Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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1. Sonntag im Advent, 27. November 2005
Predigt über Offenbarung 5, 1-5, verfasst von Rüdiger Lux
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Universitätsgottesdienst in St. Nikolai, Leipzig

Die Predigt wird unterbrochen und abgeschlossen von dem Lied EG 16, Die Nacht ist vorgedrungen.

Liebe Gemeinde,

in der Nacht kommen die Bilder. Bilder, die sich nicht abschalten lassen. Bilder, gegen die man sich nicht wehren kann. Bilder, die uns im unruhigen Schlaf überfallen, die uns die Augen öffnen. Um uns das Dunkel, und doch sind wir hellwach. Bilder der Angst und Bilder der Hoffnung. Bilder der Schuld und Bilder des Glücks.

In der Nacht kommen die Bilder. Aus Weltbruchstücken formen sich bizarre Gebilde. Da finden wie auf einem surrealistischen Gemälde Dinge zueinander, die bei Lichte besehen nicht zusammengehören. Ein Thron, ein Buch mit sieben Siegeln, ein Lamm. Ereignisse und Zeiten fließen ineinander wie die berühmten zerfließenden Uhren auf den Gemälden Salvador Dalis. Das Weinen und die Tränen der Verfolgten, der siegreiche Löwe aus Juda, die Wurzel Davids.

In der Nacht kommen die Bilder, da öffnen sich Welten, die wir noch nie betreten haben, Himmel, Erde und Unterwelt. Wir fahren durch Räume und Zeiten, für die sich in keinem Reisebüro der Welt ein Bahn- oder ein Flugticket buchen lässt.

Bilder der Nacht. Was wird aus ihnen, wenn der Morgen graut? Waschen wir sie uns mit dem Schlaf aus den Augen? Legen wir sie ab wie ein altes, unbrauchbares Kleid, ungeeignet für den Tag, der seine eigenen Sorgen hat? Oder nehmen wir sie mit hinein in eine neue Woche, ein neues Kirchenjahr?

I

Johannes, dem Seher von Patmos, waren sie wichtig, die Bilder, die ihn in Visionen überfielen. Er konnte und wollte sie nicht abschütteln wie lästiges Gepäck. Denn hinter diesen Bildern stand das Weinen, das Leiden, das Blut jüdischer und christlicher Märtyrer aus den Tagen des Kaisers Domitian.

Wie seine Vorgänger ließ er sich als Dominus et Deus verehren. Domitian, der Herr und Gott! Der Kaiserkult florierte. Noch heute lässt sich Domitians Selbstdarstellung auf einem Obelisken in der Piazza Navona in Rom besehen. Da wird er gepriesen als »vollkommener Gott«, als »Erbe des Vaters der Götter«, der »das Land füllt mit seiner Nahrung«. Er ließ sich Tempel errichten mit Kolossalstatuen von seiner Person. Dominus et Deus, Herr und Gott, das göttliche Kind auf dem Schoße Jupiters, den er zu seinem Vater erklärte.

Wer wagte es, diesem Anspruch entgegen zu treten? Wer beugte da nicht das Haupt und die Knie vor der unerbittlichen Macht dieses »Gottes«? Wer warf sich nicht vor ihm zur Erde? Domitian, der Tyrann, das Tier aus dem Abgrund, das Johannes, der Seher, schaute. Der totalitäre römische Staat, der alles niederwalzt, was sich ihm in den Weg stellt. Wer widersteht?

Es gab solche, die sich verweigerten. Juden und Christen, die das alte Wort vom Sinai im Herzen trugen: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland aus dem Sklavenhaus geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Weil sie dem Sklavenbefreier vom Sinai allemal mehr gehorchten als dem Sklavenhalter Domitian, deswegen schickte dieser Hunderte und Tausende von ihnen in die Arenen und ließ sie vor dem johlenden, gaffenden, brüllenden Mob von wilden Tieren zerreißen.

