Göttinger Predigten im Internet
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3. Sonntag im Advent, 11. Dezember 2005
Liedpredigt über das Lied „Mit Ernst, o Menschenkinder“ (EG 10),
verfasst von Wolfgang Vögele
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


EG 10 : Mit Ernst, o Menschenkinder

Str.1 Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt, bald wird das Heil der Sünder, der wunderstarke Held, den Gott aus Gnad allein der Welt zum Licht und Leben versprochen hat zu geben, bei allen kehren ein.

Str.2 Bereitet doch fein tüchtig den Weg dem großen Gast; macht seine Steige richtig, laßt alles, was er haßt; macht alle Bahnen recht, die Tal laßt sein erhöhet, macht niedrig, was hoch stehet, was krumm ist, gleich und schlicht.

Str.3 Ein Herz, das Demut liebet, bei Gott am höchsten steht; ein Herz, das Hochmut übet, mit Angst zugrunde geht; ein Herz, das richtig ist und folget Gottes Leiten, das kann sich recht bestreiten, zu dem kommt Jesus Christ.

Str.4 Ach mache du mich Armen zu dieser heilgen Zeit aus Güte und Erbarmen, Herr Jesu, selbst bereit. Zeuch in mein Herz hinein vom Stall und von der Krippen, so werden Herz und Lippen dir allzeit dankbar sein.

I. Über den wunderstarken Helden

Einen „wunderstarken Helden“ nennt das Adventslied „Mit Ernst o Menschenkinder“ das Kind in der Krippe. Advent bedeutet Warten, Geduld, Demut, Stille, Konzentration. Alles ist auf das Kind in der Krippe ausgerichtet, den Erlöser und Heiland Gottes. Die Suche der Menschen nach Gott wird in eine neue Richtung gelenkt.

Gott kommt in einem Kind zur Welt. Er zeigt sich nicht als Über- und Supermacht, nicht als bärtiger Vater auf dem Thron im Himmel. Gott wird zum Kind. Gott ist ein Kind. Ein schutzloses Kind, das in seinem Bettchen liegt, zieht zunächst einmal Aufmerksamkeit auf sich.

Das kleine Kind braucht Hilfe. Von Gott würden wir erwarten, daß er uns hilft.
Das kleine Kind braucht Schutz. Von Gott würden wir erwarten, daß er uns schützt.
Das kleine Kind braucht Zuwendung. Von Gott würden wir erwarten, daß er sich aufmerksam uns zuwendet.
Das Kind dreht unsere Gotteserfahrung um 180 Grad.

Deswegen nennt das Adventslied das Kind in der Krippe einen „wunderstarken Helden“. In diesem Kind in der Krippe verwandelt sich unser Gottesbild: Gott wird menschlich, anschaulich, gnädig, klein. Wir sehen plötzlich den Allmächtigen in einem anderen Licht, im Adventslicht. Das ist kein Gott mehr, der einfach die Projektion unserer Wünschen, Interessen und Phantasien wäre. Sondern der Gott Israels zeigt sich als ein Gott, der als Mensch unter Menschen geht, als ein „wunderstarker Held“, der vom Kind in der Krippe zum Rabbi, zum Wundertäter, zum Arzt und Menschenhelfer heranwächst. Ein Gott, der menschlich Menschen begleitet.

Man kann dieses Wunder, daß Gott Mensch wird, in Gedanken nachvollziehen. Jeder kann einsehen, daß sich das eigene Gottesbild ändert, wenn ich Gott nicht als Übermacht, sondern als Menschen, als kleines Kind in der Krippe sehe. Genauso kann und werde ich das glauben und diesem Gott, der Mensch geworden ist, vertrauen.

Aber neben dem Glauben und dem Erkennen muß noch ein Drittes hinzukommen: das Feiern, das Beten, das Danken, das Erinnern. Und am schönsten kann das eine Gemeinde durch Singen zum Ausdruck bringen. Die Adventslieder erinnern an den Gott, der Mensch geworden ist. Adventslieder feiern Gottes Gnade und Gottes Zuwendung zu den Menschen in allen Monaten des Jahres. Besonders aber im Dezember.

II. Über Adventslieder

Wir haben Freunde, die haben eine zehnjährige Tochter, ein aufgewecktes, fröhliches Mädchen mit langen braunen Haaren. Singen und Musizieren liebt sie über alles. Wenn sie gut gelaunt ist, und das ist oft der Fall, dann klimpert sie ihre Lieblingslieder gerne auf dem Klavier. Wenn es um ihre Lieblingslieder geht, dann kennt sie keine Rücksichten, weder der Jahreszeit noch der Lautstärke. Dann schafft sie es am heißesten Sommertag, im Zweifingersuchsystem auf dem Klavier „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ zu spielen. Aus dem verdunkelten Wohnzimmer hören unsere Freunde dann plötzlich „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, während die übrige Familie sich auf der Terrasse unter dem Sonnenschirm drängt, um in der brütenden Sommerhitze und Sonnenglut den wenigen verbliebenen Schatten zu suchen. Advent bei brütender Hitze? Weihnachten zu jeder Jahreszeit?

