Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 13. November 2005
Predigt über Lukas 16, 1-8, verfasst von Walter Meyer-Roscher
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Lernt aus verwehter Spur, sorgt, dass die Wüste nicht wächst“.
Diese Mahnung ist am Portal des deutschen Soldatenfriedhofs in El Alamein in Nordafrika zu lesen.

Wo die Wüste sich ausbreitet, wird menschliches Leben gefährdet. Das ist eine uralte Erfahrung aus der Geschichte der Menschheit. Sie gilt auch in einem übertragenen Sinn von der durch Menschen verursachten Verwüstung mitmenschlichen Zusammenlebens. Hass und Vorurteile, hemmungsloser Egoismus und Gewalt, Brutalität und Tod durch Menschenhand, durch menschliches Versagen und menschliche Schuld lassen eine Wüste wachsen mitten unter uns.

Der Volkstrauertag erinnert uns an die dunkelste Zeit unserer jüngeren Geschichte, als diese Wüste in einer bis dahin unvorstellbar grauenvollen Weise millionenfach menschliches Leben vernichtete und mitmenschliches Zusammenleben zerstörte.

Redet doch nicht mehr davon, sagen heute- 60 Jahre nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs- viele Menschen in unserem Land. Die Toten ruhen, die Trümmer sind längst beseitigt. Wozu immer noch an das Grauen von damals erinnern?

„Ich beneide sie alle, die vergessen können“, hat der Schriftsteller Günter Eich gesagt. „Ich beneide alle, die sich beruhigt schlafen legen. Ich beneide mich selbst um die Augenblicke blinder Zufriedenheit. Im Grunde aber zweifle ich an der Güte des Schlafs, in dem wir uns alle wiegen... Alles, was geschieht, geht dich an“- auch Intoleranz und Hass , die wir heute erleben; Terror, der blindwütig zuschlägt, und Gewalt, die sich mit einer Art von Kreuzzugsmentalität an allen ideologischen Fronten breit macht; Egoismus und Habgier, verweigerte Solidarität mit Schwachen und Benachteiligten. Wo auch immer in unserer globalisierten Welt das geschieht, geht es uns an.

So macht die Mahnung schon Sinn: Lernt aus verwehter Spur, sorgt, dass die Wüste nicht wächst. Verschweigt nicht die Erinnerung an die ohnmächtigen Opfer, an verratene Menschlichkeit, an menschliches Versagen und menschliche Schuld. Gedenken macht Sinn, wenn aus der Erinnerung Wissen erwächst, wenn das Vergangene heute unser Gewissen schärft. Vergesst nicht die bittere Erkenntnis, dass damals die Macht der Gewalt begann, als die Menschen ihrer Faszination erlagen, als wir einer menschenverachtenden Ideologie vom Recht des Stärkeren, vom Misstrauen gegen alles Fremde, von der angeblichen Minderwertigkeit der Schwachen Macht über uns gaben.

Darum lernt aus verwehter Spur, sorgt, dass die Wüste von Vorurteilen und Hass nicht wächst. Sorgt, dass die Wüste, in der blanker Egoismus triumphiert, Schwache an die Seite gedrängt, Versager übergangen und Fremde ausgestoßen werden, sich nicht unter uns ausbreitet. Bedenkt auch, dass wir für alles Unterlassen und alles Tun zur Rechenschaft gezogen werden.

Dieser Augenblick kann sehr plötzlich kommen. Davon spricht Jesus in dem Gleichnis, das am diesjährigen Volkstrauertag der vorgegebene Predigttext ist.

Da ist ein Verwalter, der mit dem ihm anvertrauten Besitz sorglos, fahrlässig und offenbar auch eigennützig umgeht. „Veruntreuung“ lautet der Vorwurf. Wir kennen das und wissen auch, wie darauf zu reagieren ist: Einbestellung, Anhörung, Kündigung, erzwungene Wiedergutmachung, aber auch gleichzeitig eine der Schwere der Verfehlungen angemessene Bestrafung. Was ist daran so außergewöhnlich?

Wir erleben dann die ewigen Selbstrechtfertigungsversuche; die schamlosen Behauptungen, das täten doch viele andere auch; den verschleierten Rückzug aus der Verantwortung. Hier aber ist es anders. Das Selbstgespräch des Beschuldigten ist eindeutig, seine Selbsterkenntnis ist bestechend. Einfache, harte Arbeit ist nicht seine Sache. Auch auf Almosen will er nicht angewiesen sein. Dieser Mann schätzt seine Situation nüchtern ein, und er ist ehrlich mit sich selbst. Das ist schon außergewöhnlich.

Er muss in letzter Stunde etwas tun, um die eigene Existenz zu retten und Vorsorge für eine unsichere, wahrscheinlich schon verbaute Zukunft zu treffen. So macht er sich – wieder auf Kosten des Besitzers – lieb Kind bei anderen, hofft auf eine Kumpanei aller, die dem Besitzer verpflichtet und dankbar für eine Minderung ihrer Verpflichtungen sind. Diese Dankbarkeit hofft er auf sich zu ziehen.

