Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Reformationsfest, 31. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 10,26b-39, verfasst von Isolde Karle
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Predigt beim ökumenischen Semesteranfangsgottesdienst in Bochum

„Hier stehe ich, ich kann nicht/auch anders“

Als Predigttext lese ich aus dem 10. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus die Verse 27-33:
Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.
Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.
Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.

Liebe Universitätsgemeinde,

So sperrig dieser Text in vieler Hinsicht wirkt: Ein Leitmotiv durchzieht ihn von vorne bis hinten: Habt keine Angst vor den Menschen! Macht euch nicht abhängig von der Meinung anderer, sondern bekennt frei und öffentlich euren Glauben. Steht für eure Überzeugung ein und seid auch dann standhaft, wenn das viel von Euch verlangt. Wenn ihr die Wahrheit erkannt habt, dann steht dazu und lasst euch nicht verunsichern und von anderen einschüchtern. Verkündet sie vielmehr frei und öffentlich, so dass es jeder und jede hören kann.

Soviel Überzeugung und Bekennermut wird von uns in unseren Tagen kaum noch verlangt. So nachdrücklich und konsequenzenreich wird nur noch selten um die Wahrheit gestritten. Wir leben in einer pluralistischen Kultur, die das Nebeneinander verschiedener Überzeugungen voraussetzt und kultiviert und keineswegs verteufelt. Das ist in vieler Hinsicht segensreich – und wir sollten die damit verbundenen Errungenschaften von Freiheit und Toleranz auf keinen Fall gering achten. Zugleich tendiert die pluralistische Kultur dazu, sich mit Differenzen nicht mehr ernsthaft auseinanderzusetzen und sie gewissermaßen zu vergleichgültigen. Jeder kann dann nach seiner und jede nach ihrer Facon selig werden. Erhebt jemand mit seiner Überzeugung einen Anspruch auf Wahrheit oder bekennt sich mit Nachdruck zu seinem Glauben, wirkt das verdächtig und fast schon ein wenig sektiererisch.

In der Geschichte der Kirche war das anders. Nicht umsonst ist dieser Text ein klassischer Martyriumstext. Der Aufruf zum Bekenntnis, zu einer aufrechten und unbeugsamen Haltung ohne jede Menschenfurcht bedeutete für viele Christinnen und Christen nicht weniger als Verfolgung und Diskriminierung. In manchen Teilen der Welt ist das bis heute noch so.

Als ein Beispiel für großen Bekennermut, der weitreichende Konsequenzen nach sich zog, sei Martin Luther genannt – so unterschiedlich sein Engagement auch unter uns bewertet werden mag. Als Martin Luther vor dem Reichstag in Worms 1521 zum Verhör erscheinen musste, ging es um viel. Er war aufgrund seiner Schriften wenige Monate vorher zum Ketzer erklärt und mit der Bannbulle belegt worden. Dann reist er nach Worms. Eindrucksvoll ist die Szene Luther vor dem Reichstag im Luther Film von Eric Till dargestellt: Da ist dieser einzelne kleine Mönch, der es nun mit dem Kaiser und den Fürsten und dem Gesandten des Papstes aufnimmt. Er tritt hin vor die Mächtigen der damaligen Welt, bebenden Herzens, doch ohne einen Zweifel daran zu lassen, was in seinem Leben das Erste und Wichtigste ist. Widerrufen soll er, der Mönch aus Wittenberg? Nur durch das Zeugnis der Heiligen Schrift und durch Vernunftgründe will er sich überführen lassen. Ansonsten ist sein Gewissen gefangen im Wort Gottes. Darum kann er nicht widerrufen, weil, so Luther, „gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist.“ Der Legende nach lautet sein berühmter Schlusssatz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“

Auf der einen Seite ist das höchst eindrucksvoll, dass jemand so geradlinig und ohne Menschenfurcht seine Überzeugung vertritt und sich dabei ganz Gott anvertraut. Auf der anderen Seite ist es nicht so einfach mit so grundsätzlichen Bekenntnissen. Denn sie lassen das Gespräch erst einmal abbrechen. Es wird deshalb insbesondere unter unseren katholischen Schwestern und Brüdern nicht unumstritten sein, ob dieses Bekenntnis in dieser Form wirklich unumgänglich war. Vielleicht wäre ja eine Reform der Kirche auch anders geglückt und die Kirchenspaltung auf diese Weise verhindert worden. Heute jedenfalls sähe sich Luther einer anderen römischen Kirche gegenüber, einer Kirche, die es ihrerseits sehr ernst meint mit dem Bekenntnis zum Glauben und der Suche nach Wahrheit – auch wenn die Antworten in den beiden Kirchen zuweilen sehr unterschiedlich ausfallen.

