Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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Tag der Geburt des Herrn, 25. Dezember 2005
Predigt über 1. Johannes 3, 1-6, verfasst von Ekkehard Lagoda
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Seht,
welch große Liebe
uns der Vater erwiesen hat,
daß wir Gottes Kinder heißen sollen,
und wir sind es!
Deshalb erkennt die Welt uns nicht,
denn sie hat Ihn nicht erkannt.
Geliebte,
wir sind jetzt Kinder Gottes,
und es ist noch nicht erschienen,
was wir sein werden.
Wir wissen aber,
daß, wenn Er erscheinen wird,
wir Ihm gleich sein werden,
denn wir werden Ihn sehen wie Er ist.
Und jeder, der diese Hoffnung auf Ihn setzt,
heiligt sich,
gleichwie jener auch heilig ist.
Jeder, der die Sünde tut,
übertritt auch Gottes Gesetz,
und die Sünde ist die Übertretung des Gesetzes.
Und ihr wißt,
daß Jesus dazu erschienen ist,
um die Sünde zu beseitigen.
Und Sünde ist nicht in Ihm.
Jeder, der in Ihm bleibt,
der sündigt nicht.
Jeder, der sündigt,
hat Ihn nicht gesehen,
noch hat er Ihn erkannt.
(
Übersetzung Kurt Marti)

Liebe Mitmenschen,
Lebendige und Sterbliche,
Schwestern und Brüder mit Christus,

sollten Ihnen mit Verlesen des Predigttextes so Gedanken gekommen sein: wie: schon wieder das Geschwätz von der Liebe, die unverbindlich zwischen Nettigkeit und Erotik hin- und herschillert? Oder schon wieder die moralinsauren Vorschriften, um keine Sünde an sich heran zu lassen, so möchte ich von vornherein klarstellen. In diesem Text geht es um weit mehr, wenn nicht sogar um alles, denn Liebe ist Leben und Lieblosigkeit ist Tod.

Johannes kennt keine Nachsicht, er schafft gerade Klarheit, wo unser Liebes-Blabla bloß Nebel erzeugt. Ohne Liebe gibt es keine Zukunft für unsere Welt.
Versuchen wir eine schrittweise Annäherung an den Text:
Da geht es um uns als die Kinder Gottes.
Es ist die Rede von "Hoffnung" und "sich heiligen".
Und gleich sechsmal fällt im zweiten Teil der Begriff Sünde.
Johannes, dem Briefschreiber, geht es um die Liebe, und die ist mit Gott identisch. Demnach ist Gott Opposition, ist Gegenkraft gegen alles, was dem Leben im Wege steht.
„Seht, welch große Liebe uns der Vater erwiesen hat.“ – In dieser Aufforderung schwingt Verwunderung, Staunen, Freude mit. Wir sollen die Augen aufmachen, hinschauen und das meint, von uns selbst einmal abzusehen.
Wir sind jetzt Kinder, also Töchter und Söhne Gottes. Gott ernennt uns zu seinen Kindern, weil er uns liebt (!), mit uns zusammen sein, mit uns teilen will. Das Kind in der Krippe lehrt uns: Du darfst Kind sein – wie ein kleines Kind werden, brauchst nichts zu haben, nichts beweisen, nichts leisten, du musst einfach da sein. Du brauchst nur aus dem Vertrauen zu leben, dass alles gut wird, was auch immer geschieht.
Unsere Hoffnung und Zuversicht ist in Seiner Liebe begründet. Seht die Liebe!
Liebe will teilen, sucht Nähe und Gemeinschaft. Liebe will sich in die Lage anderer hineinfühlen und hineinversetzen. Liebe ist nach dem Verfasser des Briefes das EINE Gesetz, das Gott selber ist. Liebe ist Phantasie für das Leben. Gott ist Liebe. Gott ist die Liebe und die Liebe ist sein Gesetz!
„Jeder“, so heißt es im Text, „der Sünde tut, übertritt das Gesetz.“ Also die Einzahl ist hier gewählt. Es wird kein Sündenkatalog aufgelistet, sondern es geht um eine gewisse Form der Grundsünde und das ist die Übertretung des Einen Gesetzes der Liebe, das sich nach Jesus auch zusammenfasse ließe in den Worten: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« bis hin zum Gebot: »Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen!« (Matthäus 5,44)
Sünde ist also Lieblosigkeit, ist jedes Denken, jedes Handeln, das gegen die Liebe verstößt.
Wir hören diese Worte und feiern die Geburt Jesu, feiern, dass Gott Mensch geworden ist, dass Gott sich uns in dem Menschen Jesus zu erkennen gibt. Gott ist uns Menschen ganz nahe gekommen. Gott wurde Mensch, weil wir seine Hilfe brauchen und er uns Wege zu einem sinnstiftenden Leben immer wieder in Erinnerung rufen möchte: Es geht um das alte Thema der Liebe, der Liebe, die - so sagt der Briefeschreiber - das einzige Gesetz ist, nach dem wir weiterleben können.

