rückkehr der Bewohner um der angeblichen Gefahr von Plünderungen oder Einstürzen vorzubeugen.
In Pakistan sterben 87 000 Menschen an einem verheerenden Erdbeeben. Zahllose Menschen sind obdachlos dem harten Winter ausgesetzt.
In den Vorstädten von Paris brennen im November unzählige Autos und Gebäude, begleitet von Straßenschlachten.

Sie werden sich fragen: Was hat dies mit der Wolken- und Feuersäule Gottes zu tun? Natürlich deute ich die zuvor genannten Schreckensbilder nicht als Zeichen Gottes. Aber ein Vergleich des Jahresrückblickes 2005 mit dem Mose-Text wirft doch Fragen auf.

Sind wir noch ein Volk?
Woran orientieren wir uns heute?
Was ist der „rechte Weg“?
Gibt es für uns heute göttliche Zeichen der Orientierung?
Auf welchem Weg befinden wir uns und wohin soll er führen?

Wenn man sich die momentane Wirtschaftslage in unserem Land betrachtet und wenn man die Menschen auf der Straße nach ihrem Befinden befragt, so bekommt man durchaus ein zerrissenes Bild vom Zustand unseres Volkes.

Von den Wirtschaftsexperten hören wir oft, dass Deutschland „Export-Weltmeister“ sei. Dass sich mit den teils guten Absatzzahlen vieler Unternehmen gut Geld verdienen lässt, zeigt der Blick auf die Einkommen einzelner in unserer Gesellschaft. Die Automobilindustrie bestätigt: Der Absatz an Oberklasse-Fahrzeugen ist so hoch wie nie zuvor. Auf der anderen Seite können wir im sogenannten Armutsbericht lesen, dass in Deutschland 11 Millionen Bundesbürger an der Armutsgrenze leben. Das Magazin „Der Spiegel“ kommentiert dies als „Dokument sozialer Zerrissenheit“. Irgendetwas läuft hier schief.

Ich möchte jetzt nicht nocheinmal eine „Heuschrecken-Diskussion“ beginnen. Aber eines ist in den letzten Jahren klar geworden:
Durch die Öffnung der Grenzen und dem mehr und mehr zusammenbrechenden Binnenmarkt, sind Menschen auf der Strecke geblieben. Die Arbeit ihrer Hände ist im Wettbewerb der konkurrierenden Gesellschaftssysteme nicht konkurrenzfähig. Doch Gegenmaßnahmen unternimmt unser Volk nur zaghaft. Dass Einschränkungen nötig sind, wird niemand mehr in Frage stellen. Dass unser Gesellschaftssystem sich über die Jahrzehnte einen „Speckgürtel“ angewirtschaftet hat, wird man auch kaum verleugnen können.
Was allerdings wirklich erschrecken muss, ist die Tatsache, dass es soetwas wie eine gemeinsame Orientierung nicht mehr zu geben scheint.

Jeder denkt an seine eigene Existenz.
Die Gewerkschaften denken an ihre Prozente und an ihre tarifrechtlich ausgehandelten Arbeitsrechte. Die Mitglieder der Firmen-Vorstände denken an die Entwicklung ihrer Aktien und Gewinnanteile. Ein Ziehen und Zerren an dessen Ende die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft verlieren werden.
Und hier kommt die Geschichte vom Volk Israel beim Auszug aus Ägypten genau zur rechten Zeit. Die Erkenntnis die Flucht aus Ägypten gemeinsam zu unternehmen ist zunächst die erste Voraussetzung für das Gelingen des Unternehmens.
So gäbe es auch in unserer Situation schon allein genügend volkswirtschaftliche Gründe den Binnenmarkt auch arbeitsmarktpolitisch zu stabilisieren, da die vielen entlassenen Mitarbeiter über die Sozial- und Steuersysteme am Ende unsere Gesellschaft mehr kosten als das, was wir durch die Produktionsverlagerungen in „billigere“ Länder gespart haben.

Doch woher sollte der Anreiz kommen sich umzuorientieren? In den letzten Tagen wird vor allem im Zusammenhang mit dem Urteil um die Abfindungen im Umfeld des Mannesmann-Konzernes die Frage nach einem „Verhaltens-Kodex“ gestellt. Ja, sogar über gesetzliche Regelungen im Umgang mit anvertrautem Vermögen wird nachgedacht.

