Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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1. Sonntag im Advent, 27. November 2005
Predigt über Offenbarung 5, 1-14, verfasst von Werner Klän
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


A]

Ein neues Jahr beginnt - ein neues Kirchenjahr! Eine neue Zeit beginnt - Advent! Im Vorschein von Weihnachten sind wir gebeten, uns auszurichten, neu ausrichten zu lassen auf Gott.

Doch wohin genau ist uns die Richtung gewiesen? Und wie sollen wir sie entdecken? Wo finden wir eine Anleitung dazu? Woher sollen wir sie erwarten? Und wie sieht der Entwurf für solch ein zielgerichtetes Leben aus? Und - wenn wir über uns selbst und unseren Lebenskreis hinausschauen - wie soll der Gang der neuen Zeit sein? Wie wird das neue Kirchenjahr verlaufen? Was wird damit werden - was wird mit mir sein - was wird mit der Welt? Was ist der Plan?

Der Seher Johannes nimmt solche Fragen auf. Und er nimmt uns hinein in eine Schau, die seine - und unsere Sicht auf lange Fragen verändert. Johannes lässt uns nämlich teilhaben an dem Wechsel der Sichtweise, der ihm selbst zuteil wird. Der Seher erfährt Ermutigung, indem sein Blick auf den gelenkt wird, der die Antwort auf unsere Fragen weiß, entschlüsselt und ist: Jesus Christus. So werden wir an die Hand genommen und Schritt für Schritt aus Unsicherheit und Ratlosigkeit zu Gottvertrauen und Hoffnung angeleitet, indem wir zu dem gebracht werden, der längst schon den Gang der Dinge im Blick hat und in der Hand hält, und uns trostvoll nahe kommt.

B 1]

An die Hand genommen werden wir aus Unsicherheit und Ratlosigkeit:

In unserem Land sind sie weit verbreitet. Kurz nach der Regierungsbildung ist nicht deutlich, wie sich Wirtschaft und Politik entwickeln werden - trotz der breiten Mehrheit der neuen Regierung im Bundestag. Wir wissen nicht, ob es durchgreifend aufwärts gehen wird. Heimliches Bedrohungsempfinden breitet sich aus: angesichts brennender Vorstädte in Frankreich - Befürchtungen, ob das auch bei uns kommen könnte. Als ich im Sommer, nur ein paar Tage nach den terroristischen Bombenanschlägen in London, Metro in Paris fuhr - stieg jedesmal ein unterschwelliges Gefühl von Gefährdung in mir auf, wenn die Ansage kam: "Die Sicherheitskräfte haben das Recht, herrenloses Gepäck sicherzustellen und gegebenenfalls kontrolliert zur Explosion zu bringen." - Angekündigte Massen-Entlassungen durch große Firmen belasten das soziale Klima und zerstören gesellschaftliche Geborgenheit. Wie wird es weiter gehen? Ich will nicht schwarz malen - aber Unsicherheit und Ratlosigkeit haben Anhalt an der Wirklichkeit unserer Welt.

Werden die Schatten der Bedrohung die Oberhand behalten? Täuschen uns die vorweihnachtlichen Lichterketten nicht Helligkeit nur vor? Und was vermag der Schein einzelner Kerzen- und seien es auch kurz vor Heiligabend vier - gegen eine schie überwältigende Dunkelheit um uns und in uns? Unser Leben, sein Verlauf; unser Land, seine Entwicklung; die Welt, ihr Geschick - sie wirken auf uns, wie ein „Buch mit sieben Siegeln“. Wir können es nicht Öffnen, nicht entschlüsseln. Wir erhalten keinen Aufschluss über das, was uns bevorsteht, und bleiben ratlos angesichts unüberschaubarer Entwicklungen und undurchschaubarer Zusammenhänge, die uns beeinflussen und steuern, gegen die wir uns so ohnmächtig vorkommen. „Es ist zum Heulen“ - oft genug!

