Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 23. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 18,15-20, verfasst von Michael Plathow
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Meditation zum Predigttext

Als Kind habe ich nicht selten beim Lesen einer Geschichte den Schluss vorausgelesen, als jugendlicher Kriminalromanleser das Ende mit der Lösung und als Erwachsener das Summarium eines Buches. So soll es auch bei diesem Predigttext geschehen, eingezeichnet in den unmittelbaren Zusammenhang des Matthäusevangeliums. Die letzten Worte Jesu Christi in Mt 18, 20 “..., da bin ich mitten unter ihnen” erschließen den ganzen Text als Evangelium. Der unmittelbare Zusammenhang der Perikope (Mt 18, 12 - 14 und Mt 18, 21 - 33) erzählen: das Evangelium erweist sich als Verheißung der Vergebung, der unbegrenzten Vergebung. 1. Das Wort der Vergebung ist es, wovon die Gemeinde der Glaubenden lebt. 2. Die im Namen Jesu Christi verbundenen Gemeinde betet unter der Verheißung und in der Gewissheit, dass ihre Gebete gehört und erhört werden. 3. Das Wort der Vergebung und das Gebet prägen das seelsorgerliche Miteinander in der Gemeinde selbst in Konfliktsituationen.

1. Gegenwart Christi in der heutigen Zeit

Die Verheißung der Gegenwart Christi durchzieht die neutestamentlichen Zeugnisse (Mt 18, 20; 28, 20). Und Evangelium meint nicht nur die Botschaft von Jesus Christus, sondern gerade den gegenwärtig das Heil wirkenden Christus. Die Schmalkaldischen Artikel III, 4 sagen sehr andringend, dass das Evangelium, also der Christus praesens, sich vergegenwärtigend zueignet in der Predigt des Evangeliums, im Abendmahl, in der Taufe, im Zuspruch der Vergebung der Sünden und auch im geschwisterlichen Gespräch und Trostwort in der Gemeinde (mutuum colloquium et consolatio fratrum et sororum). Den jungen Dietrich Bonhoeffer, an den wir in diesem Jahr besonders gedenken, trieb die Frage nach der Gegenwart Christi in seinem theologischen Denken um. In der Gemeinde als “sanctorum communio”, als Gemeinschaft der Heiligen, vergegenwärtigt und bewahrheitet sich der lebendige Christus; sie ist der “Leib Christi” und er ihr “Haupt”. Die einfürallemal geltende Stellvertretungstat Jesu Christi am Kreuz erweist sich als Lebensgrund der christlichen Gemeinde und ihres Lebensprinzip im Miteinander und stellvertretendem Füreinander, d. h. konkret im Dasein für den Anderen - später spricht Bonhoeffer von der “Kirche für andere” - in der Fürbitte und im gegenseitigen Zuspruch der Vergebung.

“Christus als Gemeinde existierend” vergegenwärtigt sich so höchst konkret im Wort der Vergebung.

Weil uns Sündern Vergebung zugesagt ist in dem, was Jesus Christus stellvertretend für uns am Kreuz getan hat - er hat meine Sünde im “seligen Tausch” zu seiner und seine Gerechtigkeit zu meiner gemacht, wie Martin Luther sagt - können und sollen auch wir in seiner Nachfolge einander vergeben:, wie wir im Vaterunser bitten “vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern”: Schuldenerlass und Sündenerlass, wie Rahmenerzählungen unserer Perikope berichten, dem konkreten einzelnen nachgehend und zugleich bedingungslos geltend. Die Macht der Sünde ist durch Christi Stellvertretungstod schon vernichtet, damit der durch den Geist des Auferstandenen neugeschaffene Mensch für Gott und für den Anderen lebt; getauft sind sie, hineingenommen in Christi Tod und Auferstehung (Röm 6), und dürfen und können als “neue Geschöpfe” (2. Kor 5, 17) das Vergebungswort weitergeben und Versöhnung aus der Vergebung wirken. Denn - wie der Wochenspruch zuruft - “bei die ist die Vergebung, dass man dich fürchte” (Ps 130, 4).

Aus dem privaten und zwischenmenschlichen Bereich wissen wir, dass das Wort “Ich vergebe dir” Zukunft gelingenden Zusammenlebens eröffnet, der unbarmherzige Gläubiger in Jesu Gleichniserzählung aber Mauern der Feindschaft und Zäune der Ungerechtigkeit errichtet, alles, was weder Zukunft hat noch Leben fördert.

