Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 13. November 2005
Predigt über Lukas 16, 1-8, verfasst von Bernd Vogel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Volkstrauertag. 60 Jahre nach Kriegsende trauern nur noch wenige Menschen, die damals einen Sohn, eine Tochter, einen Vater, eine Mutter, Bruder oder Schwester verloren im Kriegseinsatz, im Bombenhagel, bei Flucht und Vertreibung. Die letzten Zeitzeugen sterben.

Die Generationen der Kriegskinder und die der Enkel trauern anders. Nicht so sehr an den Mahnmalen, den „Ehrenmalen“ in unseren Dörfern und Städten. Eher verborgen im Alltagsleben. Unter Masken, die kaum jemand als Verhüllungen von Trauer oder Scham erkennt. Wir sind nicht gewohnt, miteinander darüber zu sprechen. Wir haben den Blick nicht geübt, um wahrzunehmen: Was verbirgst du eigentlich hinter deiner angestrengten Lebensart? Was möchtest du eigentlich erreichen mit deinen Erfolgsbilanzen? Was treibt dich eigentlich wirklich bei deiner politischen Rechthaberei?

Im nahen Osten in Israel und Palästina, auf dem Balkan, aktuell in Frankreichs Großstädten, auch in Wien und in Lateinamerika – überall auf der Erde zeigt sich, dass Menschen und ihre Völker über Jahrzehnte, Generationen, Jahrhunderte nicht „vergessen“, wer wem was an Leidvollem angetan hat.

In Israel leiden viele noch an dem Verlust der Souveränität und Staatlichkeit vor 2000 Jahren sowie – natürlich – an dem Horror der Progrome gegen Juden durch die ganze Geschichte mit ihrem unaussprechlichen Höhepunkt in Auschwitz.

In Palästina leiden Menschen unter dem Trauma, dass die Weltgemeinschaft es zuließ, dass ihre staatliche Souveränität geopfert wurde , um den Juden nach allem, was geschehen war, ihr Land zurückzugeben.

Auf dem Balkan fühlen und denken Menschen der unterschiedlichen Völker und Glaubensrichtungen noch heute, was die Schlacht auf dem Amselfeld für sie alle bedeutet hat.

In Frankreich wird jetzt nicht nur die verfehlte Politik der aktuellen Regierung in Bezug auf die Migranten angeprangert, sondern wird mit der französischen Kolonialpolitik der letzten 300 Jahre abgerechnet.

In Wien erinnert man sich bewusst und unbewusst der mehrfachen Belagerung durch das osmanische Großreich und ist vorsichtig gegenüber einem Beitritt der heutigen Türkei zur Europäischen Gemeinschaft.

In Lateinamerika erhebt der Fußballstar Maradonna nicht nur seine Stimme gegen den aktuellen Präsidenten der USA, sondern im Namen der vor 500 Jahren von den „Weißen“ angegriffenen und besiegten Urbevölkerung Südamerikas. Es geht nicht nur um „Freihandelszone – ja oder nein?“, sondern um etwas, das schwerer zu verstehen ist:

Wie können Menschen, Völker zusammen leben, ohne dass einer der Sieger und der andere der Verlierer ist? Wie geht gemeinsames Leben, wenn eine große Schuld- und Schamgeschichte zwischen diesen und jenen liegt?

Um nicht weniger geht es in einer kleinen Geschichte, von der Lukas ausdrücklich berichtet, Jesus habe sie den Jüngern erzählt, den Eingeweihten, denen, die tiefer sehen sollten als Opfer und Täter, als „Sünder“ und „Pharisäer“, als Ohnmächtige und Mächtige. Denen hatte er die wunderbaren Geschichten vorher erzählt: Die Gleichnisse vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme, vom verlorenen Sohn. Der Clou war in unterschiedlicher Zuspitzung gewesen, dass der Gott, von dem Jesus erzählte, niemanden verloren gibt, sondern ihm nachgeht, ihn sucht und ihn in die Arme nimmt. Das war das Wort Jesu an die ganze Welt. An diese und andere. An unterschiedlich Betroffene. Ein Wort, das Mut machen sollte, über gewohnte Sichtweisen hinauszugehen. Worte, die zum Gespräch anregen, zur Umkehr einladen: Sieh das Ganze, sieh den anderen, sieh dich selbst doch einmal anders .. und Hoffnung keimt auf. Hoffnung, dass etwas ganz Großes mitten in dieser Welt geschieht. Der Anbruch des „Reiches Gottes“ nennt Lukas es. „Das Reich Gottes ist mitten unter euch“. Seht nur hin – mit neuen Augen.

Nun aber eine Geschichte für „Jünger“. Jesus mutet einiges zu. Er provoziert noch mehr mit dieser Geschichte. Sie ist unerhört. Hört selbst:

1 Er sprach aber auch zu den Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz.
2 Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein.
3 Der Verwalter sprach bei sich selbst: Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt; graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln.
4 Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde.
5 Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und fragte den ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig?
6 Er sprach: Hundert Eimer Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig.
7 Danach fragte er den zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Er sprach: Hundert Sack Weizen. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig.
8 Und der Herr lobte den ungetreuen Verwalter, weil er klug gehandelt hatte; denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.

Überraschungsbuch Bibel .. von wegen: Moralpredigt. Hier wird nicht nur nicht moralisiert, sondern im Gegenteil einer als Vorbild der christlichen Gemeinde hingestellt, der

  • unfähig in seinem Beruf als Verwalter war, ökonomisch gescheitert, der
  • ein Betrüger wird, einer, der auf Kosten seines Arbeitgebers sich eine auskömmliche Zukunft sichert.

