Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 6. November 2005
Predigt über Lukas 11, 14-23, verfasst von Hellmut Mönnich
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Liebe Gemeinde,

haben Sie sich eben beim Hören des Predigttextes auch skeptisch etwas zurückgelehnt und vielleicht die Stirn in Falten gelegt, als Sie von einem „bösen Geist“ hörten und von „Beelzebul“, dem „Obersten der bösen Geister“? Im griechischen Text des Neuen Testaments wird hier von Dämonen gesprochen und auch vom Satan. Tatsächlich gehörte es zur Zeit des Neuen Testaments zu dem, was man zu wissen meinte, dass z.B. Krankheiten durch böse Mächte, durch Teufel, die gegen Gott kämpfen, verursacht werden. Mit anderen Worten: Dass der Satan als Oberteufel seine bösen, widergöttlichen Kräfte, seine Dämonen, in die Menschen fahren lässt und sie krank macht. Das gehörte damals zum Wissen der Zeit.

Wir können heute Krankheiten anders erklären. In unserer Weltgegend sehen wir hinter Krankheiten nicht teuflische Mächte. Muss man aber trotzdem an den Teufel glauben, um solche Bibeltexte richtig zu verstehen? Selbstverständlich: nein. Aber sollten wir nicht in der Lage sein, dass zeitgebundene Verständnis damals von bösen Kräften, von krankmachenden Teufeln als Erklärungsversuch zu verstehen, in dem Böses personifiziert wird? Heutzutage können wir fragen, welche auch heute noch verstehbare Wahrheit sich in der damaligen, zeitgebundenen Vorstellung von bösen Geistern, einfach: vom Bösen verbirgt. Ein Blick an den Anfang des 11.Kapitels im Lukasevangelium - dem der heutige Predigttext entnommen ist - kann uns jetzt weiterhelfen.

Das 11. Kapitel beginnt mit dem Vaterunser. “Erlöse uns von dem Bösen“ ist in diesem grundlegenden Gebet formuliert - und wir werden das am Ende des Gottesdiensts ja auch gemeinsam beten. Unmittelbar davor heißt es: “Und führe uns nicht in Versuchung“. Was allerdings ist mit diesen Bitten genau gemeint? Dieselbe Frage gilt auch für die Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“. Tatsächlich gehören die Bitte um befreiende Erlösung von der Macht des Bösen und die Bitte darum, dass Gott und keine andere Macht unser Leben und die Welt bestimmt, zusammen – im Vaterunser ebenso wie in unserem Predigtabschnitt. Und die Bitte „Dein Reich komme“ hat ebenfalls mit unserem Predigttext zu tun und gehört in dasselbe Gedankenfeld.

Das Entscheidende in unserem auf Anhieb ja gar nicht leicht zu verstehenden Predigttextes ist in V. 20 zusammengefasst und zwar in einem einzigen Satz, in dem Jesus sagt: „Wenn ich ... die bösen Geister durch Gottes Finger austreibe - im Matthäusevangelium heißt es an dieser Stelle derselben Geschichte „durch Gottes Geist austreibe“, - ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ Von bösen Geistern, vom Bösen also, und vom Reich Gottes spricht Jesus hier im Streitgespräch im Anschluss an sein Heilen. Das Böse wie die Rede vom Reich Gottes sind heute, zweitausend Jahre später, keine gängigen Themen. Lassen Sie uns gleichwohl - trotz vielleicht spontaner Skepsis - versuchen herauszufinden, was Jesus in seiner Antwort sagen will.

Darf ich zunächst von einem persönlichen Erlebnis berichten? Ich war noch Student, als ich mich einen Abend lang mit einem älteren Mann unterhielt. Er war Soldat gewesen. Inzwischen hatte der Frankfurter Auschwitz-Prozess um die Massenmorde an Juden stattgefunden. Und nun sprach der Mann über den Krieg und die Verbrechen an den Juden. Sinngemäß sagte er: <Was ich damals sah, kann ich bis heute nicht vergessen. Bis heute grübele ich darüber, wie es zu all dem hat kommen können. Als junger Mensch hatte ich immer gedacht, ich könnte alles mit meinem Verstand klären und auch verstehen. Und in meinem Optimismus habe ich nicht gemerkt, dass es so etwas gibt wie eine Macht des Bösen. Eine furchtbare und unheimliche, wirkende Macht des Bösen. Wie anders sonst ist all das Furchtbare zu erklären? Und ich war mitten drin!

Seit diesem schon lange zurückliegenden Gespräch habe ich mich immer wieder einmal gefragt, was das mit der Macht des Bösen ist – hier bezogen auf menschliches Handeln. Nicht, dass ich an Teufel glaube, so wie sie früher gemalt wurden, personifiziert wurden. Meine Frage ist vielmehr: Was bringt Menschen, wie Sie und ich es sind, dazu, so zu handeln, wie ungezählte Deutsche damals handelten? Nicht nur Deutsche. Und nicht nur damals – sondern bis heute: zuletzt in Europa in den kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien und gegenwärtig z.B. im Sudan, in Afrika. Was lässt Menschen so gefühllos, so verantwortungslos, so furchtbar handeln? Die manchmal geäußerten Begründungen für derartiges Handeln – etwa ethnische Bereinigungen - sind doch bei ruhigem Überlegen nicht überzeugend. Was ist das mit uns Menschen? Ich habe erst langsam zu verstehen gelernt, wie sinnvoll die Vaterunser-Bitte ist: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Wie unendlich viele Gesichter hat doch böses Handeln! Im Großen - wie im alltäglich Kleinen, wo egoistisches, nicht verantwortbares Handeln beginnt. Wenn wir uns nun selbst kritisch ansehen:

Wir reden vom Frieden und wir wollen Frieden – und merken - wenn es gut geht - wie eigene Aggressivität, wie Neid, auch etwa Eifersucht uns unfähig machen, dem anderen einfühlsam, verständnisvoll, auch tolerant zu begegnen.