Dasselbe gilt aber auch im zwischenkirchlichen und gesellschaftlichen Bereich: welch Zukunft eröffnende Bedeutung hatte das “Stuttgarter Schuldbekenntnis” für die evangelische Kirche in Deutschland, welche Bedeutung das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. im “Heiligen Jahr” 2000. In diesem Jahr sei an die Versöhnung stiftende Ostdenkschrift der EKD “Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn” (1. 10. 1965) erinnert, die Barrieren zwischen Deutschland und Polen überwandt. Auch sei an das Projekt “Healing of Memories” in Rumänien erinnert, das entsprechend der Erfahrungen der Wahrheitskommissionen in Südafrika und der interkonfessioneller “grassroot”-Gruppen in Nordirland im Erinnern Vergebung und Versöhnung zwischen Kirchen und Kulturen für eine gemeinsame Zukunft erwirken will. Denn das Geheimnis der Versöhnung ist Er-Innerung und Ver-Gebung.

2. Beten

Immer wieder nehme ich neu wahr, dass wichtige Theologen ihre nachhaltig wirkenden Werke mit dem Gebet beginnen und mit dem Gebet enden (Augustin, Anselm von Canterbury, M. Luther, J. Calvin usw.), dass andere Theologen nach einem langen wissenschaftlichen Weg am Ende sich noch dem Gebet zuwandten (K. Barth, G. Ebeling usw.).

Die in Jesu Name versammelte Gemeinde betet im Namen Jesu. Beten, als personale Rede mit und zu Gott dem Vater verstanden, erschließt sich ale Ant-Wort des Beters und der betenden Gemeinde auf die An-Rede Gottes und die Gegenwart Christi in Wort und Sakrament durch den heilige Geist.

Menschen beten zu Gott in verschiedenen lebensgeschichtlichen Grundsituationen: im Pfeilgebet oder im Gottruf aus Schreck- und Glückssituationen,; im Dank aus widerfahrenem Guten und Segen; in der Bitte und Klage aus erlebtem Leid und Bösem; in der Fürbitte aus erfahrener Not der Anderen; im Lobpreis von Gottes Heilig- und Herrlichkeit.

Menschen beten in freier und gebundener Sprache, allein und in Gemeinschaft, in der “Kammer” und in der Kirche, am Alltag und am Sonntag, an Tagzeiten und spontan; so ist es in den biblischen Schriften bezeugt.

Christen beten in der Nachfolge und Gemeinschaft mit Jesus das “Abba” als Kinder und Erben Gottes, “gleichgestaltet” mit Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unserem erstgeborenen Bruder durch den heiligen Geist. Denn durch den heiligen Geist wird das Gebet der Glaubenden und der glaubenden Gemeinde in das Wirken des dreieinen Gottes hineingenommen (Röm 8).

Unter der Verheißung Jesu Christi betet die Gemeinde in der Gewissheit, dass ihre Gebete, die Bitten, Klagen und Fürbitten, gehört und erhört werden von Gott. Eine große Verheißung, der die Gebetserfahrungen nicht weniger Beter nicht zu entsprechen scheinen. Und wie viele tiefe Anfechtungen zeichnen sich in diese Feststellung ein! Die Anfechtung gehört zu Glaubensgewissheit und die Glaubensgewissheit trägt auch durch die Anfechtung., so dass Jesu “Nicht wie ich will, sondern wie Du willst”, “Nicht mein, sondern dein Wille geschehe” im Wissen um Gottes Zukunft eröffnende Freiheit und treu fürsorgende Liebe auch unsere Gebete trägt. Christus als Beter ist da der betenden Gemeinde vorangegangen und mit Christus ist die betende Gemeinde verbunden.

3. Das seelsorgerliche Miteinander der Gemeinde auch im Konflikt

Aufmerksam nehme ich die zunehmende Anzahl von Veröffentlichungen zu gemeindlich-kirchlicher Konfliktberatung und Konfliktmanagement wahr.