Nicht gelobt wird das Scheitern des Verwalters. Die Folge ist unabwendbar, dass er seinen Posten verliert. Er hat abgewirtschaftet. Er muss als persönliche Folge mit seinem Rauswurf rechnen. Da gibt es keinen Pardon.

Gelobt wird die „Klugheit“, genau genommen die „Vernünftigkeit“ des Gescheiterten. Ökonomisch mag es schlecht sein, die Schulden einfach per Federstrich abzusenken. Und ohne das seinem Chef, dem Eigentümer des Kapitals zu sagen, ist das Ganze auch Betrug. Aber doch ist es unter einer Maßgabe „vernünftig“, so zu handeln:

Gesetzt, dass auch der Eigentümer, der Chef es so wollte, ist es vernünftig, dass sich der gefeuerte Verwalter in seinen letzten Amtshandlungen so verhält, wie er sich verhält: Er ruft die anderen Schuldner seines „Herrn“ zusammen und ermäßigt ihnen ihre Schuld.

Damit sichert er sich ihre Dankbarkeit und sich selbst ein Unterkommen demnächst, wenn er ohne Arbeit und Geld auf der Straße steht.

Hinter dem Eigentümer, dem Chef schimmert bei Jesus Gott selbst durch. Sollte Gott also der sein, der mich zur Rechenschaft zieht, der mir vielleicht Unfähigkeit vorwerfen kann, der mich vielleicht meines Amtes enthebt, und der doch in dem Ganzen nicht wollte, dass ich umkomme, sondern dass das Unternehmen insgesamt gut läuft und auch ich dabei lebe?

Sollte Gott so sein, dass es einerseits vernünftig ökonomisch in der Welt zugehen soll, andererseits jeder Mensch sein Lebensrecht hat und behalten soll?

Was für eine Geschichte ..

In Israel und Palästina .. was wäre das für eine Entwicklung, wenn die Menschen beider Völker sich zusammen setzten und vernünftige Kompromisse aushandelten zwischen Gefühl und Verstand, deinem und meinem Gefühl, euren und unseren Verletzungen, euren und unseren politischen und wirtschaftlichen Interessen?

Was wäre das für ein politischer Durchbruch, wenn zwei Verfeindete einander geregelt zuhören könnten und es aushielten, dass der andere ganz sagen darf, was ihn am anderen stört, was ihn verletzt hat, was vielleicht ein ganzes Leben lang oder noch viele Generationen unvergessen bleiben wird? Und dann würden die zwei sich schnell hinsetzen, die Reden unterbrechen, zur Tat schreiten und „flugs“ auf ihre wechselseitigen Schuldscheine „fünfzig“ oder „achtzig“ drauf schreiben .. wohl wissend, dass der Herr der Geschichte, dass Gott allein die Gesamtrechnung in Händen hat, die wirkliche Last von Schuld und Leid kennt .. wohl dies wissend, dass sie sich ein wenig nun vor der Wahrheit drücken, nicht mehr auf die Schuld schauen, gezielt und kalkuliert wegschauen .. und Schuld ermäßigen, einander vergeben ..

Im Vertrauen, dass Gott den „Trick“ durchschaut hat .. ja, Gott weiß es.. und .. billigt es! Gott will es so.

Politische Vernunft durch Vergebung. Frieden auf dem Balkan, weil Menschen, Völker sich gegenseitig zubilligten, dass die wechselseitige Schuld- und Schamgeschichte in diesem Leben nicht mehr aufzurechnen ist. Dass – wenn es eine „Lösung“ geben soll – es sie nur gibt unter Abbruch der korrekten Rechnereien, unter Aussetzung der mathematischen Vernunft. Was weiterhilft, ist nicht die große und korrekte Abrechnung, ist nicht die endlose Aufzählung der Schuld und der Leiden, sondern die persönliche Begegnung über dem Leiden, das Aushalten der Verwundungen .. und dann der Verzicht auf die Demütigung des Schuldigen.

Der „ungerechte“ Verwalter ist eher der gescheiterte Verwalter. Seine „Ungerechtigkeit“, seine vernünftige Gewitztheit lobt Jesus, weil sie dem Interesse dient, am Leben zu bleiben in würdigen Verhältnissen. Gott will dein und mein würdiges Leben. Gott will nicht, dass wir hier auf Erden mit einander endgültig abrechnen. Gott möchte, dass wir IHM das letzte Urteil abtreten und uns selber nicht anmaßen, über einen anderen letzte Urteile zu fällen. Umgekehrt sollen wir davon ausgehen, dass jeder Mensch leben darf und seine, ihre Würde hat. Von Gott gewollt und geschützt. Egal, wie groß der Schaden ist, den er oder sie angerichtet hat.

Eine christliche Gemeinde jedenfalls sollte das wissen und zu leben versuchen. Darum erzählt Jesus diese Geschichte dem engen Kreis der Jünger.

Die Kirche ist der Raum, in der die Menschheit sich zu versöhnen beginnt. Sie kann in aller Gebrochenheit vorleben, was ein Leben aus der Versöhnung bedeutet.

Die politischen und moralischen Menschheitsfragen und die Liebe Gottes stehen in einem engen Zusammenhang.

Um weniger geht es nicht.

Amen.

Bernd Vogel
Bernd.Vogel@evlka.de


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