Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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1. Sonntag im Advent, 27. November 2005
Predigt über Lukas 4, 16-30, verfasst von Lars Ole Gjesing (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Jede Zeit hat ihre eigene Qualität. Es ist, als wären Vormittage aus einem anderen Stoff gemacht als Nachmittage. Und der Übergang vom einen zum andern geschieht akkurat, wenn wir essen. Es ist nicht einfach nur die Uhrzeit, die den Unterschied zwischen Vormittag und Nachmittag ausmacht – der Unterschied tritt durch das Ritual der Mahlzeit ein.

Auf genau dieselbe Weise sind Ferientage im Sommer für jedes Schulkind von ganz anderer Art, und sie werden auf ganz andere Art und Weise erlebt als alle anderen Tage. Der letzte Schultag macht den Unterschied. – Wenn man erstmal darauf aufmerksam geworden ist, dann zeigt sich, dass es zahllose verschiedene Zeiten gibt, die uns viele ganz verschiedene Stimmungen erleben lassen. Geburtstage sind durchgreifend verschieden von anderen Tagen. Bis vor 20 bis 30 Jahren war der Sonntag völlig verschieden von anderen Tagen: feine Kleidung, Sonntagsessen, geschlossene Geschäfte, Fahne, eine ganz besondere Stimmung.

Ich glaube, diese Unterschiede zwischen den Zeiten sind sehr viel wichtiger für unser Leben, als wir uns unmittelbar klar machen. Die verschiedenen Stimmungen bedeuten Variation in unserem inneren Leben und eben dies, dass wir einen Wechsel merken, verleiht erhöhte Lebenslust und neue Kraft. Am wichtigsten ist vielleicht, dass die verschiedenen Zeiten die Möglichkeit geben, sich auf etwas zu freuen, das anders ist, als das, was wir gerade in Händen halten. – Wenn es keine Unterschiede gäbe, würde sich eine gewaltige Langeweile einstellen, eine Monotonie, die deprimierend wäre. Es ist in der Tat charakteristisch gerade für deprimierte Menschen, dass sie sich auf nichts freuen, bei ihnen ist der Sinn für die Unterschiedlichkeit der Zeiten und für die neue Kraft, die damit verbunden ist, gleichsam erloschen – es gehört zum Wesen der Depression, dass einem genau dieser Sinn fehlt.

Die erste Schöpfungsgeschichte enthält tiefe Einsichten in dieser Hinsicht. Die Schöpfungsgeschichte handelt ja nicht davon, wie die Welt entstanden ist, sondern davon, was im Dasein am wichtigsten und fundamentalsten ist. Am vierten Tag, so wird erzählt, setzt Gott Sonne, Mond und Sterne an den Himmel – nicht um Licht zu machen, denn das wurde ja schon am ersten Tag geschaffen. Nein, Sonne und Mond sollen sich am Himmel bewegen, damit die Menschen ausrechnen können, wann Feiertag ist, d.h. Festtag, und wann nicht; d.h. was da am 4. Tag eingerichtet wird, ist ganz einfach die Verschiedenheit der Zeiten. Ja, schon am ersten Tag beginnt Gott mit dieser schwierigen Arbeit, wenn er den Unterschied von Nacht und Tag festlegt, und er fährt am siebten Tag damit fort, dass er den Ruhetag erfindet.

All dies über den antidepressiven Unterschied zwischen den Zeiten ist selbstverständlich heute zu erwähnen, weil der 1. Sonntag im Advent einer der größten Zeitenwechsel des ganzen Jahres ist. Hier im Hause ist es ein so großer Wechsel, dass wir sagen, ein ganz neues Kirchenjahr nimmt heute seinen Anfang. Man kann es ganz deutlich merken, vor allem wenn man in die Kirche kommt. Die vielen Wochen, die jetzt hinter uns liegen, waren dunkel und grau, die Wolken waren grau und das Laub fiel – für viele Menschen stellt die Zeit von Oktober bis November auch eine gute und zufriedenstellende Arbeitszeit dar, in der man den Blick nicht so sehr vom Alltäglichen zu heben hat, sondern einiges erledigen kann, während draußen Herbst und Dunkelheit sich ausbreiten. Und hier drinnen haben wir seit Pfingsten die Trinitatissonntage in langer Reihe gezählt.

