Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Oktober 2005
Ansprache anlässlich einer Beerdigung über Lukas 22, 39 – 43
Enno Junge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Angehörige und werte Trauergemeinde!

Es gibt Tage, an denen es nicht hell wird, auch wenn draußen die Sonne aus allen Knopflöchern scheint.

Es gibt Tage, da wird man dieses dumpfe Gefühl nicht los, jenes Gefühl, das man gar nicht näher benennen kann, das aber da ist und sich auch körperlich bemerkbar macht.

In Strecken der Trauer ist es gut, wenn Sie es zulassen können, dass das Leben eben nicht so weitergeht, sondern, dass Sie sich alle, die Sie zum engsten Familienkreis gehören – und die anderen natürlich auch, aufhören zu funktionieren: einfach bei sich sind, bei Ihren Gefühlen, bei Ihren Tränen und bei Ihrer Hoffnungslosigkeit.

Dann, in solchen Augenblicken darf man sich ruhig selber sagen: Nichts ist gut und wahrscheinlich wird es erst einmal auch nicht besser, denn das Liebste, was wir hatten, ist uns genommen.

Wie kann man da noch funktionieren und wie um alles in der Welt, kann man dann so tun, als wenn gar nichts passiert wäre?

Die Trauer und der Abschied ist eine der größten Herausforderungen in unserem Leben. Und ich würde das nicht sagen, wenn ich nicht selber aus eigener Erfahrung wüsste, wie bitter das ist und wie einsam man sich dabei fühlt.

In den Augenblicken, die bei mir nun Jahre zurück liegen, habe ich wahrgenommen, wie bitter Galle schmeckt und wie salzig die Tränen waren, die ich geweint habe.

Was bei mir Jahre her ist, ist bei Ihnen noch sehr frisch und ist eben Gegenwart.

Ich bitte Sie alle: Nutzen Sie diese Zeit der Trauer, um bei sich selber anzukommen und wenn es denn geht, bei den echten und wahren Gefühlen, die tief in Ihnen schlummern müssen.

N.N. – mit diesem Namen sind Erlebnisse, Verhältnisse und  Gefühle verbunden.

Geboren wurde er am ..... in N.N.

Sie, liebe N.N., könnten über N.N. sehr viel aus Ihrer Sicht erzählen.

Sie haben ihn auf diese Welt gebracht und aufgezogen und haben mit erlebt, wie er seinen Weg ging.

Heute haben Sie den schwersten Weg vor sich, der einer Mutter in ihrem Leben zugemutet wird: Sie müssen Ihren Sohn, den einzigen, den Sie geliebt und immer noch lieb haben, los lassen und zu Grabe bringen.

Das ist schwer und es ist bitter, das weiß ich wohl, aber seien Sie versichert, Sie werden auf diesem Weg und in der Zeit danach nicht alleine gelassen werden, denn Gott sieht Ihre Trauer und vernimmt jeden Schluchzer, den Ihre Seele tut.

Gott, der für viele Schattenseiten unseres Lebens mitverantwortlich ist, wird sich nicht aus der Affäre ziehen, sondern wird sich als der Gott des Leidens und des Mitleidens zeigen.

N.N. absolvierte nach der Schulzeit eine KFZ-Mechanikerlehre, denn eine seiner großen Lieben und Leidenschaften waren Autos, eine andere Liebe waren Modellbau und wieder eine andere war der unermessliche Drang nach Freiheit und in dem Punkt ist es wie es ist: Freiheit wird geographisch immer noch mit Amerika gleichgesetzt, dem sogenannten „Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“ Wir werden später noch darauf zurückzukommen haben.

Während und nach der Bundeswehrzeit kam die Phase der Weiterbildung und so avancierte der Mechaniker zum Meister, dann zum Techniker und nach dem Absolvieren eines weiteren Studienganges zum technischen Betriebsleiter. In den letzten drei Jahren war er als tüchtiger, angesehener und allzeit fleißiger Kundendienst – Ingenieur bei Conti beschäftigt.

Auch dort hinterlässt er eine Lücke, die nicht geschlossen wird. 

Alles ist im Fluss, so heißt es bei Heraklit  – nun, auch für das Leben und für die Liebe im Leben  von N.N. gilt dieser Satz:

Bereits im Alter von 14 Jahren hat er Ihnen, liebe N.N., einen ersten Heiratsantrag gemacht. Nun kann man hergehen und sagen: Das ist pubertierend, aber es hat sich letztlich doch als Wahrheit verdichtet und ist das geworden, was er sich und Sie sich gewünscht haben.