Wir sprechen von Gerechtigkeit, die gelten und hergestellt werden muss – und erfahren an uns selbst, wie schnell uns Mut und Zivilcourage verlassen, wenn andere Menschen unseren Beitrag, unser Eintreten nötig haben, uns das aber etwas kosten könnte.

Wir wissen was Wahrhaftigkeit ist – und erwischen uns vielleicht dabei, wie wir Fakten zu unseren Gunsten leicht verändern, Gehörtes zu unseren Gunsten nicht genau wiedergeben und einmal erwischt lächelnd von Notlügen oder verniedlichend von Flunkern reden.

Wer könnte solche Beispiele nicht vermehren? Was ist das mit uns? Was lässt uns derartig handeln – oder auch nicht handeln? Psychologen mögen das erklären können– aber die Fragen bleiben uns.

Nein. Es gibt keinen Teufel mit einem Pferdefuß – aber es gibt unübersehbar Böses im Kleinen wie im Großen. Böses in der Gestalt von Krankheit und Unglück. Böses in Gestalt von Naturkatastrophen. Und Böses, das durch uns Menschen verübt wird. Hierauf bezogen ist jeder in Gefahr, dahinein verwickelt zu werden – durch Handeln oder durch Nichtstun. Gottlob, wenn wir nicht durch Umstände und Gelegenheit zu Tätern werden. Deshalb ja ist die Bitte formuliert: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ die seit zweitausend Jahren von nachdenklichen Männern und Frauen an Gott gerichtet wird. Wollen wir nicht befreit sein von entsprechenden Versuchungen?

Die Heilung eines vermutlich psychisch Kranken in unserer Predigttext-Geschichte verstand Jesus und verstanden die Evangelisten als einen Anfang. Als Anfang einer Welt, wie Gott sie will: einer Welt, die nicht mehr von der sozusagen widergöttlichen Macht des Bösen mit ihren unzähligen Gesichtern bestimmt wird, sondern von Gott, dem Gott des Lebens. Kurz gesagt: In der Heilung des Kranken beginnt Gott mit dem Herstellen der Welt, wie er sie will - traditionell ausgedrückt: mit dem Reich Gottes. Auf Jesu Handeln und Heilen bezogen heißt das: Mit Jesus beginnt Gott die Welt zu verändern, damit sie das Gesicht bekommt, das er seiner, unserer Welt aufprägen will. Um dies sinngemäß und mit den Worten eines Auslegers zu formulieren: Wer es mit Jesus zu tun bekommt, bekommt es nach seinem eigenen Anspruch mit der Gegenwart Gottes auf Erden und zwar bis in die Leiblichkeit hinein zu tun.

Nun muss und kann hier noch präzisiert werden: Die Welt, wie Gott sie will, das „Reich Gottes“, hat in den Augen des Glaubens mit Jesus schon begonnen und ist doch zugleich noch nicht gegenwärtige, erwartete Zukunft. Das heißt: Diejenigen Menschen, die sich an Jesus Christus orientieren, also die Gemeinschaft der Glaubenden, lebt vom Beginnen des Reiches Gottes im Tun Jesu Christi her - und hin auf die einmal alles umfassende und die Welt prägende Herrschaft Gottes.

Aber was heißt das schließlich heute - zu leben als Gott zugehörende Menschen? Die aus dem Glauben kommende Gewissheit einer angefangenen und zugleich erwarteten Überwindung des Bösen ermöglicht zweierlei: Angesicht der Realität des Bösen in unserer alltäglichen Welt in der Nähe und in der Ferne nicht zu verzweifeln. Und dem Bösen in seinen ungezählten Gesichtern im Alltag aktiv zu widerstehen.

Wie das unter alltäglichen und zugleich zeittypischen Umständen gelingen oder nicht gelingen kann, beschreibt der Politiker Wilhelm Hoegner in seinem Buch „Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik 1933“ so: „Als meine Hauptsünde bekenne ich, dass ich mich durch Rücksichten der Zuständigkeit, aus Abneigung gegen mögliche Quengeleien gewisser Parteibürokraten davon abhalten ließ, zu bürgerlichen Politikern zu gehen, ihnen die Größe der Gefahr zu schildern und mit ihnen gemeinsame Abwehrmaßnahmen zu besprechen ... So muss ich mich anklagen, mich gleich den anderen auf andere oder gar auf den blinden Zufall verlassen zu haben. So darf ein Politiker nicht handeln ...“ . Erleben wir nicht heute vergleichbare Situationen, wie je unterschiedlich wir im Beruf und unserem besonderen Umfeld leben?

Wer älter geworden ist, weiß: Mit wenigen Strichen skizzierte, sozusagen schwarz-weiß gemalte Situationen im Leben sind tatsächlich in Wirklichkeit viel komplexer, verlangen von uns viel mehr Überlegung, Mut und Einsatz als einfach beiseite zu stehen und nichts zu tun. In der außergewöhnlichen geschichtlichen Situation seiner Zeit – dem 3. Reich – formulierte Dietrich Bonhoeffer in einem Gedicht:

„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht in Möglichem schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.“

Amen

Hellmut Mönnich
hi.moennich@freenet.de

 


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