Dem Seher Johannes geht es so. Im himmlischen Thronsaal sieht er zwar in der Hand Gottes eine Urkunde, beidseitig beschrieben, Papierrollen, versiegelt, so dass man nicht lesen kann, was darauf steht. Die Siegel müssten geöffnet, erbrochen werden, die Blätter entrollt, entfaltet - erst dann wäre die Schrift ganz zu entziffern, der volle Wortlaut zu lesen, der göttliche Plan erkennbar. Doch ist in aller Welt niemand vorhanden - nicht einmal im Himmel -, der das darf, der das kann; niemand, dem es gelingt, die Siegel zu öffnen, die Blätter zu entrollen, den Wortlaut zu deuten. Niemand in aller Welt!

Da weint der Seher sehr, denn ihm wird vor Augen geführt, wie unmöglich es ist, Gottes Plan mit der Welt, Gottes Vorhaben für die Christenheit zu entschlüsseln. Es sind Tränen des Schmerzes und Tränen der Ohnmacht, wohl auch Tränen der Enttäuschung, der Verzweiflung: woher soll Hoffnung kommen im Dunkel der Verfolgung? Wo gibt es Grund zur Zuversicht angesichts von Gewalt und Unterdrückung? Wo leuchtet die Liebe Gottes in der Finsternis der Welt? Es ist zum Heulen!

B2]

"Weine nicht!", sagt da einer zu Johannes, einer, der offenbar mehr Einsicht hat, auch wenn er selbst das Geheimnis des göttlichen Plans nicht enträtseln kann. "Still den Strom deiner Tränen, halt den Tränenfluss auf! Lass dir Trost zusprechen und lass deine Niedergeschlagenheit fahren! Lass deine Augen nicht länger tränenumflort und blind sein. Es ist nicht so hoffnungslos, wie es dir scheint; es ist nicht so aussichtslos, wie es dir vorkommt. Die Rätsel, die dir unlösbar scheinen, werden entschlüsselt; die Ungewissheit, die dir unauflösbar vorkommt, wird klarer Einsicht weichen. Auf die Fragen, die dich umtreiben, gibt es eine Antwort. Auf die Sehnsucht, die dich quält, wartet Erfüllung. Für die Beunruhigung, die dir den Schlaf raubt, gibt es zufrieden stellende Lösungen; Anstelle der Verwirrung, unter der du leidest, findet sich gewiss machende Erklärung. Hör auf zu weinen!

Es ist nur zu verständlich - deine Ungeduld, dein Kummer, deine Sehnsucht, deine Wut. Aber wisch dir die Tränen aus den Augen, mach die Augen auf, und schau: es macht Sinn, Geduld zu haben; es lohnt sich, auszuhalten; es ist verheißungsvoll, zu warten; Gelassenheit zahlt sich aus. Beharrlichkeit wird nicht vergebens sein; Zähigkeit wird sich bestätigt sehen. Denn sieh: Es gibt Aussicht, eine Einsicht in den Gang der Dinge zu gewinnen. Es ist einer da, der die Rätsel entschlüsselt. Es ist jemand vorhanden, der uns deuten wird, was wir erleben und erleiden; der uns einweisen kann in das, was auf uns zukommt.

Hör zu : da ist einer, der uns Aufschluss geben kann über die richtige Sicht, der uns anleitet, den angemessenen Standpunkt zu beziehen. Es ist jemand vorhanden, der uns Anhalt gibt, die Gegenwart zu bestehen und der Zukunft entgegenzugehen. Es ist einer da, aus dessen Sicht sich das Ungereimte reimt, das Unverständliche durchschaubar wird. Es ist einer da, im Blick auf den selbst das Schwere erträglich wird, das Schwierige tragbar und das Belastende auszuhalten ist.

B3]

Und du kennst IHN schon, du weißt, von wem die Rede ist, auch wenn ich IHN nur mit verschlüsselten Namen nenne. ER ist da, den du kennst, der dich kennt - kraftvoll und stark, ein Sieger über alle gott- und menschenfeindlichen Mächte. 'Der Löwe aus Juda', so nennen wir IHN - wir erkennen IHN in dem Sieger von Ostern. ER ist da, den du brauchst und der dir hilft - tief verankert und weit zurück verwurzelt in Gottes heilschaffenden Plan für sein Volk und die Welt. Die 'Wurzel Davids' heißt ER darum auch - wir schauen IHN an als Kind in der Krippe. Heldenhaft einsatzbereit ist ER, um Versöhnung zu schaffen zwischen Gott und uns, opfermütig einzutreten für Gott bei uns und für uns bei Gott - 'Lamm Gottes' wird er deshalb auch genannt.