Mt 18, 15 - 18 stellt das Grundmodell des Umgangs mit Konflikten und der Streitschlichtung und Konfliktlösung in der christlichen Gemeinde dar. Alle Disziplinar- und Lehrbeanstandungsordnungen der evangelischen Kirche fußen auf diesem Modell. Dabei sind Disziplinar- und Lehrbeanstandungen klar von einander zu unterscheiden. Disziplinarverfahren sind justitiable Prozesse, Lehrbeanstandungen sind Feststellungen. Beide gründen in Schrift und Bekenntnis, so dass das geregelte Verfahren im Dienst des Auftrags der christlichen Gemeinde und Kirche durchgeführt wird um der Sorge für den Frieden in der Gemeinde willen und für die rechte Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Verwaltung der Sakramente willen. Rechtliche Ordnungen dürfen sich in der evangelischen Kirche weder verselbständigen noch verabsolutieren; sie folgen aus dem Bekenntnis und dienen dem Aufbau der Gemeinde.

Konflikte in Gemeinde und Kirche haben vielerlei Ursachen: Unklarheit über Zuständigkeiten mit Kompetenzüberschreitungen in der Folge und den Ängste, zu kurz zu kommen, nicht anerkannt zu werden; Missverständnisse über Ziel und Durchführung von Aktivitäten; Unachtsamkeit und Uneinsichtigkeit mit den entsprechenden Erregungszyklen in der Folge; Misstrauen gegen einzelne und alle; selbstbezogenes und selbstgerechtes Verhalten gegen andere; eigenwilliger Schriftgebrauch zur Legitimierung menschlicher Wünsche und Ziele; Bedingtes zu Unbedingtem erklären an der Wahrheitsfrage - ich denke etwa an das personale Verhältnis des Glaubenden zu Gott, der sich dem erschließt in seinem Wort, oder an die “Auferstehung Jesu Christi und unsere Auferstehung” - vorbei; elitäre Gruppenbildung in Abgrenzung von anderen Gemeindegliedern; Unbußfertigkeit und “sektiererischer” Selbstausschluss usw.

Streitschlichtung und Konfliktmanagement ist darum heute in unserer sich einerseits säkularisierenden, andererseits religiös pluralisierenden Gesellschaft angesagt auch in Gemeinde und Kirche.

Die Gemeindeordnung des Matthäusevangeliums setzt auf das seelsorgerliche Miteinander im Wissen um die Verheißung des Vergebungswortes und des Gebetes., das, was SA III, 4 mit dem “mutuum colloquium ... fratrum et sororum” anzeigt: das Seelsorgegespräch unter vier Augen, das die Verschwiegenheit des Beichtgeheimnisses einschließt; das geschwisterliche Gespräch unter Hinzuziehen weiterer Personen auch unter dem Gesichtspunkt der Fachkompetenz; schließlich die Herbeiführung einer Beurteilung in der Gemeindeversammlung. Hört der “Bruder” auch diese nicht, so stellt er sich selbst außerhalb der Gemeinschaft der Gemeinde, außerhalb des Grundes der christlichen Gemeinde, der Vergebungsverheißung und des Gebetes, und soll als solcher von der Gemeinde angesehen werden in der Offenheit für Umkehr und Buße. Das Binde- und Lösewort Mt 18, 18, gerichtet an die ganze Gemeinde, auf das sich so viel Unchristliches im Laufe der Zeit berufen hat, bezieht sich zum einen auf den Zuspruch der Vergebung an den, der Buße tut, als Letztschritt kann es in Situationen des “Status confessionis”, wo es um Wahrheit und Lüge, um Glaube und Unglaube, um Gott und Abgott geht, das Wort der Trennung der Gemeinde und der Trennung von der Glaubensgemeinschaft der Christen ausgesprochen werden. Die Situation bekennender evangelischer Christen gegen die vom der nationalsozialistischen Ideologie infiltrierten Deutschen Christen, die Verurteilung der Apartheit in Südafrika und des Ku-Klux-Klan in den USA, der “sektiererische” Selbstausschluss aus der christlichen Gemeinde oder der bewusste oder gleich-gültige Austritt aus der evangelischen Kirche in einer sich säkularisierenden und religiös pluralisierenden Gesellschaft sind kirchengeschichtliche Beispiele.

