Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 20. November 2005
Predigt über Daniel 12, 1b-3, verfasst von Margot Runge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Michael, der Seelenwäger

Liebe Gemeinde,

sehen Sie links oben sehen die Reste des Wandgemäldes? Es ist ein Engel im wallenden Gewand. Doch er ist anders als die Engel auf Weihnachtsbildern dargestellt, auf unserer Kanzel oder an der Orgel. Er trägt eine Waage in der Hand und ein Schwert ist zu sehen. Er ist nicht lieblich, sondern zeigt ein anderes Gesicht. Es ist Michael, der Erzengel, oder auch Michael, der Seelenwäger. Waage und Schwert sind meist das Attribut der Gerechtigkeit, die nicht nach dem Ansehen urteilt. Hier, bei Michael, erinnert es an den Tod.
Der Tod kann das Leben zerschneiden, kann grausam sein wie ein Schwert und unerbittlich. Er stellt alles in Frage.

Besonders wer plötzlich einen Menschen verloren hat, weiß, wie das ist: wenn der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Ein Unfall, eine Krankheit, fast aus heiterem Himmel. Und dann ist von einem Tag auf den anderen nichts mehr so, wie es war.

Oder da sind die, auf die der Tod schon lang vorher seinen Schatten wirft, Alter oder Krankheit nach ihnen greifen lässt, sie von Monat zu Monat, Woche zu Woche immer weniger werden lässt. Wir stehen daneben und sehen Mutter, Vater, Bruder, Schwester dahinschwinden, wissen oder ahnen zumindest, aber wir können es nicht aufhalten.
Da sind die, die sterben müssen und doch nicht sterben können, die sich wehren gegen das Unaufhaltsame, kämpfen und aufbegehren.

Oder die, die gerne gehen möchten und deren Zeit noch nicht gekommen ist, die, die lebenssatt Abschied nehmen möchten, oder die, die ihr Maß an Leid nicht mehr tragen können, und auf Erlösung warten.

Der Tod hat viele Gesichter. Er nimmt die einen mit und lässt die Lebenden zurück. Was einmal war – es ist vorbei. Es schmerzt uns, wenn es zu spät ist für ein liebes Wort. Wir können nichts nachholen, nichts gutmachen, nichts klarstellen. Wir merken, dass unsere Zeit begrenzt ist. Schwert und Waage. Der Tod schlägt Wunden und macht hilflos.

Das Bild von Michael ist 1665 entstanden Damals wurde die Kirche ausgemalt. das Weinlaub an den Pfeilern entstand und die gemalten Figuren auf den Rippenansätzen. plastisch Die Emporen wurden eingebaut und die Kassettendecke wurde mit vergoldeten Rosetten verziert und ebenfalls ausgemalt.. 2 Maler haben sich die Arbeit geteilt: Johann Andreas Bottschild und Johann Christoph Queck. Vielleicht ist es eine Gemeinschaftsarbeit.

1665 kannten die Menschen die Schrecken des Todes nur zu gut. Der 30jährige Krieg war gerade 20 Jahre vorbei. Jedes dritte Haus stand leer, viele Grundstücke waren wüst. Womit sich der Stadtrat auf seiner Klausurtagung an diesem Wochenende herumschlägt, ist nicht neu. Damals stand die Stadt kurz vor dem Konkurs. In jeder Familie konnten die Überlebenden erzählen von Einquartierungen und Plünderung, Vergewaltigung und Grausamkeit, Raub und Mord. Dazu kam die Pest, die Leute verarmten.

Der Tod griff nach allen und machte alle gleich. Reiche und Arme, Alte und Junge. Daran werden die Menschen wohl gedacht haben, wenn sie den Engel betrachtet haben.

Die Waage der Gerechtigkeit - jedes Leben wird einmal gewogen. Was ein Mensch fühlt, denkt, redet, tut, anstößt, zulässt oder verhindert – es ist von Belang. Im Guten wie im Negativen.

Wer Vater oder Mutter verliert, Geschwister, sogar ein Kind, wird irgendwann überfallen von Sinnlosigkeit und Leere. Der Tod kann sie dazu bringen, sich zurückzuziehen oder sich sogar zu vernachlässigen. Die Waage mag die Leute daran erinnert haben, ihre Tage j e t z t bewusst zu gestalten und dass sie sich auf der Seite des Lebens in die Waagschale werden. Die Waage in der Hand des Engels hat sie angestoßen, dass sie sich nicht dem Sog der Gleichgültigkeit hingeben. Sie hat sie daran erinnert, dass sie im Alltag immer wieder die Worte abwägen und selbst nach Gerechtigkeit suchen.

Was wir fühlen, denken, reden, zulassen, verhindern oder tun – es ist von Belang. Vielleicht war das für die Leute damals sogar tröstlich: Nichts ist verloren, auch nicht das, was sie erlitten oder erduldet haben. Die gute Tat, auch wenn sie nicht vergolten wurde, die Barmherzigkeit, auch wenn sie niemand gesehen oder gewürdigt hat – sie liegen in der Waagschale, wenn einmal Bilanz gezogen wird, Lebensbilanz.

Der Erzengel Michael ist hier als Seelenwäger dargestellt.

