Göttinger Predigten im Internet
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Altjahresabend, 31. Dezember 2005
Predigt über 2. Mose 13, 20-22, verfasst von Martin Schewe
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wenn wir an das vergangene Jahr denken, liebe Gemeinde, an die Zeit, die seit dem vorigen Silvesterabend abgelaufen ist, dann können wir an eine gerade Linie denken. Ebenso, wenn wir uns das neue Jahr vorzustellen versuchen. Noch eine gerade Linie. Oder vielmehr dieselbe – die Fortsetzung. Das klingt zunächst dürftig. Natürlich denken wir an viel mehr: die Ereignisse, die wir im vergangenen Jahr erlebt haben und die wir vom neuen Jahr erwarten. Sie sind die Hauptsache. Aber die Zeit, in der die Ereignisse passieren, ist auch wichtig. Konzentrieren wir uns daher für einen Moment auf die Zeit. Dann ist die gerade Linie das Bild, das uns wahrscheinlich als erstes einfällt. Sie führt aus der Vergangenheit in die Gegenwart, von dort weiter in die Zukunft, und wir gehen mit.

Das andere Bild, das wir uns von der Zeit machen können, ist der Kreis. Denken wir noch einmal an das alte Jahr und das neue. Heute um Mitternacht schließt sich der Kreis und fängt von vorn an. Wieder mit einem Ersten Januar. Wieder zwölf Monate. Die beiden Bilder scheinen einander zu widersprechen. Wie kann die Zeit geradeaus laufen und dennoch im Kreis? Merkwürdigerweise stimmt beides. Die Zeit bewegt sich vorwärts; sie verändert sich – und sie wiederholt sich. Oder sind wir es, die sich im Lauf der Zeit verändern und zugleich wiederholen? So genau lässt sich das nicht unterscheiden. Denn die Zeit gehört zu uns und wir zur Zeit. Deshalb ist sie ja wichtig. Beginnen wir noch einmal mit den Veränderungen, mit der geraden Linie.

Dieses Bild passt besonders gut zu euch und eurer Zeit, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden. Dass ihr ein Jahr älter geworden seid, bedeutet bei euch viel mehr als bei uns Erwachsenen. Ihr merkt es daran, dass die Erwachsenen, wenn sie euch eine Weile nicht gesehen haben, zu sagen pflegen: „Was bist du groß geworden!“ Als ich in eurem Alter war, habe ich diesen Satz nicht gern gehört. Er war zwar als Kompliment gemeint. Aber eigentlich sagten die Erwachsenen: Richtig groß bist du noch nicht – immer noch ein Heranwachsender. Damit fühlte ich mich nicht ernst genommen. Ich war doch mehr als meine Körpergröße. Wenn es euch ähnlich geht wie mir damals, kann ich euch beruhigen. Lange werdet ihr das nicht mehr hören: „Was bist du groß geworden!“ Das vergangene Jahr hat euch nämlich tatsächlich wachsen lassen, und zwar nicht nur an Zentimetern. Es hat euch weitergebracht; so weit, dass die Körpergröße bald keine Rolle mehr spielt. Ihr habt neue Erfahrungen gemacht, neue Interessen entdeckt, neue Freundinnen und Freunde gefunden. Ihr seid selbständiger geworden. Im neuen Jahr werdet ihr konfirmiert. Früher war das der Zeitpunkt, wo sich die Jugendlichen für eine Berufsausbildung entscheiden mussten. Damit könnt ihr euch zum Glück mehr Zeit lassen. Aber auch ihr trefft wichtige Entscheidungen: was in eurem Leben zählt und wer ihr sein wollt. Das ist nicht immer einfach. Dafür spannend. Ihr habt noch viel vor euch.

Wir Erwachsenen entwickeln uns hoffentlich immer noch. Aber längst nicht so sehr und so schnell. Deshalb finde ich, das Bild von der Zeit als einer geraden Linie passt besondes gut zu euch – selbst wenn die Linie nicht ganz gerade verläuft. Diese Erfahrung habt ihr inzwischen auch gemacht: Rückschläge und Umwege gehören dazu. Sie tragen zur Entwicklung bei. Sogar die Rückschläge und Umwege führen uns vorwärts. Für eure zukünftigen Schritte nach vorn wünsche ich euch alles Gute.

