Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe "Evangelische Lebenskunst" - 2005
Predigt zum Wochenspruch des Ewigkeitssonntags, Lukas 12, 35
"Achtsames Leben"
verfasst von Lars Hillebold

(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen.“
Lk 12,35


Seid achtsam!

Seid achtsam auf das „weder noch“.
Denn ich bin gewiss, dass

weder Tod
noch Leben,

weder Engel
noch Mächte
noch Gewalten,

weder Gegenwärtiges
noch Zukünftiges,

weder Hohes
noch Tiefes
noch eine andere Kreatur

uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Seid achtsam, da der Tod uns nicht scheiden kann von der Liebe, die uns leuchtet, wenn die Dunkelheit des Jahres und das Ende des Lebens uns bedrohen. Seid achtsam, wenn die Kerzen warm und hell entflammen, die Gott in unsre Dunkelheit gebracht.
Wir wollen des Vergangenen gedenken.
Unsere Lichter brennen auch in der Nacht.
Seid achtsam, denn der Herr kommt.

Die Toten achten

Die Lebenden achten die Toten in diesen Tagen. Darum gedachten wir der Völker und Rassen, deren Leben durch Menschenhand achtlos weggeworfen wurde. Weggeworfen: die eigene Identität, Bildung und Kultur. Bücher verbrannt. Menschen vergast. Denken verboten. Die Heimatliebe so verraten, dass man sich schon des Wortes schämte. Leben achtet auf das Vergangene, damit die Zukunft Neues bringt und Altes nicht wiederkehrt.
Darum gedenken wir der Kinder und Kindeskinder von Tätern und Opfern, die bis heute vom Vergangenen wenig wissen. Die als Kinder, als Enkel nichts hören, weil ihre Großväter und -mütter immer noch schweigen - aus Angst und Scham. Die Kinder und Enkel, die nichts gehört auch nichts mehr zu erzählen haben, nichts mehr zu verstehen haben, warum man der Schuld der Vergangenheit noch gedenkt.

Die Lebenden achten die Toten in diesen Tagen. Wir erinnern uns. Rufen ihre Namen aus. Gehen an die Orte, die uns verbinden. Menschen, Familien, Freunde und Nachbarn suchen einen Ort der Erinnerung. Friedhöfe und Grabsteine erzählen von der Achtsamkeit. Von der Achtsamkeit der Lebenden mit den Toten. Kerzen entflammen. Lichter brennen an den Orten der Erinnerung. Christus spricht: Ich bin das Licht der der Welt. Taufkerzen verstorbener Kinder werfen traurige Schatten. Blumen auf Gräbern erblühen gegen den Trübsinn.
Licht gegen das Dunkel dieser Tage. Menschen werden ein Stück ärmer, wenn einer geht. Eine Lücke bleibt, die sich nicht mehr schließt. Das letzte Blatt am herbstlichen Baum fällt. Die Vögel singen nicht mehr. Nebel und Feuchtigkeit ziehen übers Land. Die Kleidung wird dunkler, die Tage auch. In der Tiefe der Melancholie, wenn sich Herzen zusammenziehen, Menschen einsamer werden, dann erklingt ein seltsames Wort an diesem letzten Sonntag, bevor der Advent uns entgegenkommt:

Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen.

Lasst Euch heute sagen: Seid wachsam, denn am Ende des Lebens, am Ende des Kirchenjahres geht es gar nicht um die Dunkelheit. Die Melancholie wird weichen einer neuen Melodie. Wenn sich die Stille tief um uns breitet, lasst uns hören jenen vollen Klag der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner, Gottes Kinder, hohen Lobgesang.

Wachsam - achtsam - mühsam

Wach auf. Steh auf. Zieh dich endlich an. Mach Dich fertig. Raus aus den Pantoffeln. Wir wollen gleich los. Was soll ich denn anziehen? Chic oder modern, sportlich kreativ, dezent teuer, angepasst, provozierend. Mach hin. Es ist Zeit. Wir müssen los. Lass das Licht brennen. Damit keiner sieht, dass wir nicht zu Hause sind.