Weihnachten verweist uns auf die Krippe. Darum heißt das erste Wort des Predigttextes „Seht!“ Die Augen öffnen, auf die Krippe schauen heißt, dass ich von mir absehe, mich selber nicht so wichtig nehme und ins Zentrum all meines Denkens und meiner Aktivitäten stelle. Wir müssen nicht alles allein regeln. Wir dürfen wieder Kinder werden. Gott hat uns zu seinen Kindern gemacht, er hat uns angenommen, hat uns, die wir nicht immer liebevoll mit anderen umgehen und durchaus nicht immer liebenswert sind, in sein Herz geschlossen. Dadurch, dass er den ersten Schritt auf uns zu gemacht hat, dass er Mensch geworden und uns damit so nahe gekommen ist, wie es nur möglich ist, hat Er ein Zeichen seiner Liebe zu uns gesetzt.

„Wir sind Kinder Gottes“. Aber, so sagt der Predigttext, „die Welt erkennt uns nicht.“ Die Veränderung ist keine äußerliche. Sie kann sich nur in einer Verhaltensänderung zeigen.

Gott wird Mensch, damit wir Gottes Töchter und Söhne werden. Diese Botschaft hat damals die Welt verändert, hat sie revolutioniert, hat sie auf den Kopf gestellt. Sie konnte die Welt verändern, indem sie die Menschen verändert hat.

EG 28 – Also hat die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab

»Sünde«: ein eher abstrakter Begriff der theologischen Sprache! Paulus verwendet ihn in seinen gedankenschweren Briefen. Und hier also auch Johannes. Nun hat die Entwicklung des christlichen Denkens und Redens während vieler Jahrhunderte gezeigt, dass ein Allgemeinbegriff wie eben derjenige der »Sünde« ein Einwickelpapier ist, in das man zu verschiedenen Zeiten verschiedene Dinge eingepackt hat. Deshalb ist »Sünde« zu einem der mißbrauchtesten Wörter geworden, so sehr, daß ich es nur sehr vorsichtig verwende.

Das Wort »Sünde«, weil es so allgemein, so wenig konkret ist, eignet sich leider gut zum Einschüchterungswort, zum Ängstigungswort. Ich werde dennoch, auch wenn das am Thema der Weihnacht vorbei zu gehen scheint, noch ein Wörtchen über die Sünde verlieren müssen.

Ach, wie gerne würden wir doch an Weihnachten, diesen Begriff außen vor lassen. Die Sünde passt nicht zu einem Weihnachtsidyll.

„Und ihr wißt, daß Jesus dazu erschienen ist, um die Sünde zu beseitigen.“ Jesus als Zeichen der Liebe Gottes. Wenn dann Liebe das EINE Gesetz ist, das Gott selber ist, dann müssen wir Sünde definieren als jedes Denken, jedes Handeln, das gegen diese Liebe, die Gott ist, verstößt.

Bei dem Begriff Sünde denken wir meistens zuerst an die Überschreitung bestimmter Moralvorschriften. Vergessen Sie diese! Was nottut: Betrachten Sie Ihr Denken und Tun im Spiegel der Liebe und überlegen Sie, ob etwas lebensdienlich ist oder ob es geeignet ist, Leben zu behindern oder zu zerstören, ob es Menschen verbraucht. Gott will das Leben.

Wenn wir daran glauben, daß Gottes Liebe Menschen verändern kann, dann hat auch bei uns der Weg der Liebe angefangen, dann setzt sich in unserem Leben die Bewegung fort, die damals in Bethlehem anfingt, dann beginnt auch bei uns die Veränderung, dann bleibt die Liebe nicht nur am Weihnachtsfest für uns spürbar, sondern in unserem ganzen Leben.

Wenn wir uns also als Gottes Kinder betrachten, dann muss etwas von der uns geschenkten Liebe ausstrahlen und unser Denken und Tun beeinflussen. Diese Gotteskindschaft ist kein innerseelisches Vergnügen, sondern hat sehr viel mit unserer Wirklichkeit zu tun.

