Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe "Evangelische Lebenskunst" - 2005
Predigt zum Wochenspruch des Volkstrauertags, 2. Korinther 5, 10
"Gerichtetes Leben"
verfasst von Eva Losert
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi,
damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten,
es sei gut oder böse.“
2. Kor. 10

I. Das Leben leben
„ich wurde nicht gefragt
bei meiner geburt
und die mich gebar
wurde auch nicht gefragt
bei ihrer geburt
niemand wurde gefragt
ausser dem Einen

und der sagte
ja“ (*)

Ich wurde nicht gefragt. Ich nicht und sie auch nicht.
Nur einer hatte etwas zu sagen, als es um mich ging, und der sagte es: „ja“.
Vom Leben vielleicht ungeplant, von ihm geplant.
Ins Leben geworfen.
Erwartet, das Leben zu gestalten, es zu bestehen, es mit ihm auszuhalten, zu füllen mit allem, was es verlangt.
Die Kunst, das Leben zu leben, ist eine Besondere.
Was es noch bereithält, wissen wir nicht.
Die Kunst, nicht den Himmel auf Erden zu haben und doch so zu leben, als sei der Himmel nahe. Denn der Eine wurde gefragt und er sagte „ja“.

II. Dem Himmel so nah
Dem Himmel so nah ist das Leben. Es ist erwünscht. So, wie es eben ist:
Klein, bescheiden, fleißig.
Dem Himmel so nah ist das Leben. Gewollt von ihm und entschieden durch seinen Fingerstreich: Jung, unerfahren, sorglos.
Dem Himmel so nah: Alt, gebeugt, voll Sorge.
Der Himmel hat es gewollt. Gott hat es gewollt. Er hat mich gewollt.
Was kann ich da noch wollen?
Sein Kommen erwarten wir in diesen Tagen.
Sein Licht soll unsere Leben hell machen.
Sein Licht soll strahlen. Es soll sich ausbreiten.

III. Offenbar
Offenbar brauchen wir im Dunkel der Zeiten und in den Dunkelheiten unseres Lebens eine Lichtquelle. Unsere Erinnerung an seinen Lebensplan mit uns scheint zu verblassen.
Darum soll sein Licht für uns leuchten. Alle Winkel soll es bescheinen, ausleuchten jede Ecke meines Daseins. Nichts soll verborgen bleiben.
Der Wunsch, dass es einen gibt, der mich, mein Leben, alles, was ich tue, in- und auswendig kennt, vor dem ich alles zeigen kann, weil er es schon kennt. Der mich kennt. Dem nichts verborgen ist, sondern dem alles offenbar ist: Mein Leben liegt vor ihm wie ein offenes Buch, nicht versiegelt, nichts verheimlicht, nichts beschämt versteckt: Offenbar sein. Ich ihm - ohne Versteckspiel. Ohne Lügen.
Denn bei ihm ist die Quelle des Lebens und in seinem Licht sehen wir das Licht.

IV. Sich im Licht sehen
Und dann im Licht stehen, auf der Bühne meines Lebens. Ungeschminkt und ohne Text. Vergessen die Ausreden des Nichtgelingens, verpatzt den Auftritt mit dem gelernten Drehbuch.
Und genau so vor ihm stehen, offenbar sein in seinem Licht, ausgeleuchtet, das Innere nach außen:

Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.

V. Die Toten achten
Die Lebenden achten die Toten in diesen Tagen.
Darum gedenken wir der Völker und Rassen, deren Leben durch Menschenhand geplant weggeworfen wurde: in Schützengräben verschüttet, unter Trümmern vergraben, in Kammern vergast.
Weggeworfen auch die eigene Identität, Bildung und Kultur. Bücher verbrannt. Denken verboten. Gleichschaltung erwünscht.
Die Heimatliebe so verraten, dass man sich schon des Wortes schämte.
Leben achtet auf das Vergangene, damit die Zukunft Neues bringt und Altes nicht wiederkehrt.
Darum gedenken wir der Kinder und Kindeskinder von Tätern und Opfern, die bis heute vom Alten wenig wissen. Die als Kinder nichts hörten, weil Ihre Väter und Mütter nicht sprachen - vor Schmerz und Scham. Die Enkel, die nicht verstehen, warum wir der Schuld des Vergangenen gedenken, weil die Alten nicht erzählen können - aus Schmerz und Scham.
Die als Kinder selbst mit dem Schweigen und der Ungewissheit aufwuchsen: Waren meine Eltern es auch?
Die Kinder der Väter und Mütter, deren Leid immer ein wenig geringer war als das der Großen: Die Mutter, die den Mann verloren hatte. Die Schwester, die niemals Braut wurde. Der Onkel in der Gefangenschaft dem Wahnsinn verfallen. Was gilt da die Angst eines Fünfjährigen, die Not einer Zwölfjährigen, die Trauer eines Achtjährigen?
Wir gedenken heute auch der Kriegskinder: Kinderjahre im Schatten der Trauer der Erwachsenen und Erwachsenenjahre im Zwielicht des Ungewissen.

VI. Gebrannte Kinder - verbrannte Erde
Die Lebenden achten die Toten in diesen Tagen. Wir erinnern uns, stehen an Gräbern, sehen die Jahre des Lebens. Wir erinnern uns der eigenen Geschichte und der Geschichte unseres Landes:
Männer sind gefallen.
Väter wurden vermisst.
Geliebte gerieten in Gefangenschaft.
Menschen, die verändert vom Erlebten das eigene Leben nicht leben konnten.
Frauen sind verwitwet.
Verlobte werden niemals Ehepaare.
Kinder kennen ihre Väter nicht.
Verbrannte Erde bringt gebrannte Kinder hervor.
Welche Kunst das Leben zu gestalten vor aufgerichteten Kreuzen!

VII. Durchkreuztes Leben
Wenn die Pläne durchkreuzt werden, besteht die Kunst im Leben!
Ich wurde nicht gefragt, weil Einer es wollte - mein Leben.
Ich werde gefragt am Ende der Zeiten.
Ich werde gefragt am Ende der Zeiten, so, wie alle vor und alle nach mir.
Ich werde gefragt!
Gefragt von dem, der es längst weiß. Der mich kennt, mein Leben kennt, mein Versteckspiel vor mir und den anderen.
Gefragt von dem, dem jeder Winkel meines kleinen, selbst geschusterten Lebens offenbar ist.
Dann werde ich offenbar, empfange meinen Lohn von ihm, der am Anfang gefragt wurde und am Ende mein Richter sein wird. Ein Richter meines Lebens.
Von seinem Kreuz auf mein Leben blickend. Sein Kreuz aufgerichtet, mein Leben anzublicken. Nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe auf mich gerichtet. Mit dem Blick des Schöpfers, der um die Not weiß und das Böse kennt, der um der Opfer willen nichts schön redet, der die Toten achtet und die Lebenden mahnt. Der meinen Lohn kennt und ihn auszahlt. Der mein Leben vom Verderben erlöst und mich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit. Der mich aufrichtet, weil sein Kreuz aufgerichtet ist.

So stehen wir an den Gräbern und Denkmalen gerichteter Leben. Ihre Kreuze mahnen von Trauer und Schuld. Sein Kreuz mahnt vor Unachtsamkeit. Und am Ende der Zeiten werde ich vor Gott stehen und ich werde sein Kreuz sehen.

Amen.

(*) Kurt Marti, Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde, S. 58.

Eva Losert
elosert@uni-kassel.de


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