Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 23. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 18,15-20, verfasst von Jorg Christian Salzmann
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I

Endlich mal ein einfaches und klar verständliches Bibelwort! Wenn ich allerdings nachdenke, dann habe ich das eigentlich noch in keiner Gemeinde erlebt, dass da jemand nach diesen Regeln erst von einem einzelnen, dann von mehreren und schließlich von der ganzen Gemeinde zur Rechenschaft gezogen und am Ende ausgeschlossen wurde. Könnte es sein, dass wir zu wenig Mut haben, uns nach den biblischen Weisungen zu richten?

Bei genauerem Hinsehen allerdings kommen doch Fragen auch an unser Bibelwort auf. Da steht in der einen Bibelübersetzung: Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Und in der anderen: Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin usw. Worum geht es denn nun, dass überhaupt jemand sündigt und deswegen zurechtgewiesen werden soll - oder darum, dass es einen Konflikt gibt zwischen zwei Gemeindegliedern?

In den alten Bibelhandschriften findet man beide Fassungen des Bibelwortes. Älter scheint die Form zu sein, wo es nur heißt: wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm usw. Doch kann das gemeint sein, dass die Gemeindeglieder sich gegenseitig kontrollieren sollen, damit auch niemand sündigt? Hat nicht Jesus sehr deutlich gesagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“? Das wäre doch wohl ein Alptraum von Gemeinde, wo sich die Leute gegenseitig kontrollieren und der Sünde überführen; ja, es würden wohl am Ende nur die Selbstgerechten und Scheinheiligen übrig bleiben. Und wer das Pech hatte, vielleicht etwas sichtbarer zu sündigen als die anderen, der wäre ruck-zuck draußen.

In der Geschichte der Kirche hat es Versuche gegeben, Zuchtordnungen für die Gemeinde aufzustellen, damit der Sünde gewehrt würde und alle nach biblischer Weisung ein vorbildliches Leben führten. Wir dürfen getrost sagen, dass diese Versuche gescheitert sind, weil man einem Trugbild von bürgerlicher Anständigkeit nachjagte, statt das Evangelium von der Rettung der Sünder zu verkündigen.

So dürfte es wohl eine dem Evangelium gemäße Korrektur sein, wenn in manch alter Bibelhandschrift steht: wenn dein Bruder an dir sündigt, dann gehe hin und stell ihn zur Rede. In erster Linie um diese Art von Sünde geht es also an dieser Stelle, Sünde demnach, unter der du persönlich von einem andern zu leiden hast.

II

Dann hätten wir eine Anleitung zur Konfliktlösung vor uns. Nun könnte jemand kommen und sagen: Das darf es doch gar nicht erst geben in einer christlichen Gemeinde, dass sich einer am andern versündigt. Doch so zu denken hieße wohl, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Immerhin, es kann nicht um irgendwelche Kleinigkeiten gehen, wenn wir bedenken, dass am Ende der Konfliktlösungsstrategie die Möglichkeit zum Ausschluss aus der Gemeinde steht. Das müssen schon gravierende Probleme sein, welche die Gemeindeglieder untereinander haben. Was könnte gemeint sein? Dass jemand sich sehr rücksichtslos verhält gegen andere, oder ein anderes Gemeindeglied systematisch schlecht macht zum Beispiel. Jedenfalls muss Sünde gemeint sein, die das Verhältnis zu Gott, zum Nächsten, zur Gemeinde nachhaltig stört.

Jetzt aber kommt die nächste Frage: ist denn immer so klar, dass bei dem einen die Sünde liegt und bei dem andern nicht? Unsere Anleitung zur Konfliktlösung scheint von einem solchen Fall auszugehen. Andererseits, wenn die Sache gar nicht so klar ist, dann könnte es ja in den vorgeschlagenen Gesprächen auch zur Einsicht auf beiden Seiten kommen, so dass beide ihre Sünde erkennen und eingestehen. Dann könnte die Sache in gegenseitiger Vergebung enden. In den seltensten Fällen ist wohl alles so einfach, wie es nach dem Wort Jesu hier scheinen will. Das liegt aber nicht an einer vereinfachten Weltsicht, sondern daran, dass hier ganz bewusst einfache Grundregeln aufgestellt werden statt dass alle möglichen Fälle abgedeckt sind. Wenn man das nämlich wollte, wenn man für jede mögliche Schwierigkeit eine passende Sonderregelung formulieren würde, dann käme ein unhandliches Gesetzbuch zustande, das im Zweifelsfall dann doch wieder nicht passen würde. Es kommt also darauf an zu verstehen, in welche Richtung die Sache hier läuft.

