Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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1. Sonntag im Advent, 27. November 2005
Predigt über Offenbarung 5, 1-14, verfasst von Martina Janßen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Der Predigttext für den ersten Advent ist ein apokalyptischer Text. Ein Text, der „enthüllt, was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört hat.“ Das verheißt Außergewöhnliches. Hören wir, sehen wir!

I.

„Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf der Erde noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden. Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und die vier Gestalten sprachen: Amen. Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.“ (Offenbarung 5,1-14)

II.

Was für ein himmlisches Schauspiel zwischen Harry Potter und Hollywood! Was müssen meine Augen da sehen! Ungesehenes. Unabsehbares. Einen prächtigen Thron mitten im Himmel – umringt von Engeln, goldenen Schalen, mächtigen Gestalten. Vieltausendmal tausend Älteste. Niederfallen. Anbeten. Ein Buch - geheimnisvoll, versiegelt, gleich siebenmal, blendet die Augen. Räucherwerk. Blut. Ein Lamm mit sieben Hörnern und sieben Augen. Welch’ bizarre Szenen! Welch’ groteske Wesen!

Doch damit genug. Was müssen meine Ohren da hören! Ungehörtes. Unerhörtes. Hymnen. Lobpreisungen. Ein ganzes Gewitter aus Lobgesängen und Huldigungen! Mächtige Stimmen ertönen, gewaltige Worte schwirren durch die Luft: „Wer ist würdig? Löwe aus dem Stamm Juda! Weine nicht! Blut! Das Lamm, das geschlachtet ist. Ehre. Preis. Gewalt. Ewigkeit.“ Welch’ schwere Worte! Welch’ schrille Töne!

Dieser Text wirkt auf mich wie eine Droge, die mich nach mehr verlangen lässt: Wie groß ist das Lamm? Sieht mich eins seiner sieben Augen an? Wie dick ist das Buch? Was steht darin? Wie klingen diese himmlischen Hymnen? Wie sieht das Gesicht des Sehers aus?

Ein Text mit sieben Siegeln! So etwas habe ich noch nie gesehen! So etwas habe ich noch nie gehört! Und ich frage mich: Wer ist fähig, sich das wirklich vorzustellen? Ist das nicht alles eine Nummer zu groß? Ist es das wert, sich darauf einzulassen?

III.

Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ Die Frage des Engels heißt nichts anderes als: „Wer ist würdig? Wer ist es wert? Wer ist der Herr?“ Und die Antwort ist eindeutig: Niemand außer einem. Niemand außer dem einen, der uns verheißen wurde. „Der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids.“ Einen Löwen als Herrscher der Welt kann ich mir vorstellen. Ein gewaltiges Tier, der „König der Tiere“. Stark. Würdevoll. Unbesiegbar. Aufrecht. Stolz. Gefährlich. Gerecht. Eben mächtig. Doch der Löwe des Sehers sieht anders aus. „Und ich sah ein Lamm stehen wie geschlachtet.“ Der Weltenherrscher hat die Gestalt eines Opfertieres. Wehrlos. Blutig. Stumm. Geduldig. Unschuldig. Sanft. Barmherzig. Eben ohnmächtig. Und doch: „Es hatte sieben Hörner und sieben Augen.“ Das ist keine Ohnmacht ohne Macht. Das Lamm trägt die Zeichen der Macht und der Allwissenheit. Siebenmal. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Sieben Hörner. Vollkommene Macht. Sieben Augen. Vollkommenes Wissen. Macht und Ohnmacht in einem. Wie der Auferstandene die Wundmale trägt. Wie das Kind in der Krippe zum Kreuz drängt. Voller Macht, doch ohne Liebe zur Macht. Wie der allmächtige Herrscher ohnmächtig am Kreuz stirbt. Sein Tod für uns. Die Macht dieses Herrschers ist die Liebe. Diesen Herrscher erwarten wir im Advent. Diesen und keinen anderen. Dieser Herrscher ist es wert, „das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen.“

IV.

Doch wie ist das bei uns? Sind es bei uns die Lämmer, die den Schlachtplan für die Welt entwickeln? Den Börsenticker schreiben? Der Wirklichkeit ihre Melodie geben? Ist das bei uns wirklich so? Das Tier ins uns ist aus dem Paradies vertrieben. Hier in unserer Welt frisst der Löwe kein Stroh. Hier liegt der Wolf nicht neben dem Schaf (Jes 65,25). Soviel Platz scheinen wir nicht zu haben. Doch wer hat die Macht? Sind bei uns die Lämmer wirklich die Strategen der Weltgeschichte? Oder sind es nicht eher die Schweine, die den Ton angeben? „Du musst ein Schwein sein in dieser Welt. Schwein sein. Du musst gemein sein in dieser Welt. Gemein sein. Denn willst du ehrlich durch das Leben gehen. Ehrlich. Kriegst’n Arschtritt als Dankeschön. Gefährlich. ... Daraus ziehst du Konsequenzen und du schaltest um auf schlecht. Die Welt ist ein Gerichtssaal und die Bösen kriegen recht.“ – so singen „die Prinzen“. Und – haben sie nicht ein bisschen recht? Regiert bei uns wirklich die Macht der Liebe? Nicht eher die Liebe zur Macht? Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich bei uns nicht gerade für die Lämmer die Türen öffnen; eher schon für die schlauen Füchse und die scharfen Hunde! Und all die Zwitterwesen, die Wölfe im Schafspelz, die falschen Lämmer mit der Opferrolle als Strategie. Wer hat die Macht? Lamm oder Wolf? Wer ist mehr wert?

V.

„Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind. Es gibt so viele, denen das Leben ganz leise viel echter gelingt. (...) Die schreiben nie Lieder, die sind Melodie, so aufrecht zu gehen, lerne ich nie.“ – auch ein Lied. So singt es Konstantin Wecker. So geht es auch. Einen Versuch ist es wert. Melodie zu sein. Aufrecht zu gehen. Blut zu lassen. Lamm zu sein. Ein wenig auf sich zu nehmen. Vielleicht öffnen sich ja Türen, vielleicht lösen wir so Fesseln, brechen wir so Siegel. Vielleicht geht es ja, inmitten der Wölfe, Schweine und Füchse ein neues Lied anzustimmen, vielleicht nur mit leisen Tönen, aber dennoch einen Unterton der Hoffnung in das Getose der Welt zu bringen, eine Gegenstimme zur Gewalt. Wie eine Wurzel einen Felsen sprengen kann. Wie ein kleines Licht die Dunkelheit verdrängt und hell macht. Wie Wasser einen Stein aushöhlen kann. Wie ein Händedruck Angst nimmt. Wie ein Wort das Eis brechen kann.

Sollten wir nicht fähig sein, uns darauf einzulassen? Und wenn wir es sind? Vielleicht hören wir dann neue Töne. Ungehörte. Unerhörte. Vielleicht sehen wir eine neue Welt. Ungesehen. Unabsehbar. Vielleicht öffnet sich dann der Himmel. Vielleicht nur ein wenig. Aber das ist es wert!

Amen.

Dr. Martina Janßen
Göttingen
martina.janssen@theologie.uni-goettingen.de

 


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