Die christliche Gemeinde jedoch, in der Christus gegenwärtig ist, lebt allein aus dem Wort der Vergebung mit dem Gebet im Mit- und Füreinandersein. Erst wer sich als gerechtfertigter Sünder erkennt, d. h. als vergebungsbedürftigen und der Vergebung tatsächlich teilhaftig gewordenen Menschen, begreift wirklich das Wesen Gottes, das grundlos Liebe ist. Das seelsorgerliche und beratende Gespräch ist darum die in der christlichen Gemeine eigentümliche Form der Konfliktlösung. Das konkretisiert sich zuerst im vertrauens- und verständnisvollen Sprechen mit einander unter vier Augen, nicht im Reden über einander, im selbstkritischen Zuhören, im Trostwort des “Gottes alles Trostes” und mahnenden Bußruf und schließlich im Zuspruch der Vergebung mit dem Ziel der Versöhnung. Das konkretisiert sich weiter in der um Verständnis und Klärung bemühten Beratung, gerade da, wo Misstrauen und Verärgerung, aber auch Unkenntnis und Eigensinn zu eskalieren drohen. Das konkretisiert sich leider und leidvoll auch in der öffentlichen, auch rechtlichen Konfliktregelung, die durch selbstgerechte oder gleich-gültige Unbußfertigkeit im Blick auf die bewahrheitende Wahrheit in Jesus Christus, dem Haupt der Gemeinde und Kirche, auch den Selbstausschluss feststellen muss. Auch in diesem Fall wird dem Ausgetretenen begleitend nachgegangen, vor allem in der Fürbitte; er wird nicht allein gelassen, sich selbst oder anderen überlassen, weil sich das Wort der Vergebung an “alles Volk” richtet.

Predigt

Liebe Gemeinde,

Eine wunderbare Botschaft wird uns heute verkündigt. Der lebendige Christus verheißt: “da bin ich mitten unter ihnen”, “ich bin mitten unter euch. Ich bin da, da für euch. Ich habe euch nicht verlassen und ich verlasse euch nicht.” So hatte Jahwe sich zu erkennen gegeben dem Mose am brennenden Dornbusch mit der Selbstvorstellung: “Ich bin da für euch als der ich da sein werde ganz konkret”. So begleitete Gott sein Volk durch die Wüsten, finstere Täler, grüne Auen und lichte Höhen. Selbst wenn das Volk vom Weg abwich und eigenwillige Abwege einschlug, dann aber durch Moses Prophetenwort umkehrte, verhieß Jahwe erneut: “Ich will in eurer Mitte sein.” Und sein Verheißungswort gilt, wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder leer zurückkehrt sondern feuchtet die Erde, dass sie Frucht bringt, Samen zu säen, Frucht zu bringen und Brot zu essen, wenn die Gemeinde glaubend antwortet: “Denn Du bist bei mir.”

Liebe Gemeinde, vor unserem Predigttext erzählt Jesus das Gleichnis vom verlorenen Schaf, dem, wenn es wiedergefunden wird, überschwängliche Freude begegnet. Nach unserem Predigttext erzählt Jesus das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger, vom Schalksknecht, der, obwohl ihm eine riesige Schuldsumme erlassen wird, gnadenlos eine kleine Schuld eintreibt. Jesus erzählt dieses Gleichnis auf die Frage des Petrus, wie oft er seinem Bruder und seiner Schwester, die gegen ihn gesündigt haben, vergeben soll. “Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal”, also zahl- und grenzenlos. Denn immer schon ist uns Vergebung grenzen- und bedingungslos widerfahren. In Jesus Christus, in seinem stellvertretenden Leiden und Sterben am Kreuz, ist uns Vergebung, d. h. zu Leben und Seligkeit, immer schon widerfahren. Jesus Christus machte am Kreuz meine Sünde zu seiner und seine Gerechtigkeit zu meiner: ein seliger Tausch für uns. Und in unserer Taufe ist uns Anteil am Heil geschenkt.

Das ist es, wovon wir persönlich leben, das ist es, wovon die christliche Gemeinde lebt, was sie durch die Zeiten trägt und erhält: das Wort der Vergebung. Die Predigt des Evangeliums, d. h. unser lebendiger Herr Jesus Christus, der gegenwärtig in seiner Gemeinde ist, verheißt die Vergebung der Sünden, d. h. Leben und Seligkeit. So ist Christus heute in der Gemeinde gegenwärtig, sie “Christus als Gemeinde existierend”, er das Haupt der Gemeinde, so dass die Gemeinde im Miteinander und Füreinander in der Nachfolge Christi lebt: im Fürsein für den anderen, in der Fürbitte für die anderen und im gegenseitigen Zuspruch des Vergebungswortes, wie Dietrich Bonhoeffer es uns erklärt.