III

Damit hängt ein letzter Einwand gegen das vorgeschlagene Verfahren zusammen: ist das nicht eine Anleitung zur Eskalation, wird es nicht geradezu zwangsläufig dazu kommen, dass ein Problem immer größere Kreise zieht und schließlich nicht nur einer leidet, sondern alle in der Gemeinde? Das Gegenteil ist beabsichtigt. Es geht gerade darum, den Bruder zu gewinnen, wie es da heißt. Es soll gerade nicht zu einem öffentlichen Verfahren kommen; vielmehr wird zu allererst zu einer Klärung unter vier Augen ermuntert. Und das sollte der Normalfall sein. Immerhin geht es ja hier nicht um Konflikte mit x-beliebigen Leuten, sondern um Probleme innerhalb der christlichen Gemeinde. Für die gilt die Zusage des Herrn Jesus Christus: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Und wo zwei sich eins werden um eine Bitte, da soll es ihnen von meinem Vater im Himmel gegeben werden. Versöhnung, Umkehr, Sinnesänderung - das sind hier reale Möglichkeiten. Das ist möglich, nicht weil Christen so fromm und gut sind, sondern weil Gott selbst solche Möglichkeiten eröffnet.

Wenn es aber trotz allem doch nicht zu einer Sinnesänderung kommt, dann soll immer noch nicht die große Öffentlichkeit informiert werden, sondern es wird weiter im kleinen Kreis verhandelt; man spricht miteinander, und man betet auch miteinander. Erst die letzte Möglichkeit, zu der es eigentlich gar nicht kommen soll, ist die Besprechung der Sache vor der ganzen Gemeinde; erst die allerletzte Möglichkeit ist ein Gemeindeausschluss.

IV

Dabei allerdings geht es nicht um die Abstrafung einzelner durch eine Gruppe von Menschen, sondern um nicht mehr und nicht weniger als um vollmächtiges geistliches Handeln, das nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel gilt: „Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.“ Ein solches Handeln der Gemeinde hat also eine ungeheure Tragweite und kann nicht nur mal eben nach Lust und Laune die Abstrafung eines unbotmäßigen Mitgliedes sein. Kein Wunder, wenn solch ein Ausschluss nicht zu unsern alltäglichen Erfahrungen in der christlichen Gemeinde gehört! Vielmehr dürfen wir hoffen und davon ausgehen, dass eben die ersten Möglichkeiten der Konfliktlösung, der Umkehr und der Vergebung unter vier Augen oder unter Hinzuziehung einer kleinen Gruppe von Vertrauten funktionieren. So soll es sein in der Gemeinde und nicht wie in einem Scherbengericht.

Ist das zu optimistisch? Könnte es nicht doch sein, dass wir einfach zu gleichgültig geworden sind in der Gemeinde oder zu zaghaft? Ist es nicht am Ende doch so, dass Sünde einfach geduldet wird statt gegen sie vorzugehen?

Es mag sein, dass wir manchmal zu gleichgültig sind. Es mag sein, dass wir nicht genug Kraft haben, in allen Dingen nach Gottes Willen zu leben. Es mag sein, dass wir im Kampf gegen die Sünde unterliegen. Aber lieber flüchte ich mich als Sünder in die Vergebung Gottes als dass ich in vermeintlicher Gerechtigkeit dem andern in der Gemeinde Schaden zufüge. Lieber verlasse ich mich auf die gnädige Gegenwart des Herrn als darauf, dass Gott mir als Richter zur Seite steht. Denn sein Gericht könnte sich ja auch gegen mich wenden. Er aber hat versprochen, schon bei der kleinsten Gruppe von Leuten zu sein, die in seinem Namen zusammenkommt - nicht als Rächer, sondern mit seiner Gnade und Freundlichkeit.

So schenke der Herr seiner Gemeinde, dass sie besonnen umgeht mit ihren Vollmachten. Vor allem aber, dass das Ziel seiner Weisungen erreicht wird: Umkehr und Frieden. Eine Illusion? Wenn es nach uns Menschen ginge, wahrscheinlich ja. Aber wir können den darum bitten, der Macht hat über Himmel und Erde - unsern Vater im Himmel. Wie hat Jesus gesagt? „Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.“ So lasst uns bitten um Umkehr und Frieden in unserer Gemeinde - durch Jesus Christus.

Prof. Dr. Jorg Christian Salzmann, Oberursel
salzmann.j@lthh-oberursel

 


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