Das war die Nacht der christlichen Gemeinden in Kleinasien, an die Johannes seine Sendschreiben schrieb. Verschlüsselte Botschaften, verschickt von einem auf die Insel Patmos verbannten Profeten. Untergrundliteratur in einer den Uneingeweihten schwer verständlichen Symbolsprache. Literatur in der Sprache der Nacht, aus der die Bilder kamen, die sich nicht aus den Augen waschen und auch nicht einfach abschütteln ließen. Bilder vom zynischen Anspruch auf die totale Macht, die Macht, die man sich nicht mehr nehmen lassen wollte. Bilder vom Tier aus dem Abgrund und von denen, die sich ihm widersetzten; eingepfercht in den Dunkelzellen der Jahrhunderte, hingemordet in den Gefängnissen und Lagern der Diktatoren. Die Fleischerhaken in der Hinrichtungsstätte Plötzensee, an denen die Männer vom 20. Juli starben. Der Galgen in Flossenbürg, an dem vor 60 Jahren Dietrich Bonhoeffer sein Ende fand. Die Zelle des Untersuchungsgefängnisses der Staatssicherheit in Gera, in der 1981 der 24-jährige Matthias Domaschk starb. Das Tier aus dem Abgrund hat viele Opfer gefordert. Gott, wozu diese Geschichte und diese Geschichten? Wie lange müssen wir noch warten? Wann kommst du zum großen Weltgericht? Mit Johannes, dem Seher von Patmos rufen wir zu dir: »Amen, ja, komm Herr Jesus!« Die Nacht ist vorgedrungen.

EG 16,1

II

In der Nacht kommen die Bilder. In der Nacht kommen die Fragen. »Wer ist es wert, zu öffnen das Buch und seine Siegel zu lösen?« Das Buch mit den sieben Siegeln! Was steht darin geschrieben? Birgt es das Geheimnis der Geschichte? Birgt es das Geheimnis der unendlich vielen Opfergeschichten, die dein Geheimnis bleiben, Gott? Warum muss sich dein Reich so mühsam durch die Reiche dieser Welt hindurcharbeiten? Warum steigt das große Tier immer von Neuem aus dem Abgrund herauf? Wozu all das Blut und all die Tränen? Wer bricht die Siegel des Buches? Wer tut uns sein Geheimnis kund? Wer steht verzeichnet in diesem Buch? Die Opfer, die Täter? Die, die uns bekannt sind? Und die, von denen nur Du etwas weißt? Die Opfer, deren Tränen keiner sah, die Täter, deren Schuld bis zum heutigen Tage ungesühnt geblieben ist?

Und steht da auch mein Name verzeichnet, in diesem Buch der Geschichte, Gott? Ja steht da meine Geschichte geschrieben, von der ich noch gar nichts weiß? Die Geschichte, die erst noch auf mich zukommt, die noch verborgen ist im Dunkel der Nacht, im Dunkel der Zeit? Wer ist es wert, die Siegel des Buches zu brechen? Wer weiß um das Geheimnis der Geschichte und dieser Geschichten? Was kommt da noch auf mich zu, auf meine Kinder, meine Enkel? Wer kommt da auf uns zu?

Ist es das, was uns an den Bildern der Nacht so verstört, dass wir sie nicht zu lesen verstehen, dass uns das Buch der Weltgeschichte und das Buch unserer Lebensgeschichte ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, stumm und verschlossen?

»Und ich weinte sehr, dass niemand für wert befunden wurde, das Buch zu öffnen und hineinzublicken.« Im Uneinsehbaren, Unlesbaren, Unhörbaren widerfährt dem Seher Johannes eine Stimme: »Weine nicht!« Wenn dich das Tier aus dem Abgrund in die Arena schleift, weine nicht! Wenn dir die Bilder der Opfer vor Augen treten, weine nicht! Wenn dich die Gedanken an die Täter quälen, weine nicht! Wenn die Sorge um deine Kinder auf dir lastet, weine nicht! Manchmal reichen sie aus, diese beiden Worte des Trostes: Weine nicht! Lass die Bilder der Nacht nicht übermächtig werden. Schon graut der Morgen. Schon leuchtet warm die erste Kerze im Advent.

