Göttinger Predigten im Internet
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1. Sonntag im Advent, 27. November 2005
Predigt über Offenbarung 5, 1-14, verfasst von Thomas Bautz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Vielen Zeitgenossen, uns – wenn Sie die vorsichtige Unterstellung bitte verzeihen wollen – zum Teil sicher eingeschlossen, ist nicht nur die Offenbarung des Johannes auf der Insel Patmos „ein Buch mit sieben Siegeln“, sondern nahezu die gesamte Bibel als Heilige Schrift.

Ich weiß nicht, wie vielen unter Ihnen Albrecht Dürers „Apokalypse“ bekannt ist. In jedem Falle steht sie uns zeitlich etwas näher (1498) als die Apokalypse des Johannes. Was ist überhaupt mit dem Ausdruck „Apokalypse“ gemeint? – Auf welcher geldschweren Stufe wäre diese Frage wohl bei „Wer wird Millionär?“ angesiedelt?

Nun, einige werden wissen, was das Wort bedeutet, nämlich „Enthüllung“, „Offenbarung“ – aber was wird dort enthüllt? Geschautes und Gehörtes wird in der Art einer prophetischen Berufungsvision mitgeteilt. Im Hauptteil werden Einblicke in die himmlische Welt und in künftiges Geschehen vermittelt. Die Botschaften dienen zur Ermahnung und zum Trost.

Besondere Bedeutung erlangt die Apokalypse in Zeiten der Krise und des Umbruchs, denn sie handelt vom Sinn und Ziel der Geschichte. Die Enthüllung geschieht jedoch durch zeichenhafte Andeutungen (1) , die wiederum durch mächtige Boten Gottes dem Johannes vermittelt werden. Die Offenbarung des Johannes enthält traditionelle Motive aus frühjüdischer Apokalyptik und auch einige Anspielungen auf das damalige zeitliche Umfeld – ca. Ende des 1. Jh., aber der Leser ist gut beraten, wenn er dieses – immer wieder zu Recht als schwer zugängliche – Buch nicht chronologisch, sondern eher zyklisch und spiralenförmig liest. Eben aus diesem Grund erlauben wir uns auch, die eingangs vernommene Vision – vom „Buch mit sieben Siegeln“ und der Akklamation des Lammes als einzig würdiges Wesen für die Öffnung desselben – mit einer weiteren zu verbinden.

Johannes wird nämlich ein zweites Mal mit einem starken Engel konfrontiert, der von ihm sogar verlangt, dass er ein Buch verschlinge (Offb 10,1–11). (2)

Ein schwer verdauliches Buch also! Vielleicht, weil er es unfreiwillig verschlingen musste? Wenn wir Bücher – meist als Kinder – verschlungen haben, dann doch meist mit Genuss und ohne Magenverstimmung! Als schwer verdaulich empfinden wir in der Regel Bücher, die uns von außen regelrecht „aufs Auge gedrückt“ werden. Dabei denken wohl die meisten von uns an ihre Schulzeit und die älteren vielleicht an ihren Konfirmandenunterricht, als zwar keineswegs ganze Bücher, wohl aber noch Luthers Katechismen, einige Psalmen, Vaterunser, Glaubensbekenntnis und ein paar Kirchenlieder (auswendig) gelernt werden mussten – und davon war manches auch nicht so leicht zu verdauen.

Nun, was die Offenbarung des Johannes betrifft, befinden wir uns in guter Gesellschaft; kein anderer nämlich als der berühmte Reformator, Dr. Martin Luther, empfand ihre Lektüre als äußerst befremdlich und problematisch. In seiner Vorrede zur Offenbarung Johannes (1522) [WA DB 7, 404] schreibt er: (3)

„An diesem Buch der Offenbarung Johannes laß ich auch jedermann seines Sinnes walten, will niemand an meine Meinung oder Urteil gebunden haben. Ich sage, was ich fühle. Mir mangelt an diesem Buch verschiedenes, so daß ichs weder für apostolisch noch für prophetisch halte: aufs erste und allermeiste, daß die Apostel nicht mit Gesichten umgehen, sondern mit klaren und dürren Worten weissagen, wie es Petrus, Paulus, Christus im Evangelium auch tun. Denn es gebührt auch dem apostolischen Amt, klar verständlich und ohne Bild oder Gesicht von Christus und seinem Tun zu reden.

