Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 20. November 2005
Predigt über Matthäus 25, 31-46, verfasst von Anders Gadegaard (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Text der dänischen Perikopenordnung)

Der Multikünstler Jens Galschiött – ihr kennt ihn, das ist der mit den gewaltigen und provozierenden Installationen – ist der Auffassung, die Welt sei durch zunehmende Verrohung und Polarisierung gekennzeichnet. Das möchte er mit seiner Kunst zeigen. Fragt man ihn, ob er glaubt, dass er mit seiner Kunst Gesinnungen ändern könne, antwortet er überraschend mit einem Nein. Er glaubt nicht daran, dass die Welt und die Menschen besser werden. Er glaubt eher an Ragnarök. „Aber in der Zwischenzeit,“ sagt er, „während wir warten, kann ich es trotzdem nicht lassen, für das Bessere zu kämpfen – um mich selbst und das Ganze auszuhalten.“

Fast ebenso dachte Jesus von Nazareth. Die letzte große Rede, die Jesus nach Matthäus zufolge hält, findet ein paar Tage vor dem Osterfest statt, an dem Jesus gefangen genommen und hingerichtet wird. Die Rede handelt faktisch von „Ragnarök“, den letzten Tagen. Zuerst malt er die grauenvollen Ereignisse der letzten Tage aus. Und danach erzählt er drei Gleichnisse darüber, welche Konsequenzen es hat, wenn wir jetzt wissen, dass die letzten Tage einmal kommen werden.

Das erste Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen endet mit der Aufforderung: Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde. Und die beiden folgenden antworten dann auf die ganz natürliche Frage: Wie kann ich dafür sorgen, dass ich vorbereitet auf die letzten Tage lebe? Das eine Gleichnis, das von den anvertrauten Zentnern (Talenten), antwortet: Vergeude nicht deine Zeit, nutze deine Möglichkeiten effektiv und engagiert! – Genau so begründet Galschiött seine Kunst. Und das letzte Gleichnis, der Schluss der ganzen Rede, ja des ganzen Evangeliums vor dem Osterbericht, tut nun den letzten Schritt und antwortet auf die Frage, wie man es anstellt, seine Zeit nicht zu vergeuden, er gibt sechs Regeln: man soll dem Hungrigen zu essen geben, dem Durstigen Wasser, man soll sich des Fremden annehmen, dem Nackten Kleider geben, nach dem Kranken sehen und den Gefangenen besuchen. Ja, so ernst ist es, dass das Gottesverhältnis selbst auf dem Spiele steht: „Alles, was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

So einfach ist das, die christliche Ethik ist hier in wenigen Zeilen wiedergegeben. Niemand soll kommen und sagen, er könnte sich da nicht zurechtfinden.

- Und trotzdem ist hier mehr als reichlich für einen jeden von uns:

Denen zu helfen, die nichts zu essen, zu trinken, anzuziehen haben – hier geht es wohl um ein Drittel der Weltbevölkerung. Und dennoch wäre es durchaus möglich, wenn nur der Wille dazu da wäre. Wenn wir z.B. den zwanzig ärmsten Ländern dieselben Schutzzölle zugeständen, aus denen wir selbst Vorteil zogen, als unser Wohlstand sich entwickelte, wenn wir bereit wären, für die Rohstoffe der ärmsten Länder ordentlich zu bezahlen, etwa für Baumwolle, Reis, Kaffee, dann würde alles ganz anders aussehen. Stattdessen diskutieren wir, ob wir 0,7 % oder 1 % unseres totalen Nationalproduktes für die Entwicklungshilfe verwenden sollen – und landen wahrhaftig bei der kleinsten Zahl.

- Aber er sagte: Du sollst dem Hungrigen zu essen geben, dem Durstigen zu trinken und dem Nackten Kleidung.

Sich des Fremden anzunehmen, ist plötzlich hochaktuell geworden, auch für uns. – Es ist mir ein völliges Rätsel, dass die bloße Tatsache, dass wir 3 bis 4 % südlich aussehende Fremde haben, die Gemüter so sehr in Anspruch nehmen und erregen kann, dass viele das als unser größtes politisches Problem betrachten. Was sollten wir denn machen, wenn wir keinerlei Inspiration von Seiten anderer Kulturen bekämen? Dann würde unser kulturelles und gesellschaftliches Leben erst im Ernst erstarren und zu Stein werden. Stattdessen tun wir alles, um Fremde mit Hilfe verschnörkelter Regeln von unserem Land fernzuhalten.

- Aber er sagte: Du sollst dich des Fremden annehmen.

Es ist doch so wenig und so leicht, nach dem Kranken zu sehen und den Gefangenen zu besuchen. Das ist leicht – und das ist noch keine große Hilfe. Und doch macht es einen gewaltigen Unterschied, ob man jemanden hat, der sich um einen kümmert, wenn man krank ist oder im Gefängnis sitzt. Wir wissen es sehr wohl – und doch sehen wir nicht nach denen, die wir kennen, wenn sie in einer solchen Situation sind – oft sind es Alte, die allein zu Hause oder in einem Heim sitzen müssen. Wo doch ein Besuch zweimal die Woche – oder besser: einmal am Tag, jedes Mal zur selben Zeit, so dass der Kranke oder einsame Alte sich freuen kann – so viel bedeuten könnte.

