Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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1. Sonntag im Advent, 27. November 2005
Predigt über Offenbarung 5, 1-5, verfasst von Monika Waldeck
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Es verblüfft mich jedes Jahr aufs Neue:
Draußen in den Straßen und Geschäften bestrahlen Lichterketten tausendfach stimmungsvollen oder kitschigen Weihnachtsschmuck in Dunkelrot und Gold.
Hier in der Kirche empfängt uns dagegen eine merkwürdig spröde Herbheit: ein Parament in violett, die erste Kerze am Adventskranz. Das wars.
Und zwischen der Welt draußen und hier drinnen sind wir, die Gemeinde.

Spüren wir gerade bei der Überfülle von weihnachtlichen Symbolen in den Auslagen der Läden und in der Werbung, dass etwas an der Oberfläche abgehandelt wird?
Vielleicht möchten Sie sich in diesem Gottesdienst einstimmen lassen auf die gefühlvolle Atmosphäre des Advent, der in die Geburt des Jesuskindes in der Krippe zu Weihnachten mündet.
Vorfreude kann dabei sein, manchmal eine besondere Traurigkeit, wenn Schweres im vergangenen Jahr geschehen ist. Auch Enttäuschung und Einsamkeit werden bewusster und unerträglicher in dieser Zeit. In vielen Häusern brennen in den nächsten vier Wochen Kerzen.
Der Beginn des Advent bringt eine Sehnsucht nach Tiefe in die Alltäglichkeit des Lebens.

Wenn ich heute jedoch die Bibel aufschlage oder einen Gottesdienst besuche, scheint von Gefühlen erst einmal kaum die Rede zu sein. Das Thema des 1. Adventsonntags ist „der kommende Christus“.
Wir hören vom Einzug in Jerusalem, wir lesen die Verheißung des Sacharja. Da geht es nicht um das Jesuskind in Windeln, sondern um den Christus als Retter der Welt.
Da tut sich eine Distanz auf, die nur in den schönen bekannten Adventsliedern überbrückbar erscheint.

So lassen Sie uns einen Blick werfen auf die apokalyptische fremde Szene, die uns der Predigttext heute vor Augen stellt.
Vor uns entfaltet sich das Bild eines himmlischen Gottesdienstes.
Wir schauen mit dem Seher Johannes Gott auf seinem Thron mit einem Buch in der Hand. Es ist innen und außen beschrieben und enthält Antwort auf die Fragen nach dem Warum, dem Sinn des Lebens. Um Gott herum eine große Versammlung von Menschen und Engeln.
Aber das Buch ist verschlossen mit sieben Siegeln. Nur die Außenseite ist lesbar.

Ich denke daran, dass zumindest wir westlichen Menschen uns angewöhnt haben zu glauben, die Rätsel der Welt wären entzifferbar.
Wir vertrauen gerne den Verheißungen von Wissenschaft und Forschung, mit ein bisschen Vorsorge seien Krankheiten und Naturkatastrophen in den Griff zu bekommen, ob AIDS, das Ozonloch oder die Vogelgrippe.
Trotz Irritation und Überraschung angesichts vieler Toter bei den letzten Hurrikanen oder Hungerkatastrophen in Kaschmir und Sambia, trotz Nachrichten über das Abschmelzen der Polkappen erscheint uns die Welt als sicherer Ort. Wir müssen uns nur umsichtig verhalten, dann sind wir geborgen. Leid und Tod gelten uns nur noch als Ausnahmefälle und sind meistens gut auszublenden.
Kann es sein, dass Religion manch Einem so unwichtig erscheint, weil wir meinen, einen erfüllbaren Anspruch auf Lebensglück zu haben?
Vielleicht hat der Glaube in diesen Tagen einen so geringen Stellenwert, weil wir denken, der Mensch könne seine Zukunft ohne Gottes Hilfe in der Hand halten.

Wenn aber nur die Außenseite des Buches lesbar ist, dann wirkt der Optimismus über die Lösbarkeit der Rätsel dieser Welt verfrüht.
Dann wird das Vertrauen in die grenzenlosen Machbarkeitsphantasien von uns Menschen entlarvt.
Es ist augenfällig: Leid und Elend dauern an. Gerade wir Pfarrer und Pfarrerinnen hören viele Male die Frage nach dem „Warum“.
Warum muss ein Kind an Krebs sterben? Warum wird eine Familie grausam durch einen Krieg auseinandergerissen? Warum sind die Güter zwischen Norden und Süden so unglaublich ungerecht verteilt? Welcher Sinn liegt hinter allem?