Mir steht es nicht zu, darüber etwas zu sagen, zu urteilen schon gar nicht, aber ich finde es dennoch bemerkenswert, dass sie sich 30 Jahre später in Palm Springs in Kalifornien  das Ja-Wort gegeben haben. Sowohl N.N. als auch Sie haben vor diesem Zeitpunkt der Eheschließung Erfahrungen gemacht im Zusammenleben mit einem anderen Menschen: Sie mit N.N., mit ihm waren Sie verheiratet und haben zwei gemeinsame Söhne und auch für N.N. war es, nachdem er 18 Jahre mit N.N. zusammen war, eine neue und andere Erfahrung.

Ihr beide, N.N. und N.N. hattet zu N.N. ein gutes Verhältnis und immer wieder muss man bei solchen Betrachtungen sich vor Augen führen, wie es denn gewesen ist: N.N. hat Euch nicht gezeugt, aber wichtig ist sicherlich, dass er Euch bezeugt hat, nämlich als die Seinen.

Behaltet ihm ein angemessen gutes Andenken.

Liebe Trauergemeinde, vom Zufall gilt der Satz, dass es ihn nicht gibt und das können wir auch ruhig auf das Leben von N.N.  anwenden, denn es wurden Weichen gestellt, die dem lebenslangen Wunsch nach einer Ehe mit „seiner Prinzessin“ in Erfüllung brachten.

Ich kann mir nicht helfen, mich hat das alles sehr an das Buch „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak erinnert, dass da zwei nicht zusammen kommen konnten, aber am Ende war es doch so, dass der Doktor seine Lara hatte und Lara ihren Juri Andréitsch. Indessen: Auch  das Verhältnis bei Schiwago sollte nicht übermäßig lange dauern, aber das ist dann auch nicht maßgeblich, maßgeblich sind kurze oder längere Zeiten intensiven Glücks. 

Aus Ihren Schilderungen, liebe N.N., weiß ich, und aus der Trauerkarte habe ich herausgelesen, dass es Ihnen darauf ankam, dass es Leben gab in den Jahren, die Sie gemeinsam hatten. Und  Leben gab es jede Menge, wenn ich das so sagen darf. Und dennoch – auch das dürfen wir uns ruhig sagen lassen – es gab eben auch diesen verzweifelten Versuch, Leben zu erhalten, die Krankheit zu besiegen und die Hoffnung nicht zu verlieren.

All das ist eben auch Leben und Sie alle haben heute keine andere Wahl als sich selber einzugestehen: Der Kampf ist verloren, die Hoffnung ist am Ende eben doch vergeblich gewesen.

N.N. starb zu früh, viel zu früh und wenn ein Mensch mitten aus dem Leben wegstirbt, dann kann das nur Trauer und Entsetzen zur Folge haben.

Wie, so frage ich Sie, wollen Sie damit klarkommen? Wie sollen Worte gefunden werden, Worte, die tragen und helfen?

Ich lade Sie ein, mit mir zusammen einen für Sie vielleicht seltsamen und fremden Weg zu beschreiten, nämlich, einige Worte aus der Heiligen Schrift zu bedenken. Es geht um Lukas 22, 39 – 43. Dort heißt es:

39 Und Jesus ging nach seiner Gewohnheit hinaus an den Ölberg. Es folgten ihm aber auch die Jünger.
41 Und er riss sich von ihnen los, etwa einen Steinwurf weit, und kniete nieder, betete
42 und sprach: Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!
43 Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.

Liebe Angehörige, werte Trauergemeinde, es fällt uns heute allen schwer, überhaupt Worte zu finden. Zu diesem Abschied, den wir heute hier zelebrieren, sind wir in Wahrheit noch nicht bereit.

Das Herz und auch die Seele kann gar nicht so schnell nachkommen, weil es eben auch keine kausalen Erklärungszusammenhänge gibt. N.N. war krank, er hatte einen Tumor, denn sonst schlimmstenfalls nur Kinder in sich tragen.

Dieser Tod stürzt Sie alle in tiefe Traurigkeit. Und wir verschweigen als christliche Gemeinde, als die wir in dieser Stunde versammelt sind, nicht, dass uns dieser Tod über unseren Schmerz hinaus schwere Zweifel an Gottes gutem und gerechten Willen mit uns aufgibt.

Dass sich unsere Herzen und unsere Gedanken nur zögernd und schmerzerfüllt zu diesem Gott vortasten. War nicht der Tod von N.N. so etwas wie ein letztes Wort nicht nur zu Ihrer Zukunft, liebe Angehörige, sondern auch zu unserem Glauben und Zutrauen zu Gott im Himmel?

Wird von diesem Gott nicht immer gesagt, dass er unser Leben gibt und gnädig erhält?