Bekenntnisse der grundsätzlichen Art sind der äußerste Grenzfall: Dann, wenn es anders nicht mehr zu gehen scheint und viel auf dem Spiel steht, dann kann es notwendig sein, Farbe zu bekennen und sich unmissverständlich klar abzugrenzen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Aber Bekenntnisse dieser Art lassen sich nicht inflationär ablegen. Ich erinnere mich noch gut, wie mir ein Philosoph aus Greifswald vor vielen Jahren im Gespräch einmal sagte: „Ein solches Bekenntnis – „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – kann man in 100 Jahren einmal, aber nicht täglich ablegen.“ Sonst verliert es seine Glaubwürdigkeit. 100 Jahre sind vielleicht eine zu lange Zeitspanne, aber in aller Regel geht es in unserem Alltag doch darum, eben auch anders zu können, andere Wege zu prüfen, andere Möglichkeiten zu erwägen und auszuprobieren. Nur auf diese Weise lernen wir. Wissenschaft wäre gar nicht möglich, wenn wir nicht die Offenheit mitbrächten, auch andere Optionen zu prüfen und einen Text beispielsweise auch ganz anders auszulegen und zu verstehen als bislang.

Von Papst Johannes dem XXIII. wird erzählt, dass er auf dem zweiten Vaticanum, als das Konzil aufgrund unterschiedlichster Überzeugungen in eine Sackgasse geraten war, gesagt haben soll: „Hier sitze ich, ich kann auch anders. Gott helfe euch. Amen!“ Diese heitere Gelassenheit vermag sich ganz gewiss in gleicher Weise auf den Glauben zu berufen wie Luthers „Ich kann nicht anders“. Wir sind dringend darauf angewiesen, dass Menschen aus der Kraft des Glaubens heraus fähig sind, sich selbst zu relativieren, über ihren Schatten zu springen und andere als die ursprünglich angestrebten Wege zu gehen.

Es kommt darauf an, die Situationen behutsam zu differenzieren. Die meisten alltäglichen Probleme und Fragen bewegen sich im Bereich des Vorletzten. Sie muten uns bei Differenzen zu, das Gespräch weiterhin zu suchen und verlangen von uns die Fähigkeit, die Perspektive des anderen einzunehmen und zu prüfen, ob es nicht vielleicht doch auch anders geht.

Aber wenn es wirklich um die Wahrheit geht, wenn es, um noch einmal an Luther zu erinnern, um der Seelen Seligkeit geht, dann gilt es furchtlos und kompromisslos für die eigene Überzeugung einzustehen – und dies auch auf die Gefahr hin, dafür Imageeinbußen in Kauf nehmen zu müssen und nicht mehr „everybodies darling“ zu sein. Dann gilt es, Widerstand zu wagen und den Mut zu entwickeln, offen und ohne Menschenfurcht in Konflikte hineinzugehen und den Streit auszutragen.

Wir brauchen beides: Den Mut, für die eigene Überzeugung konsequent einzutreten und zugleich die Fähigkeit zu lernen, sich korrigieren und irritieren zu lassen und die eigene Meinung nicht zu überschätzen. In der Politik ist letzteres unabdingbar. Viele politische Überzeugungen eignen sich nicht dafür, zum grundlegenden Bekenntnis stilisiert und moralisch überhöht zu werden. Wenn der Wahlkampf vorbei ist, dann sitzt man plötzlich mit den Leuten gemeinsam an einem Tisch, denen man vorher noch vorgeworfen hat, das Land ins Verderben zu stürzen. Nach dem Wahlkampf geht es weniger um Fragen des Bekenntnisses als um die Frage, inwieweit kann ich auch anders? Inwieweit bin ich fähig, gelassen Kompromisse einzugehen und in aller Bescheidenheit das zu tun, was unter den gegebenen Bedingungen möglich und geboten ist?