Im Blick auf IHN und aus seiner Sicht ergeben sich neue Einstellungen zu den Rätseln und Ungereimtheiten dieser Welt und unseres Lebens.

- Aus seiner Sicht: ER ist Gott unter uns, doch bis zum Verwechseln uns ähnlich. ER durchbricht das Gesetz von Gewalt und Gegengewalt, bleibt trotz Ablehnung, Lebensbedrohung und Leiden der Liebe treu. Kraftvoll erträgt, erduldet ER die Macht und Willkür der Großen dieser Welt, die an seiner Wehrlosigkeit zerbricht. Hingebungsvoll nimmt ER auf sich, was IHN gar nicht hätte treffen dürfen; opfermutig lässt ER sich aufbürden, was unsere Last war, und schafft sie aus der Welt. ER ist ganz auf unserer Seite, und doch ganz auf Gottes Seite zugleich. In Gottes Auftrag und nach Gottes Willen setzt ER sich ein bis zum letzten für uns; als unser Gott tritt ER ein für uns unter Hingabe seines Lebens. Aus der Sicht des Himmels, von Gott ausgesehen, und für die Augen des Glaubens ist mit dieser Tatsache eine neue Wirklichkeit gegeben: Denn „es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda“.

Darum werden wir auch getröstet, gestärkt, ermutigt, gerade - im Blick auf IHN. Denn Jesus Christus verkörpert die Weltenwende, die nicht erst bevorsteht, sondern schon bewirkt ist. ER ist der Inbegriff der neuen Zeit, die nicht erst vor uns liegt, sondern schon begonnen hat: Die alten Verhältnisse sind überwunden, die überkommenden Muster an ihr Ende gekommen, die Gesetze der Macht, die Macht der Vergeltung, die Vergeltung des Todes sind außer Kraft im Verhältnis zu Gott.

Und doch wirkt die alte Zeit noch nach, besteht die alte Welt noch fort. Das macht unsere Lage so unübersichtlich, das macht einen Großteil unserer Verwirrung aus. Im Blick auf Jesus Christus bekommen wir aber einen Platz angewiesen- mitten in der Wirrnis der Welt, in den schwierigen Lagen unseres Lebens, in der Undurchschaubarkeit der Zeiten: Es ist der Platz, an dem ER zu uns tritt, uns nahe kommt, sich an unserer Seite einfindet. Da richtet ER uns neu aus, weist uns den Weg durch das Dunkel der Welt, zeigt uns das Ziel im Um- und Zerbruch der Zeiten: Im Blick auf Jesus Christus haben wir den Ort, auf dem wir stehen - Grund unter den Füssen, wo alles wankt -, und die Vorgabe, auf die wir sehen - Klarheit, wo alles so uneindeutig scheint.

C]

Gott zeigt uns nicht die kalte Schulter, Gott lässt uns nicht im Stich. Er verweist uns darauf, dass Jesus Christus eine neue Grundlage geschaffen hat für unser Verhältnis zu Gott - wir sind Gottes geliebte Kinder, obwohl wir sind, wie wir sind. Und ER weist uns hierauf hin, dass Jesus Christus am Ende unserer Wege auf uns wartet, um uns liebevoll in Empfang zu nehmen. Auf IHN richten wir uns aus im Advent, hält ER doch die Zeit und ihren Sinn in seinen Händen. Unter diesem Vorzeichen ist der Adventskranz ein sinnstiftendes Symbol: Am Ende wird es hell und alles klar sein. Denn unser Heiland kommt auf uns zu; wir empfangen eine segensreiche Zukunft in IHM. AMEN

Prof. Dr. Werner Klän
Altkönigstr. 150
61440 Oberursel
werner.klaen@gmx.de


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