Und heute ist plötzlich eine andere Zeit da. Jetzt ist es richtig, das erste Licht im Adventskranz anzuzünden, jetzt ist es an der Zeit, die prachtvollen und ganz andersartigen Adventslieder zu singen. Der Blick hebt sich von der alltäglichen Arbeit und richtet sich nach vorn; die Freude über eine Festzeit, die sich nähert, beginnt hervorzuwachsen.

Es gibt gute und tiefe Gründe dafür, das der große Wechsel des Kirchenjahres eben jetzt eintritt. Die Adventszeit ist dazu bestimmt, Jesu Ankunft zu feiern und vorzubereiten. Das ist die Bedeutung von Advent. D.h. im Advent feiern wir im Grunde den großen weltgeschichtlichen Wechsel in der Qualität der Zeit, der eintrat, als Jesu Wirken stattfand. Damals, als zum ersten Mal gesagt wurde, dass die Liebe Gottes die Welt trägt und dass es der Sinn des Lebens von Menschen ist, eine passende Antwort auf die Liebe zu geben. Die Zeit danach ist von anderer Art als die Zeit davor, weil Worte wie Barmherzigkeit, Befreiung, Vergebung und Liebe als das Entscheidende eingesetzt sind. – Es sind Worte, wie sie Jesus im Text von heute den Menschen seiner Stadt in der Synagoge von Nazareth verehrt. Dass sie sie mit Nachdruck ablehnen, ändert nichts daran, dass die Worte in die Welt gesetzt wurden.

Dieser Unterschied in der Qualität der Zeit vor und nach Jesus war den Alten von Anfang an klar. Sie verwandten einen ganz bestimmten Ausdruck dafür, nämlich „die Fülle der Zeit“. Paulus ist sein Erfinder. Er stellt sich die Zeit als ein Gefäß vor, in das Wasser läuft bis zu dem entscheidenden Punkt, an dem das Gefäß gefüllt ist. Der Punkt, an dem die Zeit vollgelaufen ist, ist das Signal, dass Gott der Vater seinen Sohn schickt und mit Hilfe seiner Worte die Zeit verändert, indem Glaube, Hoffnung und Liebe hier auf Erden gepflanzt werden. Hierin liegt auch die Erklärung dafür, dass man im dänischen Gesangbuch vergebens nach dem Wort Advent sucht. Alle Adventslieder stehen unter der Überschrift „Fülle der Zeit“.

Es ist also durchaus sinnvoll, ein neues Kirchenjahr damit zu beginnen, dass wir uns auf die Zeit konzentrieren, da sie erfüllt war und ihren Charakter änderte. Wir feiern das, indem wir selbst die Zeit „auswechseln”. Und wir nehmen uns einen Bericht vor, der ganz kurz und gleichsam wie ein Programm das zusammenfasst, was das Entscheidende an der Fülle der Zeit war: der Text, über den Jesus predigt, handelt davon, dass er gesandt ist, dass er die frohe Botschaft für Arme, Befreiung für Gefangene, Augenlicht für Blinde, Freiheit für Unterdrückte, Gnade von Gott bringt. Und seine Predigt, die die kürzeste der Welt ist, sagt nur, dass heute die Zeit gewechselt hat, so dass diese Worte nicht mehr nur vergebliche Träume sind, sondern Gottes des Vaters eigene Verheißungen für seine Kinder. Amen.

Pastor Lars Ole Gjesing
Søndergade 43
DK-5970 Æreskøbing
Tel.: +45 62 52 11 72
E-mail: logj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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