Auch die Wissenschaft ist je nach Situation auf beides angewiesen. Sie ist der Wahrheitssuche verpflichtet. Wenn jemand davon überzeugt ist, eine neue Erkenntnis gewonnen zu haben, dann ist es elementar für die Wissenschaft, dafür öffentlich einzutreten, auch wenn der mainstream der Forschung oder der Professor oder die Professorin, die das Seminar leiten, das nicht hören wollen. Bertolt Brecht lässt seinen Galilei vor den Gelehrten sagen: „Wer die Wahrheit nicht weiß, ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“

Nun ist nicht jeder Forscher so genial wie der Physiker, Mathematiker und Astronom Galileo Galilei. Der normale Alltag des Lernens und Forschens sieht eher so aus, dass wir unterschiedliche Optionen und Interpretationen behutsam gegeneinander abwägen. Oft fällt es am Ende dann gar nicht leicht, sich für eine zu entscheiden. Jede Lösung scheint etwas für sich zu haben, klare Alternativen verbieten sich nicht selten.

Wenn wir lernfähig sein und bleiben wollen, dann müssen wir auf andere hören. Dann ist es wichtig, dass wir auch mit leisen Tönen verhandeln können und taktvoll darauf bedacht sind, mit dem Image des anderen zu kooperieren und ihn nicht bloß zu stellen oder unnötig zu verletzen, indem wir seinen Standpunkt lächerlich machen oder ihm jedwedes Recht absprechen.

Auch an Jesus können wir beide Haltungen beobachten. Seine Botschaft vom Reich Gottes war vielen ein Dorn im Auge. Er hat die Auseinandersetzung mit den Gegnern nicht gescheut und letzten Endes sogar den Tod dafür in Kauf genommen. Zugleich war er lernfähig – die eindrücklichste Geschichte, die uns dazu überliefert ist, ist diejenige von der Kanaanäerin, die wir vorhin in der Lesung gehört haben. Jesus erkennt die Tragweite seiner Sendung erst durch die Begegnung mit dieser Frau. Er lernt von der Kanaanäerin und muss sich korrigieren. Das unerschütterliche Vertrauen der Frau, die sich durch Jesu nachdrückliches Nein nicht abbringen lässt, fordert Jesus heraus, seine bisherige Sicht der Dinge aufzugeben und die Welt anders als bislang wahrzunehmen.

Beide Haltungen, die des kompromisslosen Eintretens für die eigene Überzeugung und die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen und zu lernen, setzen eine starke Persönlichkeit voraus. Was gibt uns die Kraft, richtig abzuwägen und dann das Gebotene auch zu tun? Wie macht man das, dass man frei wird von Menschenfurcht? Das ist ja eine schwierige Sache. Das kann man sich nicht einfach befehlen. Damit kommen wir noch einmal auf den Predigttext zurück. „Fürchtet euch nicht, ihr seid besser als viele Sperlinge“ (V. 31) heißt es da. Sperlinge waren zur Zeit Jesu ein geläufiger Artikel auf dem Markt, mit Abstand der billigste Vogel, der Geflügelbraten der kleinen Leute. Wenn nun kein einziger dieser Sperlinge ohne den Willen Gottes auf die Erde fällt, um wieviel mehr kümmert sich Gott um uns Menschen. „Deshalb fürchtet euch nicht“, so sagt es Jesus in diesem Text: „Ihr seid besser als viele Sperlinge“. Auf Gottes Fürsorge können wir uns verlassen.

Wenn wir Gottes Liebe vertrauen, dann werden wir frei von Menschenfurcht. Dann erfahren wir, dass Gott uns hält und trägt. Daraus ziehen wir dann auch den Mut, unabhängig von der Resonanz anderer für unsere Überzeugung einzustehen, uns nicht einschüchtern zu lassen und auch mal etwas Unangenehmes zu sagen. Zugleich gibt uns der Glaube aber auch die Kraft, uns selbst in Frage zu stellen und Bekennermut und eine selbstverliebte Selbstdarstellung zu unterscheiden.

Das Wissen, dass wir Gottes Kinder sind, dass wir zu Gott gehören und kein Mensch letztlich über uns urteilen kann, kann uns helfen, ohne Menschenfurcht, in aller Gelassenheit und zugleich kritisch gegenüber uns selbst unseren Weg zu gehen. Wenn wir auf Gott vertrauen, dann verlieren sich nicht alle Ängste und Zweifel, aber dann können wir besser mit ihnen umgehen. Dann wissen wir uns geborgen und gehalten: „Darum fürchtet euch nicht; denn ihr seid besser als viele Sperlinge.“

Amen.

Prof. Dr. Isolde Karle
Lehrstuhl für Praktische Theologie
D-44780 Bochum
Tel.: 0049 (0) 234 / 3222399
Fax: 0049 (0) 234 / 3214398
E-Mail: Isolde.Karle@rub.de
http://www.ruhr-uni-bochum.de/praktheolkarle/


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