EG 53,1 – Als die Welt verloren, Christus ward geboren

Ich sagte, die Gotteskindschaft ist kein innerseelisches Vergnügen, sondern hat sehr viel mit unserer Wirklichkeit zu tun. So erweist sich die im Predigttext angesprochene Sünde als Verletzung des Lebens, der Liebe und Gottes, als Lebenswidrigkeit, Lieblosigkeit und Gottlosigkeit. Aus der Perspektive von Güte und Barmherzigkeit zeigt sich die Verhältnislosigkeit der Sünde, der Bruch aller Beziehungen, die rücksichtslose Selbstperspektive mit tödlichem Trend. Alles, was lebensdienlich ist, kann keine Sünde sein, aber all das, was Leben zerstört und Menschen verbraucht, kann zu ihr gerechnet werden.

Im Griechischen, der Sprache des Neuen Testaments, heißt sündigen soviel wie "das Ziel verfehlen" - etwa so, wie ein Bogenschütze seinen Pfeil daneben schießt. Dadurch wird die Bedeutung des Wortes Sünde noch schärfer: Sünde bezeichnet verfehltes Leben - ein Leben, das an Gott vorbei gelebt wird.

Werden wir mal ansatzweise konkret. Wie äußert sich Sünde?
Zum Beispiel:

- wenn Ellenbogen statt Argumente eingesetzt werden und jemand notfalls über Leichen geht. Rücksichtslosigkeit ist eine Form der Sünde.

- Wenn ich einem Mitmenschen etwas nicht gönne. Missgunst ist eine Form der Sünde.

- Wenn Menschen seelisch erkalten und unempfänglich werden für Signale jeglicher Art. Gleichgültigkeit ist eine Form der Sünde.

- Wenn Menschen hassen oder neiden. Hass und Neid sind Formen der Sünde.

- Wenn bestimmte Berufssparten sich wie Halbgötter aufführen, denen nichts und niemand etwas anhaben kann. Arroganz ist eine Form der Sünde.

- Wenn unverfrorene Politiker sich selbstgefällig, selbstgerecht und selbstzufrieden ihre Gesetze nach ihrem Gutdünken basteln. Amtsanmaßung ist eine Form der Sünde.

- Wenn Menschen ihre dumpfen Vorurteile, ihre Ahnungslosigkeit und ihr Nichtwissenwollen pflegen. Ignoranz ist eine Form der Sünde.

- Wenn Menschen vor den Fernsehern oder in Theatervorstellungen ungeduldig auf den Skandal warten, um dann, wenn er da ist, laut und erregt und amüsiert zu rufen: „Skandal“. Voyeurismus ist eine Form der Sünde. - Nicht zu vergessen, wenn ein vor sich hinsterbender Papst vermarktet, die Worte lügender Präsidenten unkommentiert wie bare Münze gesendet werden.

- Wenn größenwahnsinnige Männer Unternehmen in den Bankrott führen und dabei Millionen-Abfindungen zugeschoben bekommen und gleichzeitig Anerkennungsprämien kassieren, weil sie zuvor dem Verkauf desselben Unternehmens zugestimmt haben. Dreistigkeit und Anstandslosigkeit, Hemmunglosigkeit und fehlender Selbstzweifel sind Formen der Sünde.

- Wenn sich Staatssekretäre, Minister und Abgeordnete kaufen lassen. Korruption ist eine Form der Sünde.

- Achtung Satire: Wenn Namensrechte veräußert werden und wir in Zukunft den Begriff Weihnachten nur noch in Verbindung mit dem Namen einer berühmten Fast-Food-Kette oder Versicherung nennen dürften, das klingt dann wie folgt: „Liebe Gemeinde, wir haben uns hier in der Kirche versammelt und feiern die Mac-Do-Weihnacht oder die Allianz-Weihnacht. Frohe oder gesegnete Migros-Weihnacht!“

Die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche ist eine Form der Sünde. Übrigens heißt die deutsche Hauptstadt dann vermutlich bald Sony-City, bitte So nie! - Berlin!

EG 57, 1+5 – Uns wird erzählt von Jesus Christ

Nun werden Sie vielleicht sagen, das betrifft uns alles nicht. Das ist nur etwas für die oberen Zehntausend. Das hat mit unserem täglichen Leben wenig zu tun, dafür können wir nichts und daran können wir auch nichts ändern. Das bliebe zwar zu diskutieren, aber wir können das Thema auch einmal anders angehen.

Denken wir in meditativer Form konkreter über uns selber nach!