Am Ende lobt ihn der Besitzer, sagt Jesus. Ich frage mich, wie ich mit solch einem unerwarteten und unerhörten Lob umgehen soll. Was dieser Verwalter getan hat, muss man doch verantwortungslos nennen. Wenn alle so handeln, dann wächst die Verwüstung von Moral und Anstand, von Tugenden, ohne die menschliches Zusammenleben nicht gelingen kann. Dann finden wir uns in einer wachsenden Wüste der Abzockerei und eines primitiven Egoismus wieder.

Sorgt, dass die Wüste nicht wächst. Setzt der Verwüstung mitmenschlichen Zusammenlebens Grenzen. Ja, aber das muss doch schon da anfangen, wo Menschen sich und anderen unbefugtermaßen erlassen, was sie denen schuldig sind, die ihnen Verantwortung übertragen haben. Dann muss es schon da beginnen, wo unterlassenes oder schuldhaft verfehltes Handeln auf billige Gnade hofft.

Das tun die Gauner. So habe ich es von Albert Camus gelernt, der einmal gesagt hat, die Gnade, die die Gauner wollten, sei die Unverantwortlichkeit. Diesen Weg der Gaunerei dürfen wir doch nicht mitgehen. Er kann nur in die Wüste führen, und wir haben schließlich erlebt, wie entsetzlich schnell und wie barbarisch die Wüste wachsen kann, wenn man nicht schon den Anfängen wehrt.

Darum kann ich das Lob, das Jesus in seinem Gleichnis als ein Lob des Herrn und Besitzers gewissermaßen weitergibt, nicht auf das Handeln dieses Gauners von Verwalter beziehen, sondern nur auf seine kluge Erkenntnis der Situation und auf seine ungeschminkte Selbsterkenntnis.

Das wäre von ihm zu lernen: Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir alle zur Verantwortung gezogen werden und Rechenschaft ablegen müssen über das, was wir getan und was wir auch unterlassen haben. Da ist ein Herr, der uns sein Vermögen anvertraut hat: Das Gut des Lebens, die Güter der Schöpfung, gute Gaben Gottes. Wir sollen sie bewahren und verantwortlich nutzen, nicht egoistisch verschleudern und nicht gedankenlos zerstören. Wir sind Gott Rechenschaft schuldig. Diese Einsicht verbietet es, einfach wieder zur gewohnten Tagesordnung überzugehen.

Darauf sich einzustellen und diese Einsicht nicht immer weiter vor sich her zu schieben, nennt Jesus klug. Den Ernst der Lage zu begreifen, eine ehrliche Bestandsaufnahme vorzunehmen und entschlossen die fälligen Konsequenzen zu ziehen, mahnt dieses Gleichnis an.

Der Volkstrauertag ist da schon eine Gelegenheit, uns unseren Umgang mit dem Gut des Lebens und den Gütern der Schöpfung bewusst zu machen. Zu einer ehrlichen Bilanz gehört die Erinnerung an das millionenfache Leid, an Versagen und Schuld vor 60 Jahren. Diese Erinnerung soll heute unser Gewissen schärfen. Wir müssen sie an kommende Generationen weitergeben. Zu einer ehrlichen Bilanz gehört aber auch die Erkenntnis von Versagen und Schuld heute – überall da, wo die Wüste von Egoismus und Habgier, von Intoleranz und Hass, von Gewalt und Brutalität sich auch in unserem Zusammenleben ausbreitet.

Wir können nicht einfach wegsehen. Wir können uns auch nicht einfach aus der Verantwortung stehlen. Die einzig mögliche und auch notwendige Konsequenz ist die Bereitschaft, aus verwehter Spur endlich zu lernen und mit allen Kräften der Verwüstung von Leben und mitmenschlichem Zusammenleben Grenzen zu setzen.

Wie wird der Herr, der uns das Gut des Lebens und die Güter der Schöpfung anvertraut hat, reagieren? Jesus erzählt sein Gleichnis vor dem Hintergrund der Gottesherrschaft, die er anbrechen sieht. Er redet nicht von einem fernen Gott im Jenseits – unnahbar, unbeeindruckt von unserem Ergehen und unserem Erleiden. Er redet von einem Gott, dessen Herrschaft unausweichlich ist. Die Gauner mögen das als Bedrohung hören, aber Jesus meint einen Gott, der uns nahe kommt und der uns seine Nähe spüren lassen will wie ein Vater, der sich um seine Kinder sorgt.

Er will nicht, dass sie sich in selbst geschaffenen Wüsten verirren und verrennen. Er will ihnen einen zukunftsfähigen Weg aus den Verwüstungen ihres Lebens und ihres Zusammenlebens weisen. Eines unserer Gesangbuchlieder (EG 604) bringt es so zu Ausdruck:

Wo ein Mensch Vertrauen gibt, nicht nur an sich selber denkt,
Wo ein Mensch den andern sieht, nicht nur sich und seine Welt,
Wo ein Mensch sich selbst verschenkt und den alten Weg verlässt,
Fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.

Darum lernt aus verwehter Spur, sorgt, dass die Wüste nicht wächst.

Amen

Walter Meyer-Roscher, Landessuperintendent i.R.
meyro-hi@arcor.de

 


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