Adventslieder verbinden sich in unserer Vorstellung mit eisigem Winter, klirrender Kälte und, wenn es im Dezember kalt genug ist, mit sanft auf den Straßen ruhendem Pulverschnee. Und vor dem geistigen Auge sehen wir flockiges Schneegestöber, brennende Kerzen in kaum erleuchteten engen Räumen, mit spiegelnden Glaskugeln geschmückte Tannenbäume, der Duft von Plätzchen und Holzspielzeug, von Bienenwachskerzen und Bratäpfeln auf den Weihnachtsmärkten, selbstverständlich würziger Glühwein, frisch gebackener Lebkuchen und Lametta. Das riecht und schmeckt schon eher nach Advent. Und die Adventslieder, wenn sie der Posaunenchor spielt oder ein Kinderchor singt, geben dazu den richtigen Klang. Klänge und Gerüche stimmen auf die Weihnachtszeit ein.

Die Tochter unserer Freunde aber kennt da gar nichts. Ob Sommer, Hitze, Sonne, sie spielt ihre Lieblingslieder, wann sie will. Am fehlenden Dezember stört sie sich überhaupt nicht, unbefangen, wie sie ist. Draußen von der Terrasse ruft es ins verdunkelte Wohnzimmer hinein: Hör doch auf damit! Laß das doch jetzt! Weißt du denn nicht, dass das ein Adventslied ist? Aber sie antwortet nicht. Sie ignoriert die mahnenden Worte und konzentriert sich darauf, mit ihren beiden Klavierspielfingern immer die richtigen Melodietöne zu treffen. Daß sie ihre Eltern damit ein klein wenig provoziert, macht für sie das Klavierspiel nur noch schöner. Ihre Lieblingslieder sind ihre Lieblingslieder, dafür braucht sie weder Kalender noch Wetterbericht. Da soll ihr niemand mit den Jahreszeiten kommen.

Lieder wie 'Mit Ernst, o Menschenkinder' erinnern an Advent und Weihnachten. Melodien verbinden sich mit Jahreszeiten, mit Gottesdiensten und Weihnachtsmärkten, mit Plätzchen und Kerzen. Melodien rufen Erinnerungen wach, sie erinnern an frühere Weihnachten und frühere Adventszeiten. Als Kinder hörten wir die Lieder noch anders; sie waren etwas Neues, die Melodien waren noch nicht so vertraut.

Melodien von Adventsliedern rufen in vielen Menschen Erinnerungen an die eigene Kindheit wach. Nicht nur die Melodien sind wichtig, auch die Worte, die Liedverse. Choräle sind musikalisch verdichteter und gereimter Glaube. An die Stelle der Denkschrift und der steilen theologischen Thesen tritt die poetische Theologie des Erlösers in der Krippe, das geglaubte Gedicht vom Advent. Der Glaube, der sich im wörtlichen Sinne reimt und im wirklichen Sinne zusammenreimt, den behalte ich in Gewißheit und Vertrauen leichter in Erinnerung, ganz gleich in welcher Jahreszeit.

III. Über den Ernst

„Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt ...“ Ursprünglich war die Adventszeit neben der Passionszeit eine zweite Zeit der Buße. In der heutigen Zeit hat sie diese Bedeutung fast ganz verloren. Es macht keinen Sinn, darüber zu klagen. Jeder hat sich daran gewöhnt, die Adventszeit als Einkaufszeit zu nutzen und die meisten denken darüber schon gar nicht mehr nach. Ich will das nicht beklagen. Und wenigstens schalten immer mehr Kaufleute und Stadtverwaltungen die Weihnachtsbeleuchtung auf den Straßen erst nach dem Ewigkeitssonntag an: Advent ist im Dezember!

Aber ich will einen Moment über die Frage nachdenken: Was bewog die Menschen in der Vergangenheit dazu, den Adventsmonat Dezember nicht mit Einkaufen, sondern mit Fasten, Andacht und Vorbereitungen auf Weihnachten zu verbringen? Die glaubenden Menschen bewegte eine schlichte Frage: Was haben wir getan, daß Jesus kommen mußte, um uns zu erlösen? Was haben wir getan, daß wir einen Heiland brauchen?

Das war eine ernste und ernst gemeinte Frage. Das Kind der Maria kann nicht ohne Grund in die Krippe gekommen sein. Im Winter, wenn es kalt wurde und draußen nicht mehr so viel tun war, war mehr Zeit zum Nachdenken. Die Menschen kamen über ihr eigenes Leben ins Nachdenken und Grübeln. Sie stellten es ernsthaft in Frage und damit auf den Prüfstand.

„Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt...“ Das Lied ruft uns heraus aus der Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit und stellt uns hinein in eine Spannung; es weckt in uns besondere Aufmerksamkeit. Diese richtet sich auf die Vorbereitung.

Wollten die Menschen der Bibel ihre Gleichgültigkeit überwinden und ihre Aufmerksamkeit für Gott neu wecken, dann zogen sie sich in die Wüste zurück. In der Wüste war Israel unterwegs, als es von Ägypten loszog. In die Wüste, in die Einöde ging auch Jesus von Nazareth zum Beten und Meditieren, als er sich über seinen Weg zu Gott klar werden wollte. In der Wüste lebte Johannes der Täufer, der Mahner und Prophet.