Sieben Siegel verschließen die Antwort.
Heute am 1. Advent stellt ein starker Engel in unserem himmlischen Gottesdienst
die Frage: Wer löst die Rätsel, wer bricht die Siegel?
„Niemand“, so sagt der biblische Text, „weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.“ Es ist zum Heulen.
Und das tut auch der Seher Johannes: „Ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“ Man kann nur weinen aus Verzweiflung, Ratlosigkeit und Wut darüber, dass das Geschenk des Lebens so untrennbar verbunden ist mit der Erfahrung von Leiden, Schuld und Sterben.

Johannes macht nun aber eine Erfahrung, die wir auch kennen. Einer der Ältesten, die vor Gottes Thron knien, berührt ihn und tröstet ihn: „Weine nicht!“
Wer je erlebt hat, dass er in einem traurigen Moment getröstet wurde, für den ist die verzweifelte Frage nach dem Warum in diesem Augenblick des Gehaltenseins schon einer kleinen Hoffnung gewichen, dass es einen Sinn geben möge.

Johannes erfährt von dem Ältesten: „Der Löwe aus Judas Stamm und Nachkomme Davids hat den Sieg errungen. Er kann die sieben Siegel aufbrechen und das Buch öffnen.“ Einige Sätze später wird von Gottes Lamm gesprochen, das aussieht wie geschlachtet. Der Löwe, der Starke ist gleichzeitig das Lamm, ein sanftes und ohnmächtiges Tier. Ein scheinbar unüberwindbarer Gegensatz.

Wir wissen: es ist Jesus Christus, von dem hier die Rede ist. Er ist als einziger würdig, die sieben Siegel zu brechen. Nicht mit Gewalt, sondern friedfertig wird er die Welt retten. Nicht durch Klugheit, sondern durch seine Hingabe am Kreuz, stellvertretend für uns Menschen, erringt er den Sieg, gibt die Antwort auf unsere Fragen.
Er zeigt uns so, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.
Die Antwort ist nicht durch wissenschaftlichen Fortschritt zu erwerben oder durch menschliche Anstrengung zu finden.

Nur der Glaube erfasst sie, denn sie lautet:
Das Leben ist ein Geschenk, und es bringt die Erfahrung von großen Höhen und Tiefen.
Weil Christus sich aber für uns am Kreuz hingegeben hat, können Leidende getröstet werden. Gott hat sich auf ihre Seite gestellt. In jedem Menschen, der einen Weinenden tröstet, tröstet Gott selbst.
Die Antwort lautet aber auch: Weil Christus sich für uns am Kreuz hingegeben hat, ist jedes weitere menschliche Opfer sinnlos. Wir Christen sind darum zum Handeln aufgefordert, Unrecht beim Namen zu nennen und mitzuhelfen, dass gerechte Strukturen entstehen.
Nein, das heißt nicht, dass wir nun bis zur Selbstaufgabe für eine gerechte Welt kämpfen müssen. Jeder hat unterschiedliche Gaben und verschiedene Möglichkeiten dazu. Leider wird Gerechtigkeit und Frieden aber nicht religiös garantiert. Und die Erfahrung von Geborgenheit oder Schutzlosigkeit hängt letztlich auch nicht am menschlichen Verhalten.

Die Antwort, die der Glaube gibt, meint zunächst einfach:
Feiern wir Gottesdienst! Erinnern wir uns daran, dass wir Menschen begrenzte Lebewesen sind, dass wir uns nicht an Gottes Stelle setzen dürfen und auch nicht müssen. Dass unsere Gestaltungsfreiheit gerade erst in der Begrenzung auf unsere Menschlichkeit entsteht. Gottesdienst zeigt uns die Grenze zwischen oben und unten. Sei es der Gottesdienst im Himmel oder der auf der Erde, heute morgen hier und jetzt.
„Dass die Welt noch steht, hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass noch Gottesdienste gefeiert werden.“, so hat es ein Theologieprofessor einmal ausgedrückt. (Josuttis 1987)

Ich glaube, es braucht die Kargheit und Nüchternheit in der adventlichen Kirche, es braucht den langen Weg durch die nächsten Wochen, um uns dem Ereignis der Geburt Jesu anzunähern. Wir tun es heute in dem Bewußtsein, dass dieser Jesus der Christus ist, der die Welt rettet.
Es braucht die Zeit der Erwartung. In ihr haben all unsere unterschiedlichen Gefühle ihren Platz, denn sie wollen uns in Kontakt bringen mit dem Grund unseres Seins.
Bis wir am Ende sicher wissen: Er, der Mann am Kreuz, das Kind in der Krippe kommt uns entgegen und wischt unsere Tränen ab.
Und so lange feiern wir Gottesdienst, singen unsere Adventslieder, denn darum steht die Welt noch.
Amen.

Monika Waldeck
Studentenpfarrerin in Witzenhausen/Kassel
E-Mail: waldeck.esg-wiz@ekkw.de


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