Dass am Ende des Lebens gewogen wird, ist ein uraltes Motiv, das bis zu den alten Ägyptern zurückgeht. Später, bei den Griechen, wurde Hermes oft so dargestellt, als Seelengeleiter, Seelenführer. Er kommt zu den Menschen, wenn sie sterben. Er empfängt die Seelen an der Pforte des Todes. Er begleitet sie bis an die Grenzen unserer Welt.

Die Bibel erzählt vom verlorenen Paradies, das den Menschen nun versperrt ist. Uns ist unsere Erinnerung ist manchmal wie ein Paradies. Wir malen uns aus, was gewesen wäre und was noch sein könnte. Die Bibel erzählt, wie die Menschen ihre Unschuld verloren haben und das Paradies verlassen mussten. Ein Engel bewacht den Weg zurück, ein Engel mit dem blitzenden Flammenschwert. Die Science-Fiction-Filme bewahren eine Erinnerung daran. Der Legende nach soll Michael dieser Engel gewesen sein – deshalb wohl trägt er das Schwert.

Aber in der Bibel selbst wird Michael namentlich nur zweimal erwähnt. Beide Male tritt er auf, wenn die Mächte des Bösen die Menschheit bedrohen. Dann kommt er dem Leben zu Hilfe. Wenn wir genau hinschauen, können wir an der Wand rechts unten einen Drachen vermuten, den Michael bekämpft.

Die erste Bibelstelle lese ich Ihnen vor, aus dem ersten Teil der Bibel, dem Danielbuch (Dan 12,1-3).
Zu jener Zeit wird Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk eintritt, sich aufmachen. Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande.

Am Ende der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, kommt Michael wieder vor. Am Ende aller Zeiten ringen Gut und Böse, Gott und das Satanische miteinander. Ein Kind, Symbol des Lebens, wird geboren – und ist sofort bedroht. Auch hier springt Michael ein Er rettet das Neugeborene und behütet es vor dem Wüten der dunklen Mächte. Er kämpft mit dem Drachen und bringt das Kind in Sicherheit.

Hier kommt das andere Gesicht von Michael noch deutlicher zum Vorschein. Er ist der starke Retter. Er behütet und beschützt das Kind, Sinnbild des bedrohten Lebens, das erst noch wächst.

Ein solches Bild von Michael haben wir auch wir in unserer Kirche, vorn in unserem Flügelaltar aus dem 14. Jahrhundert. Es ist die 3.Figur links vom gekreuzigten Jesus.

Michael steht vor goldenem Hintergrund. In seinem Arm trägt er ein kleines Kind. Mit seiner Hand hält er es sicher. Groß und beschützend ist die Hand zu erkennen. Der Drachen, Sinnbild des Bösen, ist noch da. Er windet sich zu seinen Füßen. Aber er kann nichts ausrichten. Das Kind ist in Sicherheit.

Es ist ein Bild des Friedens nach allen Kämpfen zuvor.
Nach Schwert und Waage das Kind, das Lebendige. Nach Krieg, Zerstörung und Kampf Sicherheit und Trost in starken Armen. Nachdem Geschrei und Tränen ausgestanden sind, kehrt Frieden ein.

Manchmal soll das auch bei den Toten so sein. Wenn der Todeskampf ausgestanden ist und alle Schmerz abgefallen sind, können sich die Gesichter von Toten verwandeln. Manche von ihnen liegen so gelöst da, als würden sie friedlich schlafen.

Michael trägt das Kind, die Seele, sicher in seinem Arm, und es muß keine Angst haben.

Unsere Abschiede sind oft so anders, ohne Ruhe, plötzlich und zerrissen. Oft stehen wir wie gelähmt daneben und können nichts mehr tun. Wie tröstlich wäre es, wenn da ein Beistand gewesen wäre, der über das hinausreicht, wozu ein Mensch in der Lage ist. Und unsere Toten würden wie auf Engelshänden gehalten und gewiegt werden.

Michael, der Seelenwäger, der Seelenbegleiter, trägt das verlorene Kind in seinen Armen. Welch schönes Bild!

Fällt es uns leichter, unsere Lieben loszulassen, wenn wir sie in guten Händen geborgen wissen, behütet auch im Tod?

Michael nimmt das Kind und trägt es weg, dorthin, wo wir nicht folgen können. Auch die Toten rücken fort von uns. Wir müssen sie loslassen Die Zeit, nein, sie heilt nicht die Wunden, aber sie legt leise und unmerklich den Schleier des Vergessens auf uns. Nach und nach verblasst die Erinnerung. Michael trägt das Kind fort... Wir können es nicht festhalten. Der goldene Glanz, der ihn umgibt, ist kein irdischer. Er weist auf eine andere Welt hin.

Michael ist ein Sinnbild für Gott. Gott selbst nimmt sich unserer Toten an. Gott nimmt sie in den Arm und holt sie heim. Gott vollendet das, was bei uns abgebrochen und Fragment geblieben ist. So wie Michael dem bedrohten Leben zu Hilfe kommt, so will Gott auch uns retten, wenn uns die Angst überfällt. Gott will auch uns in seinen Armen in Sicherheit bringen, uns trösten und an seinem Herzen wiegen.

Chor: Ach Herr, laß dein lieb Engelein... (EG 397,3)

Pfarrerin Margot Runge, Sangerhausen
m.runge@jacobigemeinde-sangerhausen.de


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