Darum beten wir im Vaterunser “Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern”. Vergebung schafft Zukunft: Christi Wort der Vergebung und unser Vergebungswort. “Ich vergebe dir” - dieses Wort verändert alles in einer zerrütteten Ehe, in einer angespannten Beziehung mit Kindern und auch mit Kollegen: “Ich vergebe dir” auf die Bitte “Vergib”, weil auch du in Jesus Christus Vergebung erfahren hast. Schulderkenntnis, Schuldanerkenntnis, Schuldbekenntnis und das Wort der Vergebung schafft Neues und erschließt Zukunftfähiges und Lebendienliches auch zwischen Verfeindeten, zwischen Kirchen, Völkern und Rassen. Das “Stuttgarter Schuldbekenntnis” brachte der evangelischen Kirche in Deutschland die Gemeinschaft mit den anderen Kirchen in der weiten Welt wieder. Die Wahrheitskommissionen nach den Schrecken der Apartheit in Südafrika zeichneten Versöhnung. Denn das Geheimnis der Versöhnung ist Er-innerung und Ver-gebung. Das ist der Schatz der Gemeinde, das besondere des Zusammenlebens der Christen heute. In der Predigt des Evangeliums vernehmen wir es heute, im Abendmahl wird es uns heute frei und bedingungslos geschenkt, im persönlichen Zuspruch der Vergebung macht es heute alles neu, im geschwisterlichen Gespräch eröffnet es heute Zukunft. “Denn bei die ist die Vergebung” (Ps. 130, 4).

Liebe Gemeinde, wir antworten auf dieses Wort der Vergebung mit dem Gebet. Eine mit Staunen erfüllte Gabe! Beten meint das personale Reden mit und zu Gott als Ant-Wort auf die An-Rede Gottes. Das Gebet im Namen Jesu ist der “Abba”-Ruf der Kinder und Erben Gottes mit Jesus, Gottes eingeborenem Sohn, unserem erstgeborenen Bruder, durch den heiligen Geist. Wenn wir als einzelne oder in der Gemeinde Gott bitten, klagen, danken und preisen, so tun wir es in der Gemeinschaft mit Jesus Christus; wir sind ihm gleichgestaltet durch den heiligen Geist. Und dieses Beten steht unter der Verheißung, dass Gott es hört und erhört. Ein zu hoher Anspruch, könnte mancher einwenden. Und die empirische Gebetserfahrung von nicht wenigen könnte beipflichten. Aber wie Verheißung und Glaube zusammengehören, so auch Glaubensgewissheit und Anfechtung, die ja immer noch getragen wird vom Glauben, und so auch Verheißung und Anfechtung. Die Glaubensgewissheit in der Gemeinschaft mit Jesus Christus aber weiß um das “Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe” und um die Zukunft eröffnende Freiheit und die Leben dienliche Treue Gottes: “Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden”.

Liebe Gemeinde, Das Leben der Gemeinde aus dem Wort der Vergebung im Gebet hat entscheidende Bedeutung für das Zusammenleben der Gemeindeglieder auch in Konfliktsituationen. Und Dafür gibt unser Predigttext eine Grundregel. Schieben wir sie nicht gleich ab als veraltet, unbrauchbar in unserer von sozialpsychologischen Erkenntnissen geleiteten Gesellschaft. Es gibt keine Zukunft ohne Herkunft. Und Erinnern grundlegender, von reicher Erfahrung getragener Regeln bedeutet Er-Innern in die Zukunft.

Die biblische Grundregel lautet: Konflikte in der christlichen Gemeinde sind im seelsorgerlichen Gespräch zu regeln. Solche Konflikte in der Gemeinde und Kirche haben - wie wir alle wissen - verschiedene Ursachen; jeder könnte von den eskalierenden Erregungszyklen durch Unkenntnis, Missverständnis, Unachtsamkeit, Misstrauen, Uneinsichtigkeit, Selbstgerechtigkeit, Unbußfertigkeit und auch Selbstrückzug und Selbstausschluss erzählen. Spannungen und Streitigkeiten, die von Machtansprüchen und Ängsten durchwachsen sind, spielen da eine nicht geringe Rolle.