Auch gibt es keinen Propheten im Alten Testament, geschweige denn im Neuen, der so ganz durch und durch mit Gesichten und Bildern umgehe, daß ich (die Offenbarung Johannes) bei mir [...] in allen Dingen nicht spüren kann, daß es von dem heiligen Geist verfaßt sei.“ (4)

Seltsam – oder? Wir heutigen sind doch eher froh, wenn wir „in Sachen des Glaubens“ über-haupt mal etwas „zu Gesicht bekommen“! „Glauben ist nicht Wissen“, oder: Nichtwissen. „Ich glaube nur, was ich sehe!“ – Diesen Standpunkt vertreten viele Zeitgenossen, und Theologen im Pfarramt hören dieses Argument oftmals, wenn das Gottvertrauen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Schön und gut – dann wollen wir doch einmal sehen, ob wir unseren Augen trauen können! Dem Seher Johannes auf Patmos jedenfalls blieb gar nichts anderes übrig, als wie gebannt das zu schauen, was lautstark zu Gehör gebracht und glasklar vor Augen gestellt wurde:

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft der Welt und das Gottsein Gottes. Die siebenfach versiegelte Buchrolle ist ein Symbol dafür, dass das kommende Geschehen endgültig besiegelt ist. Die Zahl Sieben unterstreicht die Größe des Geheimnisses, zugleich symbolisiert sie umfassende Fülle. Es scheint, als würde Johannes wie durch ein Kaleidoskop all die wunderschönen Facetten des sich endgültig anbahnenden Reiches Gottes betrachten dürfen. Die Bilder, die vor seinen Augen entfaltet werden, können nur bedingt in poetische Sprache – gleichsam stammelnd – übersetzt werden: Eine regelrechte Bilderflut strömt auf ihn ein. Die visuellen Eindrücke bemächtigen sich seiner und überfordern schließlich sein Sprachvermögen.

Der himmlische Gottesdienst, dem er „am Tage des Herrn“, also am Sonntag (5) beiwohnen darf, bleibt für ihn nicht ohne Folgen: Die Inthronisation des Lammes, des einzigen Wesens, das für würdig erachtet wird, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen und die Verkündigung der hoffnungsvollen, überaus frohstimmenden Botschaft vom guten Ausgang der Geschichte Gottes mit den Menschen: Die Botschaft von der letztlich doch heilvollen und Schalom schaffenden endgültigen Durchsetzung der Herrschaft Gottes und des Lammes – in der sichtbaren und in der unsichtbaren Welt, – Johannes ist von diesem prophetischen Auftrag überwältigt. Aber er ist nun einmal erwählter Zeuge des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu des Christus, des Messias, und hier gilt einmal mehr als denn je: „The medium is the message“ (Offb 1,3):

Glückselig, wer vorliest die Worte der prophetischen Rede und die sie hören und das darin Geschriebene bewahren [...]!

Die Bilderwelt der Offenbarung verdichtet sich noch einmal in Gestalt eines Buches, das offen in der Hand eines mächtigen, starken Engels liegt; Johannes soll es nehmen und ver-schlingen (Offb 10,8–10)! Wie schon dem Psalmdichter, so wird auch Johannes dies Wort Gottes wie Honig munden; nur muss er es verdauen wie bittere Medizin. Aber das Buch ist – wie alle Worte des lebendigen Gottes und wie alle Reden Jesu Christi – letztlich heilsam: Es kündet von der ewigen Liebe dieses Gottes, der alle Tränen abwischen wird und dem Leid seiner Kreaturen ein Ende bereiten wird. Darin liegt der Trost, dass gemeinsam mit dem einst geschlachteten Lamm – dem Symbol des unschuldigen Opfers schlechthin – alle leidenden Opfer der Geschichte auf einen Sieg hinsteuern dürfen, den Gott selbst herbeiführen wird.