Aus dem Seher Johannes wird ein Seelsorger der Verfolgten. Er bricht die Macht der dunklen Bilder durch ungewöhnliche Gegenbilder. Dem Tier aus dem Abgrund stellt er den siegreichen Löwen von Juda in den Weg. Aus der Wurzel Davids, die die Römer glaubten, mit Stumpf und Stil ausgerottet zu haben, ging ein Reis hervor. Christus, das geschlachtete Lamm, das den Schnitt des Schächters noch am Halse trägt. Er empfängt das Buch des Lebens.

Bilder sind das, die uns fremd sind, Weltbruchstücke, die nicht zueinander passen wollen. Doch vielleicht bedürfen wir der fremden und bizarren Bilder, weil wir uns viel zu fest eingerichtet haben in unseren Sehgewohnheiten. Noch bannen die Bilder des Vergangenen unseren Blick. Noch lassen wir uns imponieren vom großen Tier aus der Tiefe. Noch sitzen die Tyrannen auf ihrem hohen Ross und lassen sich als Dominus et Deus ausrufen, da verstellt ihnen ein anderer den Weg, das Lamm, der Christus: »Er ist sanftmütig und reitet auf einem Esel.« »Der, dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.«

EG 16,2-3

III

In der Nacht kommen die Bilder, auch die Bilder des Advent. Wir warten auf sie wie auf einen neuen Morgen. Bilder, die den Tyrannen den Abschied geben. Haben wir die denn nicht gesehen? Bilder von Menschen, die nur einem trauten, dem sanftmütigen König der Barmherzigkeit? Haben wir die denn nicht gesehen? Bilder vom Ende der Diktatoren, Menschen, die sich zum Gott erhöhten. Haben wir die denn nicht gesehen? Und Bilder vom Gott Israels, der Mensch geworden ist. Haben wir den denn nicht gesehen? Das Kind, geboren in der Nacht von Bethlehem. Das Lamm, das zur Schlachtbank ging, Christus am Kreuz, das offene Grab.

Verstörende Bilder, weil sie sich nicht an die Spielregeln unserer Welt halten. Bilder vom Sieg des Lammes, vom Sieg des Lebens inmitten einer Welt des Todes. Bilder, die uns fremd sind und voller Geheimnisse wie das Buch mit sieben Siegeln. Aber das Lamm hat die Siegel gebrochen. Sieben Siegel, für jeden Tag der kommenden Woche eines. Wir öffnen sie wie die Kinder die Türchen in ihrem Adventskalender. Wir schlagen auf und lesen:

– Das erste Siegel ist das Siegel der Angst. »Christus spricht: In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« (Joh 16,33).
– Das zweite Siegel ist das Siegel der Sorge: Christus spricht: »Sorget nicht, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen« (Mt 6,34).
– Das dritte Siegel ist das Siegel der Gerechtigkeit. Christus spricht: »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen« (Mt 6,33)
– Das vierte Siegel ist das Siegel der Barmherzigkeit. Christus spricht: »Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist« (Lk 6,36).
– Das fünfte Siegel ist das Siegel des Glaubens. Christus spricht: »Dein Glaube hat dir geholfen« (Mt 8,22).
– Das sechste Siegel ist das Siegel der Liebe. Christus spricht: »Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe« (Joh 15,12).
– Das siebte Siegel ist das Siegel der Lebens. Christus spricht: Siehe »ich lebe und ihr sollt auch leben« (Joh 14,19).

Mit Johannes, dem Seher von Patmos rufen wir: »Amen, ja, komm Herr Jesus.« Komm in unsere Nacht.

In der Nacht kommen die Bilder, Bilder vom Buch mit den sieben Siegeln, das ein Buch des Lebens ist.

»Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und –schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.«

Amen

Prof. Dr. Rüdiger Lux
lux@rz.uni-leipzig.de


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