Die Wüste ist ein Ort besonderer Gottes- und Selbsterfahrung. Hier ist der Mensch auf sich selbst gestellt. Die Wüste bedeutet Einsamkeit. Niemand und nichts lenken ihn ab, hier ist er still und aufmerksam. In der Wüste kann er nachdenken.

Aufmerksamkeit. Stille. Konzentration. Hier kann der Mensch meditieren über sich, sein Leben, seine Fehler und Vorzüge. In der Wüste hat ein Mensch keine Möglichkeit mehr, sich über sich selbst zu täuschen - so wie in der Stadt, wo ihn so viel ablenkt und einlullt, wo er erschlagen wird von der Menge des Glitzers und des Scheins und vom Lärm.

"Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt..." Das Lied ruft uns heute aus der Ablenkung und Gleichgültigkeit in den Ernst; das Lied führt uns aus dem Lärm und dem Getöse in die Ruhe, in die Stille und in das Nachdenken, es leitet uns aus der Hektik und Nervosität des Weihnachtsrummels in die Stille; es ist ein Ruf heraus dem Gerede und dem Geschwätz hinein ins Gebet; es ist ein Ruf heraus aus dem Lärm der Stadt hinein in die Stille der Wüste. Mit einfachen Worten geleitet es uns aus der Gleichgültigkeit in eine Haltung der Aufmerksamkeit. Der Ernst und die Aufmerksamkeit machen das Warten aus. Advent heißt Warten. Warten auf die Ankunft des Kindes, des Jesus von Nazareth.

"Mit Ernst, oder Menschenkinder, das Herz in euch bestellt."

IV. Über Demut und Hochmut

Advent ist die Zeit der Erwartung und des Wartens. Die Christen warten auf die Geburt des Kindes in der Krippe. Dieses Kind, von allen erwartet und von Gott gesandt, wird die Welt verändern. Gott wird in diesem Kind die Welt verändern. Die Zeit des Wartens verändert die Menschen. Wer wartet, ist aufmerksam. Wer aufmerksam geworden ist, hat seine eigene Tätigkeit aufgegeben und hat sich aus der Gleichgültigkeit herausgewunden.

Wer aufmerksam geworden ist, erkennt: Ich kann mich nicht selbst erschaffen, ich kann nicht aus eigener Kraft erreichen, was ich will.

In der aufmerksamen Stille erfahren Menschen: Ich kann selbst nichts tun, damit das geschieht, was ich erwarte. Und ich muß nichts selbst tun, damit geschieht, was ich erwarte.

Ich muß nicht aktiv werden.
Ich muß nicht handeln.
Ich muß nicht an meiner eigenen Erfolgsleiter bauen.
Ich kann einfach nur aufmerksam warten.

Wer alles selbst erreichen will, den nennt das Adventslied hochmütig. Wir sind nicht die Konstrukteure und Erbauer, die Hauptpersonen unseres eigenen Lebens. Vieles, was geschieht, geschieht ohne unser Zutun. Das einzusehen, dazu gehören Geduld, Erinnerung und vor allem Lebenserfahrung. Dazu gehört die Aufmerksamkeit dafür, daß wir nicht die Architekten des eigenen Lebens sind, sondern Beschenkte, Gesegnete. Das Adventslied nennt eine solche Haltung Demut. In der dritten Strophe heißt es darum: „ Ein Herz, das Demut liebet, bei Gott am höchsten steht; ein Herz, das Hochmut übet, mit Angst zugrunde geht; (...).“

Viele Menschen gebrauchen das Wort Demut nicht mehr; sie verbinden damit Duckmäusertum und Unaufrichtigkeit. Aber das ist nicht richtig. Der aufrichtigen Demut liegen Einsicht, Lebenserfahrung und Glauben zugrunde.

Die Demut sagt: Ich vertraue darauf, daß Gott für mich gnädig handelt. Ich muß nicht alles selbst zustande bringen. Ich kann es geschehen lassen, daß Gott für mich handelt. Ich kann auf Gott vertrauen, der mein Leben in seinen Händen hält.

Im kleinen Krippenkind finde ich Gott.
Ich finde ihn dort, wo ich ihn nie erwartet hätte.

Amen.

Nachbemerkung

Liedpredigten ergeben gute Gelegenheiten zur guten Zusammenarbeit zwischen Pfarrern, Kantoren und Organisten. Man könnte die Teile der Predigt jeweils durch Meditationen, Improvisationen oder kurze Orgel-Intermezzi untergliedern. An verschiedenen Stellen könnte der Organist die Klangfarben in die Predigt hineinspielen, z.B. die Melodie des geklimperten Weihnachtsliedes und damit die Erzählung laut- und klangmalend illustrieren. Ein Chor könnte die einzelnen Strophen des Adventsliedes zwischen den Teilen der Predigt vierstimmig singen. Der musikalischen und der homiletischen Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Dr. Wolfgang Vögele
Goldaper Str.29
12249 Berlin
wolfgang.voegele@aktivanet.de

 


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