Über Länder- und Meeresgrenzen hinweg ruft der starke Engel – der Bote Gottes – diese Botschaft aus; sie gilt allen Stämmen, Nationen, Völkern und Sprachen. Johannes ist Zeuge einer befreienden Hoffnungsgeschichte: Das Lamm hat in der totalen Hingabe die Mächte dieser Welt überwunden, und diese Überwindung gibt ihm die Würde, endgültig über alles Böse zu siegen. Und als Zeuge verharrt dieser Seher nicht meditierend. Was er verschlungen hat, wird nicht lediglich in innerer Einkehr verarbeitet – so sehr das vermutlich auch eine Rolle gespielt haben wird, und so notwendig Meditation und Mystik dazugehören: Johannes muss seinem prophetischen Auftrag weiterhin nachkommen (Offb 10,11) – denn der Kairos ist nahe (1,3; 22,10).

Einer Klimax ins Unendliche – besser: in die Ewigkeit – vergleichbar, wird der Visionär dem Zenit der zur Vollendung kommenden Gnadenzeit gewahr, von dem selbst Paulus nur etwas erahnen konnte (2. Kor 6,2):
»Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Die Bilder der Apokalypse haben in der bildenden Kunst eine großartige Wirkungsgeschichte hinterlassen: in Gemälden, auf Holzschnitten und auf byzantinischen Mosaiken.

Auch Luther hatte ein Gespür dafür entwickelt, wie hilfreich Bilder und Illustrationen für Bibelausgaben sein können, und nicht zufällig begann er mit solchen bebilderten Ausgaben zunächst lediglich bei der Apokalypse des Johannes. Das sog. Septembertestament Luthers, d.h. seine 1522 erschienene Übersetzung des Neuen Testaments bringt außer den ausge-schmückten Initialen tatsächlich nur (22) Bilder zur Offenbarung Johannes [...]. (6)

Die reichen Bildbeigaben in den Nachdrucken der Lutherbibel ebenso wie die Bildausstattung der (erst 1534 erscheinenden) Gesamtbibel erfreuten sich im Laufe der Zeit großer Beliebtheit.

In der Renaissance hatte bereits Albrecht Dürer einen Zyklus zur Offenbarung des Johannes auf Holzschnitten entworfen. (7) Auf einem begegnet uns die Szene, wo der mächtige Engel dem Seher das Buch zum Verschlingen reicht. (8)

Bildbetrachtung – Albrecht Dürer: Holzschnitt zur „Apokalypse“ (1498): (9)


(Quelle: http://www.prometheus-bildarchiv.de)

Mein Blick fällt zunächst auf die am Boden kauernde Gestalt, die durch den Titel des Bildes als „Johannes auf Patmos“ identifiziert wird. Er wirkt auf mich nicht gerade glücklich: sehr angestrengt! Offensichtlich hat er bereits damit begonnen, das ihm von einem riesigen Engel dargereichte Buch zu verschlingen. Man möchte ihn bedauern!

Der Engel hingegen wirkt recht freundlich, eher Frohsinn – im wahrsten Sinne – ausstrahlend:

Sein strahlenumkränztes Haupt ist umgeben von einem Regenbogen, und von seinem Gesicht gehen nochmals – und zwar nach unten hin sehr weitreichend – Sonnenstrahlen aus, die aber nicht den Seher erreichen.

Aber jetzt möchte ich die Bildbetrachtung Ihnen, liebe Gemeinde, überlassen. Und ich halte es für hilfreich, wenn sich einige unter uns ganz spontan zu diesem Bild äußern. Es geht um Ihre subjektiven Eindrücke, nicht um kunsthistorisches Wissen. (10)

Bildbetrachtung seitens der Gemeinde – Raum für spontane Äußerungen zum Bild.

Ich danke Ihnen sehr, denn nun haben wir gemeinsam mehr Sehen gelernt, als ein Einzelner imstande wäre. Dennoch: Bilder – auch die zuvor visionär geschauten und dann sprachlich verdichteten „Bilder“ der Offenbarung – sind zwar „prinzipiell verständlich, und doch gibt es für ihre Sichtbarkeit keine zureichende Übersetzung. Sie sind an den Blick adressiert, der sie visuell zu realisieren versteht.“ (11) – Mit anderen Worten: Bilder und Gesichte (so darf ich hinzu-fügen) werden uns eher im Akt des Sehens verständlich als im Reden über sie.

Johannes möchte uns zur visionären Schau seiner Hoffnungsbilder einladen. Amen

Anmerkungen:

(1) Vgl. Suzanne de Diétrich: Was Gott mit uns vorhat. Ein Wegweiser durch die Bibel (1967), 347f (inkl. Anm.); Originalausgabe: „Le dessein de Dieu“, Reihe: „Série biblique de l’actualité protestante“; übersetzt von M. Thurneysen.