Nun das andere Bild, der Kreis. Bleiben wir auch hier einstweilen beim vergangenen Jahr und bei euch Konfirmandinnen und Konfirmanden. Zweiundfünfzig Wochen hatte das Jahr, dreihundertfünfundsechzig Tage, jeder Tag vierundzwanzig Stunden. Jede Woche war anders. Aber jede begann mit einem Sonntag, danach die Werktage. Kein Tag war genau wie der vorige. Aber jeden Abend seid ihr ins Bett gegangen und am nächsten Morgen wieder aufgestanden. 8.760mal hat sich der Minutenzeiger auf eurer Armbanduhr gedreht, auch wenn ihr ihm dabei nicht zugesehen habt; der Sekundenzeiger 525.600mal. So viele Kreisläufe in einem einzigen Jahr – und das nächste hat wieder zweiundfünfzig Wochen und dreihundertfünfundsechzig Tage mit jeweils vierundzwanzig Stunden. Sehen wir also weiter.

Wer jetzt dreizehn ist, hat schon 4.745mal zu Mittag gegessen und wird, bis er fünfundachtzig ist, noch mehr als 26.000 Sonnenauf- und -untergänge erleben. Die Jahreszeiten wiederholen sich: Frühling, Sommer, Herbst und Winter – und wieder Frühling; die großen Feste des Kirchenjahres: Weihnachten, Ostern und Pfingsten – und ein neues Kirchenjahr; Arbeit und Freizeit – und wieder Arbeit und wieder Freizeit. Schließlich der ganz große Kreis, der Wechsel der Generationen, Leben und Tod. Aus Kindern und Jugendlichen werden Eltern, aus Eltern Groß- und Urgroßeltern, die zu ihren Enkeln und Urenkeln sagen: “Was bist du groß geworden!“ Ebenso die Enkel und Urenkel zu ihren Enkeln und Urenkeln und so fort. Aus dieser Perspektive sieht das vergangene Jahr nicht mehr nach einem Fortschritt aus; eher wie der kurze Abschnitt eines langen Weges, den wir auf der Oberfläche einer Kugel zurücklegen. Wer auf einer Kugel vorwärts geht – wir können es uns am Erdball klar machen –, bewegt sich mit jedem Schritt auf den Anfang zu. Ist das also das richtige Bild für die Zeit: ein Zeitball? Machen wir es nicht zu kompliziert. Begnügen wir uns mit den Bildern, die wir betrachtet haben. Merkwürdigerweise stimmt beides. Die Zeit verändert sich, und sie wiederholt sich. Oder wir verändern und wiederholen uns im Lauf der Zeit. So genau lässt sich das nicht unterscheiden.

Und noch etwas lassen beide Bilder offen: wohin die Zeit läuft und wir mit ihr; die Frage nach dem Ziel. Die gerade Linie hat keins. Sie führt aus der Vergangenheit in die Gegenwart, von dort weiter in die Zukunft – auch wenn wir einmal nicht mehr mitgehen. Der Tod ist ein Ende. Aber er ist nicht das Ziel. Und der Kreis hat auch keins. Er wiederholt sich von Tag zu Tag, Jahr zu Jahr, Generation zu Generation. Irgendwann hört das auf, sagt die Physik. Sogar die Zeit hört auf. Dann tritt der Wärmetod ein. Das Universum steht still. Doch auch der Wärmetod ist nicht das Ziel. Gibt es ein Ziel?

Wer wissen will, wohin er geht und wie er dorthin gelangt, dem helfen Wegweiser und Verkehrszeichen. Am besten solche, die ihm nicht nur sagen: „Einbahnstraße“, oder: „Kreisverkehr“. Damit sind wir noch nicht viel schlauer. Wer sein Ziel sucht, will auch wissen, was nach der Einbahnstraße kommt und wann er aus dem Kreisverkehr abbiegen muss. Einen Wegweiser, der ihnen das verrät, ein Verkehrszeichen, das sie durch die Zeit führt und ihnen das Ziel zeigt, finden im Zweiten Buch Mose die Israeliten. Es heißt dort von ihnen:

„So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.“

Ein mobiler Wegweiser; ein Verkehrszeichen, das mitwandert. Gott selber zeigt den Israeliten, wohin es geht. Hinter ihnen liegt Ägypten, vor ihnen die Wüste, jenseits der Wüste das verheißene Land. Die Wolken- und die Feuersäule geben aber nicht nur geographische Orientierung. Gott begleitet das Volk Israel auch durch die Zeit, und wieder begegnet uns die Zeit zuerst als gerade Linie und dann als Kreis.