Wach auf. Steh auf. Weck die müde Christenheit. Wach auf, ruft uns die Stimme. Bedenkt das Sterben, um zu Leben. Lasst Eure Lenden umgürtet sein. Zieht euch an. Mit verschlafenen Augen und im Nachthemd empfängt man keinen Herrn. Gewiss nicht den Herrn des Lebens. Er ist noch bei einer Hochzeit. Er wird begeistert von sein, wenn er uns wachend findet. So begeistert, dass er uns zu Tisch bittet, sich selbst die Kellnerschürze umbindet und uns bedient. Achtsam lebt er: der Herr, der sich zum Diener und uns zu Herren macht. Zu Menschen. Der eine lebt achtsam, damit wir anderen beachtet werden. In Gottes Augen, durch seinen Besuch, wenn er sich die Schürze des Dieners umbindet, wird unser Leben geachtet – wie unansehnlich es auch ist.

Gott kommt uns achtsam entgegen: uns zugute. Dir zum Guten. Darum: raus aus den Pantoffeln und nicht wieder rein. Zieh dich an. Mach dich fertig. Bereite dich vor. Im Ende liegt ein Anfang verborgen. Umgürte deine Lenden, lass brennen deine Lichter.

Wach zu bleiben ist anstrengend. Achtsam sein kann mühsam sein. Schlafen müssen wir. Wenn der eine schläft, wird ein anderer wachen. Einer wacht: bleibet hier und wachet mit mir. Auch wenn es schwer fällt. Darum leben wir als Gemeinde. Darum wachen wir als Gemeinschaft in achtsamer Sorge füreinander. Manchmal vielleicht auch in zu mühsamer Neugier aneinander. Achtsame Kirchengemeinden schlafen nicht ein. Trocknen nicht aus, auch wenn die Kassen öde und leer werden. Achtsam den einzelnen Menschen ehren, geachtetes Leben in einem Ort, wo man für einander wacht und sich weckt, wenn der Herr kommt.

Gebrannte Kinder und brennende Lichter

Wir brauchen einander gegen die Melancholie dieser Tage. Vom Leid geprägte Menschen sind gebrannte Kinder. Von brennenden Lichtern für Gott den Herrn zu reden, kann ein Spiel mit dem Feuer sein. Achtsam für die Gefühle der Anderen. Achtsam, weil Gott uns nicht mit einem Paukenschlag entgegenkommt, sondern still am Rande der Welt. Unscheinbar.

Mag es sein: im Leid kommen wir uns alles andere als geachtet vor. Vielleicht brennt eher die Frage, warum ist mein Leben so geächtet statt geachtet. Von Gott gebrannte Kinder, die ihre Lichter haben brennen lassen, und Gott kam nicht? Wo war Gott im Tod unserer Tochter, die beim Autounfall ums Leben kam? Wo war Gott als der Krebs siegte? Wo, Gott, bist Du?

Es kann keinen einfachen Trost geben. Meine Worte sind Hoffnungen, gewiss. Keine Einzelstimme und doch muss sie bei jedem und jeder im eigenen Leben ankommen:
Gott kommt unerwartet. Er wartet. Gott will kommen, wenn wir wach sind. Will uns nicht überfallen, wenn wir schlafen. Weder zwingen noch überreden. Sondern Gott achtet unser Leben. Achtet unsere Freiheit. Achtet darauf, dass wir wach werden, damit wir ihn sehen.

Weder noch ... zwar aber ... sondern: Seid achtsam!

Ein achtsames Leben sieht Gott. Sieht Gott ... und Gott sieht. Sieht Leben, das mehr zu sagen hat als „weder noch“. Das ist das sonderbare Gottes. Er ist nicht „weder noch“. Er ist nicht „zwar aber“. Er ist davor und dahinter. Er ist das sondern. Ja, auch das sonder- und wunderbare, das weder Hohes noch Tiefes, weder Tod noch Leben uns von ihm trennen.

Ich bin gewiss,
ich könnte viele „weder noch“ aufzählen,
wüsste von dem einen „zwar“ und dem anderen „aber“,
von achtlos Dahingesagtem, verächtlich Weggeworfenem.

Ich bin gewiss,
weder gestern noch morgen noch heute verachtet Gott dich,
er achtet dich viel lieber.
Ich bin gewiss,
dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Eure Lenden: lasst sie umgürtet sein! Eure Lichter: lasst sie brennen!

Lars Hillebold
lars.hillebold@web.de

 


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