Die Verse, die ich für diese Stunde ausgewählt habe, spiegeln eben diese schweren Gedanken wieder. Sie erzählen von keinem geringeren als Jesus Christus. Sie erzählen davon, wie sich sein Herz und seine Gedanken nur zögernd und schmerzerfüllt vortasten zu Gott im Himmel. Wie sie mit IHM ringen angesichts des kommenden, unverdienten, qualvollen Todes am Kreuz im Alter von nur 33 Jahren.

Der bittere Kelch dieses Todes ist nicht an Jesus vorübergegangen. Der Himmel scheint verschlossen über ihm. Gott scheint seine Hand und seinen Schutzengel abgezogen, ja gegen ihn gewendet zu haben.

Genau das sind die Gedanken, deren wir uns am Sarg von N.N. nicht erwehren können.

Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn! Ich sehe: Auch der Garten Gethsemane ist kein gottverlassener Ort, ebenso wenig wie der Ort, an dem das Krankenbett von N.N. stand. Und auch am 6. Juli gab es keinen gottverlassenen Moment in den letzten Stunden dieses Lebens. Mir wird an der Geschichte Jesu, wie auch an der Krankheitsgeschichte von N.N. deutlich: Gott führt in den Tod hinein und aus dem Tod heraus. Er führt Jesus Christus durch das finstere Tal und herrlich hinaus in die Weite und Fülle seines Lebens.

Und weil Gott sich treu ist, dürfen wir das auch für N.N. glauben: Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.

Aber Sie sind zurückgeblieben, mit all der Zeit, die Sie mit N.N. gelebt und gearbeitet haben. Und wie vieles war da für die Zukunft noch geplant und angelegt! Alles ist so sinnlos geworden. Sinnlos die Gegenstände, die er benutzt hat, sinnlos die Kleidung, die er getragen hat. Alles Stücke von seinem Leben und von Ihrem Leben. Sie anzuschauen tut so verdammt weh!

Ich muss an den Jünger Jesu denken, die unter dem Kreuz stehen, an dem der Mann hängt, mit dem sie so lange gelebt und gearbeitet haben, schmerzvoll versunken in die Betrachtung der zerschlagenen Stücke seines Lebens und der zerschlagenen Stücke ihres eigenen Lebens.

Alles sinnlos geworden, alles vergebens.

Es gibt keine heilmachende Brücke der Einsicht vom Karfreitag nach Ostern hin. Es gibt keine Brücke der Einsicht, die vom Schmerz über einen so früh weggenommenen Menschen zu neuem Vertrauen auf Gott und zu neuem Blick in die Zukunft führt.

Auch die Jünger hätten diesen Weg niemals gefunden, wenn nicht der auferstandene Jesus in ihre Mitte getreten wäre um ihnen Frieden zu schenken.

Deshalb , und das ist jetzt ganz wichtig zu hören, will der Auferstandene selbst jetzt in unsere Mitte treten, in unseren Kreis von zu Tode betrübten.

Deshalb will der Auferstandene in der Zeit der Trauer immer wieder an Ihre Seite treten. Denn er allein hat die Macht, die Fesseln zu lösen, die der Tod von N.N. auf Ihr Leben und Ihre Zukunft gelegt hat.

Gott weckt nicht nur Tote auf. Er weckt auch zu Tode Betrübte auf.

Er erweckt sie zu neuer Hoffnung auf seinen trotz allem gnädigen Willen und schenkt ihnen neue Kraft für die Zukunft.

Unsere Herzen und Gedanken, die in dieser Stunde nur zögernd zu Gott im Himmel tasten, gehen nicht ins Leere.

An den auferstandenen Christus können wir uns halten. Er ist das Zeichen, dass Gott kein Leben ins Leere gehen lässt, auch dann nicht, wenn es so unverdient und unfassbar zu Ende geht.

Deshalb werden Sie sich an N.N.erinnern. Deshalb ist all das, was er für Sie und andere getan hat, nicht sinnlos geworden.

Sie erinnern sich am besten an ihn, indem Sie all das Gute, das Sie ihm verdanken, nun mit Ihren Herzen und Händen weitertragen: Helfen, wo andere hilflos sind; hoffen, wo andere keine Hoffnung mehr sehen; Lebensfreude wecken, wo sie schon längst abgeschrieben ist. So will es der Gott, dessen Wege mit uns selbst im Tod noch lange nicht am Ende sind.

Diese Kraft Gottes wünsche ich Ihnen allen, und das Vertrauen darauf, dass gerade dann, wenn das Schreckliche unser Leben trifft und uns das Herz zu brechen droht, dass gerade dann Gottes Engel um uns stehen.

Amen.

Pastor Enno Junge
Fuhrberg
ennojunge@online.de

 

 

 


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