Ich glaube, dass all dies nicht ersetzen kann, was in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft fehlt. Es ist die Wolkensäule in unseren Tagen, es ist die Feuersäule unserer Nächte.

Die einzigen Wolkensäulen die wir wahrnehmen, sind die, die uns Naturkatastrophen bescheren. Die einzigen Feuersäulen die uns in Erinnerung kommen, sind die brennenden Autos in Paris. Wir Göttinger Bürger werden vielleicht zuerst an den brennden Nordturm unserer Johanniskirche denken, der in der Nacht zum 23. Januar von Brandstiftern angezündet wurde.

Deshalb mein Vergleich mit diesen Bildern: Auch hier spiegelt sich ausschließlich Orientierungslosigkeit! Trotz steigender Zahlen an Umweltkatastrophen, ausgelöst u.a. von globaler Erwärmung durch den steigenden Einsatz fossiler Brennstoffe, gibt es keine wirklich gemeinsame Basis auf der z.B. in Kyoto vernünftige, alle Staaten betreffende Vereinbarungen zur Eindämmung der Ressourcenverschwendung getroffen werden könnten.

Brände werden gelegt - in Göttingen genauso wie in Paris - von Menschen, die den Glauben an eine lebenswerte Zukunft längst verloren haben.

Doch wo ist sie nun die Wolkensäule am Tag und die Feuersäule der Nacht? Angenommen die Wolken- und Feuersäulen zu unserer Orientierung, sie wären tatsächlich vorhanden. Würden wir sie denn überhaupt wahrnehmen?

Um überhaupt eine Orientierung bekommen zu können müssen wir es dem Volk Israels gleichtun. Wir müssen uns als eine Gemeinshaft fühlen, die als Ganzes eine Reise antreten muss. Eine Reise durch eine globalisierte Welt.
In Zeiten der Bedrängnis ist eine Geschlossenheit nicht leicht zu halten. Beim Anblick der heranrollenden Streitwagen der Ägypter entsteht Panik im Volk Israels. Eine Flucht durch das Schilfmeer scheint aussichtslos. Und die Israeliten fragen Mose: „Waren nicht Gräber in Ägypten, dass du uns musstest wegführen, dass wir in der Wüste sterben?“ (2. Mose 14, 11)

Wir müssen wieder lernen uns einzulassen auf den, auf den unsere ganze Kultur zurückgeht, auf den, der uns soweit gebracht hat. Auf den, der Konventionen bricht, der sich den Bedürftigen zuwendet, der von den Menschen fordert: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern“ (Luk. 12, 48).
Wenn es gelingen könnte ein wenig von der Botschaft Jesu Christi wieder in der Gesellschaft zu verankern und nur ein wenig von dem Gefühl verströmen zu lassen, das die Menschen jahrhundertelang aufgabaut hat in Zeiten von Krankheit, Armut und Verfolgung, so könnte manche herannahende Katastrophe abgewendet werden..

Und wir stehen kurz vor einer Katastrophe, wenn nicht rechtzeitig eine Korrektur unseres Reisezieles eintritt. Wenn die Frage der Beschäftigung von Mitarbeitern nicht auch dem Ziel einer gesunden Volkswirtschaft und somit der Wahrung des sozialen Friedens folgt.
Wenn sich die Wohlhabenden und Begabteren dieser Gesellschaft nicht um ein „Mitnehmen“ der Schwächeren bemühen, sondern sich abgrenzen (Erinnern Sie sich noch an die Aussage des französischen Innenministers Sarkozy man müsse die Problemviertel von Paris mit dem Hochdruckreiniger säubern?).
Wenn das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Schöpfung weiterhin dem Wachstumsdenken zum Opfer fällt.

Eigentlich scheint es so einfach zu sein. Doch die Abhängigkeiten und Verpflichtungen unserer gesellschaftlichen Netzwerke sind komplex. Ich wünsche uns allen, dass wir den Mut haben uns in unserer Orientierung von Gott leiten zu lassen, auch - oder gerade wenn - man glaubt direkt vor der Wüste zu stehen.

Ein gesegnetes Jahr 2006 wünsche ich Ihnen allen. Amen.

Bernd Eberhardt
Kantor der St. Johanniskirche Göttingen
eberhardt.kirchenmusik@web.de


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