– Aber er sagte: Du sollst nach dem Kranken sehen und den Gefangenen besuchen.

Hier liegt in den sechs kurzen Regeln mehr als genug für ein ganzes Leben. Und doch ist es, wie gesagt, so leicht, dass selbst ein Kind es tun kann. – Oder richtiger: Gerade ein Kind kann es! Oft sind es ja gerade die Kinder, die dafür sorgen, dass die Familie den Kontakt mit dem einsamen Alten oder dem Gefangenen aufrecht erhält. Der Ehepartner und die Familie schauen gewiss in den ersten Monaten ab und an herein, aber dann… Die Kinder aber, sie wollen zu ihrem Vater, sie sehnen sich nach ihm, sie schreiben ihn wegen seiner begangenen Fehler nicht ab.

Und die Kinder tun das in der Regel nicht aus Pflicht oder Berechnung – sondern allein aus Lust und Liebe. – „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder als Fremden gesehen, wann bist du krank gewesen, und wir sind zu dir gekommen?” fragten die Gerechten. Sie wussten nicht, dass sie das Richtige getan hatten – sie hatten es einfach nur getan. Ganz selbstverständlich.

Aber die Ungerechten sagten: „Herr, wir hätten dir gern zu essen oder zu trinken gegeben, wir hätten es wahrlich von Herzen gern getan, wenn wir geahnt hätten, dass du als Fremder unter uns weiltest – hätten wir nur gewusst, dass von dir die Rede war!” Also: wären sie sich im Klaren gewesen, wieviel sie für sich selbst hätten erreichen können, dann hätten sie es gewiss getan. Aber genau darin zeigt sich die Ungerechtigkeit.

Obwohl die sechs kurzen Liebesregeln mit anderen Worten gewiss so leicht und einfach sein mögen – so gibt es doch keinen einzigen unter uns, der nur annähernd nach ihnen lebte. Wir müssen mit Scham gestehen, dass wir alle zu den Böcken gehören, zu den Ungerechten.

Ja, aber wie können wir den Gedanken aushalten, Rechenschaft von unserem Leben ablegen zu sollen, wenn wir unvermeidlich zu denen gehören werden, die ewiger Strafe und Verbannung zusammen mit dem Teufel und seinen Engeln verfallen sind??

Sage also zuerst zu dir selbst: „Das ist doch nicht allzuviel, was da von mir verlangt wurde, sechs kleine Liebestaten, die selbst ein Kind tun kann. Da gilt es wohl nur zur Tat zu schreiten.“ – Oder wie Galschiött sagt: „Lass mich doch für das Bessere kämpfen, dass ich mich selbst und das Ganze aushalten kann.“ Dann hast du genau das getan, worum es in dem Gleichnis geht: dich dazu zu bringen, nach den Aussagen zu leben, wie man am besten die Zeit vor dem Ende aller Zeiten nicht vergeudet.

Und sage dann zu dir selbst: „Bin ich so arm, dass ich weit davon entfernt bin, dass ich diese sechs kurzen Regeln erfüllt habe – ja, dann bin ich ja nicht im geringsten von denjenigen verschieden, für die ich etwas zu tun aufgefordert bin, von den Armen, den Einsamen, von denen, die sich nach menschlicher Wärme und Nähe sehnen.“ Und zu ihnen, zu uns, sagte Jesus auch: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Matth. 5,3). Das ist die Grundlage dafür, Ragnarök erwarten zu können und den Mut dazu zu haben – dass wir auf eine Kraft vertrauen, die größer ist. Wir haben eine Hoffnung, dass hinter und mitten in der Macht der Vernichtung – jetzt und künftig – die gute Macht wohnt, die Macht der Liebe, die jeden Schritt, den wir tun, sinnvoll macht. – Er sagte auch: „Wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgegangen” (Johs. 5,24).

Auf diese Weise ist die Zwischenzeit, die Gegenwart, bereits jetzt zum Paradies geworden. Denn gewiss sind wir gerichtet, aber wir können dennoch mit dem Urteil leben, das von uns genommen ist, trotzdem anerkannt aus Barmherzigkeit, mit der Freiheit, nunmehr zu leben für die Freude und die Liebe. Denn in der Zwischenzeit hat Jesus mit seinem Opfer das Leben um unseretwillen wieder aufgerichtet, so dass wir miteinander leben können, wie wenn es die Endzeit wäre, wie wenn das Reich Gottes überall eine Realität wäre. So ist die Möglichkeit geschaffen, dass wir leben können. In der Zwischenzeit. In Glauben, Hoffnung und Liebe. Im Glauben daran, dass alles schon erfüllt ist, im Verborgenen, aber wahr, so dass wir nichts zu fürchten haben. In der Hoffnung, dass das Leben einst überall und für jeden voller Freude sein wird. Und in der Liebe zu Gott und zu meinem Nächsten, was zwei Seiten derselben Sache sind, und was seine Wurzel und Möglichkeit in Gottes ewiger Liebe zu mir hat, denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde (Johs. 3,16-17). Amen

Dompropst Anders Gadegaard
Fiolstræde 8,1
DK-1171 København K
Tel.: +45 33 14 85 65
E-mail: abg@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 

 


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