Ägypten, das ist die Vergangenheit. Die Israeliten wurden dort unterdrückt und mussten Sklavendienste tun. Noch tiefer in der Vergangenheit jedoch hat Gott Abraham, Isaak und Jakob versprochen, ihre Nachkommen in ein Land zu bringen, in dem sie frei sein sollten. Dieses Versprechen macht Gott jetzt wahr. Die Israeliten stehen am Anfang ihres Weges in die Freiheit. Vierzig Jahre wird er dauern, voller Rückschläge und Umwege. Aber auch die Tora wird Gott Israel geben, noch einen Wegweiser zu einem Leben in Freiheit. Dort kommen die Israeliten schließlich an. Am Ende sind sie doch vorwärts gegangen. Deshalb, trotz der Rückschläge und Umwege, eine gerade Linie: aus der Sklaverei in die Zukunft.

Dann wird die Linie zum Kreis. In der Zukunft angekommen, ist der Weg nämlich nicht zu Ende, den die Israeliten mit Gott gegangen sind. Jedes Jahr, gebietet Gott in der Tora, sollen sie den Auszug aus Ägypten wiederholen: mit dem Passafest und den anderen Festen, die an die Wüstenwanderung erinnern. Der jüdische Festkalender ist das Vorbild für unser Kirchenjahr. Auch wir Christinnen und Christen wiederholen zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten unseren Weg mit dem Gott Israels und lassen die Geburt Jesu Christi, seine Auferstehung und die Sendung des Heiligen Geistes wieder zur Gegenwart werden. Natürlich nur symbolisch. Aber was hinter den Festen und Symbolen steht, das gilt, hier und heute wie damals: dass Gott für uns da ist – ein mobiler Wegweiser; ein Verkehrszeichen, das mitwandert.

Ob es ein Ziel gibt, wollten wir wissen. Begonnen haben wir mit den beiden Bildern von der Zeit. Die gerade Linie passte besonders zu euch, liebe Konfimandinnen und Konfirmanden, weil das vergangene Jahr euch weitergebracht hat und weil ihr noch viel vor euch habt. Denoch verläuft eure Zeit zugleich im Kreis – auf dem Zifferblatt der Armbanduhr, von Silvester zu Silvester und erst recht, wenn ihr an den ganz großen Kreis denkt, den Wechsel der Generationen, Leben und Tod. Die Frage nach dem Ziel ließen beide Bilder offen: wohin die Zeit läuft und wir mit ihr. Die Antwort steckt in der Wolken- und Feuersäule aus dem Zweiten Buch Mose. Denn die Säule bleibt, Tag und Nacht. Gott bleibt. Darum feiert Israel jährlich das Passafest und zieht noch einmal in das verheißene Land, und wir Christinnen und Christen machen es nach und feiern im Kirchenjahr, dass Gott auch uns befreit hat. Gerade und Kreis sind schon am Ziel, heißt das. Wir sind am Ziel. Der mobile Wegweiser zeigt es uns nicht nur. Er ist das Ziel. Was damals geschah, als Gott die Israeliten aus Ägypten holte und in Jesus Christus auch zu uns kam, genügt für heute und für immer. Gott wandert nicht mit, damit wir erst noch ankommen. In seiner Gegenwart sind wir längst angekommen.

Das bedeutet nicht, dass nun nichts mehr geschieht. Ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden erwartet etwas vom neuen Jahr und wir alle mit euch. Richtig so. Denn wie die Zeit verläuft, ist eine Sache. Die Hauptsache jedoch bleiben die Ereignisse, die in der Zeit passieren; und die Ereignisse bleiben vielfältig, überraschend und bunt. Manchmal leider auch schwarz. Aber sie passieren nicht ohne die Wolken- und Feuersäule. Und wenn Gott für uns da ist, können wir uns darauf verlassen: Es kommt noch mehr. Gerade weil wir schon am Ziel sind, dürfen wir etwas erwarten.

Pfarrer Dr. Martin Schewe
Evangelisch Stiftisches Gymnasium
Feldstraße 13
33330 Gütersloh
marschewe@yahoo.de

 


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