Setzen Sie sich bequem hin, atmen Sie tief durch und beziehen Sie einmal jeden Satz auf sich selbst:

(Klangschale bereithalten)

Über jeden einzelnen Satz haben Sie die Möglichkeit solange nach zu denken, bis der Ton der angeschlagenen Klangschale nicht mehr zu hören ist:

Nicht, daß ich Kritik an anderen Menschen übe, ist Sünde, sondern wenn ich es vorschnell oder lieblos tue, wenn ich andere herabsetze oder verletze.

Nicht, daß Neid, Schadenfreude oder Zorn in mir hochkommen, ist Sünde, sondern wenn ich mich diesen Gefühlen nicht widersetze, wenn ich sie nicht zu überwinden versuche, wenn ich mich in meinem Handeln davon leiten lasse.

Nicht, daß ich über andere rede, ist Sünde, sondern wenn ich gedankenlos oder gehässig Schlechtes von anderen erzähle und so ihrem Ruf schade.

Nicht, daß ich in manchen Situationen schweige, ist Sünde, sondern wenn ich dort schweige, wo andere erniedrigt, verleumdet oder Opfer von Lügen werden.

Nicht, daß ich in Konflikte und Auseinandersetzungen gerate, ist Sünde, sondern wenn ich ständig Streit vom Zaun breche, wenn ich nicht auf andere höre und nicht auf sie eingehe, wenn ich unversöhnlich bin.

Nicht, daß mir das Beten nicht immer gelingt, ist Sünde, sondern wenn ich es gar nicht mehr versuche, wenn mir für Gebet und Gottesdienst die Zeit zu schade ist.

Nicht, daß ich gut verdienen will, ist Sünde, sondern wenn ich es auf Kosten anderer tue, wenn andere dabei zu Schaden kommen, wenn ich zu unehrlichen Mitteln greife.

Nicht, daß ich in Wohlstand lebe, ist Sünde, sondern wenn er zu meinem Ein und Alles wird, wenn ich nicht mehr teilen kann, wenn ich kein Herz mehr habe für andere.

Nicht, daß ich auf meinen Rechten bestehe, ist Sünde, sondern wenn ich dabei die Rechte anderer mißachte, wenn ich rücksichtslos und hartherzig bin.

Nicht, daß ich die schönen Dinge des Lebens genieße, ist Sünde, sondern wenn ich unersättlich, unmäßig und undankbar bin.

Nicht, daß ich sexuelle Wünsche und Regungen verspüre, ist Sünde, sondern wenn ich mich von meinen Trieben beherrschen lasse, wenn ich andere Menschen als Objekt meiner Begierde mißbrauche.

Nicht, daß mir Menschen unsympathisch sind, ist Sünde, sondern wenn ich deswegen ungerecht über sie urteile, wenn ich sie diskriminiere oder verachte.

Nicht, daß mich manchmal Glaubenszweifel überkommen, ist Sünde, sondern wenn ich mich nicht ernsthaft über den Glauben informiere, wenn mir Gott gleichgültig ist.

Nicht, daß ich mich darum bemühe, meine Zukunft zu sichern, ist Sünde, sondern wenn ich ohne Gott auszukommen meine, wenn ich nicht mehr glaube, daß mein Leben in der Hand Gottes liegt.

(aus: Besinnung zu Umkehr und Buße am 3. Adventssonntag 2002 in St. Andreas, Düsseldorf-ltstadt)

Wir feiern Weihnachten. Wir freuen uns über die Geburt Jesu. Gott wird Mensch. Gott kommt als Kind. Er kommt nicht als Kaiser. An ihm können wir lernen, zu uns selbst zu kommen, Mensch zu werden durch den Glauben. Das kleine Kind macht den Großen etwas vor.

Mach’s wie Gott - werde Mensch
glaube mir es lohnt sich.
In aller Weltenfurcht halte die Hoffnung durch,
halte die Hoffnung durch...

Johannes, der Briefschreiber hat Jesus vor Augen. Der hat gezeigt, wie ein Leben, wie auch ein Sterben aussieht, das die Liebe verwirklicht. In ihm ist das Wort der Liebe Mensch geworden und hat sich in gelebte Praxis verwandelt.

Angelus Silesius hat im „Cherubinischen Wandersmann“ als Mystiker den Weihnachtsgedanken am Genialsten zur Sprache gebracht: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir: du bleibst doch ewiglich verloren.“ AMEN.

Der Friede Gottes
der alles,
was wir zur Sache des Friedens zu denken wagen,
übersteigt,
halte unseren Verstand wach,
unsere Hoffnung groß,
und mache unsere Liebe stark. AMEN

Evangelisch-Lutherische Kirche in Genf
Pfarrer Ekkehard Lagoda
20, rue Verdaine
CH 1204 Genève
Tel 022 310 41 87
Fax 022 310 41 51
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