(2) Es empfiehlt sich, diesen Text kurz nachzuerzählen.

(3) Diese Vorrede Luthers hat bis zum Jahre 1530 in den Ausgaben des Neuen Testamentes gestanden (letzter Druck von 1527). Die Ausgabe von 1530, die auch in anderen Zusammenhängen eine Milderung des Urteils Luthers bringt (vgl. z.B. die Vorrede zum Jakobusbrief) ersetzt die kurze Vorrede mit ihrer rundweg ablehnen-den Haltung zur Offenbarung dann durch eine sehr viel ausführlichere, aus welcher wir erfahren, daß Luthers Stellung zur Offenbarung Johannes sich inzwischen wesentlich gewandelt hat. Trotz nicht weniger Vorbehalte hat er es jetzt gelernt, die Offenbarung in ihrer Bedeutung für den einzelnen Christen wie die Kirche zu schätzen. Während er sie vorher – wenigstens für seine Person, ohne dadurch das Urteil anderer beeinflussen zu wollen – mit schroffen Worten ablehnt, ist er jetzt zwar auch noch der Meinung, die Offenbarung stamme nicht vom Apostel Johannes. Sie gehöre auch zur niedrigsten Stufe der Weissagung, welche solange verborgen bleibe, wie die rechte Deutung für ihre Bildsprache nicht gefunden sei. Aber er will doch jetzt selbst einen solchen Versuch der Deutung des geheimnisvollen Buches machen, welches der Christenheit zur Tröstung und zur Warnung geschrieben sei. [Martin Luther: Vorrede zur Offenbarung Johannes (1522), S. 4. Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther, S. 3105 (vgl. Luther-W Bd. 5, S. 362–363)].

(4) Martin Luther: Vorrede zur Offenbarung Johannes (1522), S. 2. Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther, S. 3103 (vgl. Luther-W Bd. 5, S. 65).

(5) Noch im Neugriechischen heißt „Sonntag“ Kuriakh – „Herrentag“.

(6) Martin Luther: Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (1525), S. 89. Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther, S. 2680 (vgl. Luther-W Bd. 4, S. 358).

(7) Deren Gesamtfolge liegt eine Erzählstruktur mit verschachtelter Syntax zugrunde. Ein Blick auf die deutsche oder die beiden lateinischen Ausgaben zeigt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Text der Offenbarung und den Holzschnitten besteht, was zu einer Zusammenschau von Wort und Bild einlädt. – Erwin Panofsky weist diesen Zusammenhang zurück; vgl. Peter Krüger: Dürers „Apokalypse“. Zur poetischen Struktur einer Bild-erzählung der Renaissance (1996): „Bild und Text in Dürers „Apokalypse“, 42–48: 42f, siehe auch: „Die Erzähl-struktur der Gesamtfolge“, 49–67.

(8) An dieser Stelle sollte nach Möglichkeit das Bild gezeigt werden. – Die anschließende Bildmeditation mag individuell gestaltet werden.

(9) Der Evangelist Johannes auf Patmos, das Buch verschlingend (Der „Starke Engel“) (B.70); P. Krüger: Dürers „Apokalypse“: Abbildungen (S. 139ff): VIII, S. 149. Vgl. Dürers Apokalypse und ihre Wirkung. Ausstellung im Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig 22. September – 20. November 1994; Peter Martin: Martin Luther und die Bilder zur Apokalypse. Die Ikonographie der Illustrationen zur Offenbarung des Johannes in der Luther-bibel 1522 bis 1546, VB 5 (1983), 156ff und 186f.

(10) Der Prediger sollte sich – wenigstens für ca. zwei bis drei Minuten – zurücknehmen und wirklich aus dem Kreis der Gemeinde Äußerungen zum Bild kommentarlos aufnehmen. Anschließend kann er ggf. das eine oder andere des Gesagten in den Schluss seiner Predigt einfließen lassen. Ein Lob für die Mitarbeit der Gemeinde sollte auch artikuliert werden!

(11) Gottfried Boehm: Sehen. Hermeneutische Reflexionen, in: Kritik des Sehens, hg. v. Ralf Konersmann (1997), 272–298: 279.

Thomas Bautz


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