Seelsorge und Beratung ist der Weg aus der Sackgasse, erklärt die Gemeinderegel des Matthäusevangeliums. Die christliche Gemeinde, in der Christus gegenwärtig ist, lebt allein aus dem Wort der Vergebung mit dem Gebet im Mit- und Füreinandersein. Erst wer sich als gerechtfertigter Sünder erkennt, d. h. als vergebungsbedürftigen und der Vergebung tatsächlich teilhaftig gewordenen Menschen, begreift wirklich das Wesen Gottes, das grundlos Liebe ist. Eine wunderbare Botschaft! Das seelsorgerliche und beratende Gespräch ist darum die in der christlichen Gemeinde eigentümliche Form der Streitschlichtung und Konfliktlösung.

Das konkretisiert sich zuerst im vertrauens- und verständnisvollen Sprechen mit einander unter vier Augen, also nicht im Reden über einander, im selbstkritischen Zuhören, im Trostwort des “Gottes alles Trostes”, im mahnenden Bußruf und schließlich im Zuspruch der Vergebung mit dem Ziel der Aussöhnung.

Das konkretisiert sich weiter in der um Verständnis und Klärung bemühten Beratung, gerade da, wo Misstrauen und Verärgerung, aber auch Unkenntnis und Eigensinn zu eskalieren drohen.

Das konkretisiert sich leider und leidvoll in der öffentlichen, auch rechtlichen Konfliktregelung, die durch selbstgerechte oder gleich-gültige Unbußfertigkeit im Blick auf die sich bewahrheitende Wahrheit in Jesus Christus, dem Haupt der Gemeinde und Kirche, auch den Selbstausschluss feststellt. Auch in diesem Fall aber gehen wir dem Ausgetretenen als Getauften nach, nicht zuletzt in der Fürbitte für ihn; er wird von uns nicht alleingelassen, sich selbst oder anderen überlassen, weil das Wort der Vergebung allen gilt, sich an “alles Volk” richtet.

Die Gemeinderegel des Matthäusevangeliums in unseren Predigttext setzt auf das seelsorgerliche Miteinander des geschwisterlichen Gesprächs im Wissen um die Verheißung des Vergebungswortes und des Gebets: das Seelsorgegespräch unter vier Augen, das die Verschwiegenheit des Beichtgeheimnisses einschließt; das geschwisterliche Gespräch unter Hinzuziehen weiterer Personen auch unter dem Gesichtspunkt der Fachkompetenz; schließlich die Herbeiführung einer Beurteilung in der Gemeindeversammlung. Hört der “Bruder” auch diese nicht, so stellt er sich selbst außerhalb der Gemeinschaft der Gemeinde, außerhalb des Grundes der christlichen Gemeinde, der Vergebungsverheißung und des Gebets; als solcher soll er von der Gemeinde angesehen werden in der Offenheit für Umkehr und Buße.

Das Binde- und Lösewort, gerichtet an die ganze Gemeinde, auf das sich so viel Unchristliches im Laufe der Zeit berufen hat, bezieht sich zum einen auf den Zuspruch der Vergebung an den, der Buße tut; als ultima ratio, Letztschritt, kann es in Situationen des “Status confessionis”, wo es um Wahrheit und Lüge, um Glaube und Unglaube, um Gott und Abgott, um Förderung und Zerstörung des Lebens, um Eröffnen und Verschließen von Zukunft geht und das Wort der Trennung der Gemeinde und der Trennung von der Gemeinschaft der Christen ausgesprochen wird. Die Situation des bekennenden Christen gegen die von der nationalsozialistischen Ideologie infiltrierten Deutschen Christen, die Verurteilung der Apartheit in Südafrika und des Ku-Klux-Klan in den USA, der “sektiererische” Selbstausschluss aus der christlichen Gemeinde oder der bewusste oder gleich-gültige Austritt aus der evangelischen Kirche sind Beispiele.

Liebe Gemeinde, eine wundervolle Botschaft verkündigt unser Predigttext heute, d. h. das Evangelium, in dem Christus selbst gegenwärtig Leben und Seligkeit zusagt, verheißt das, wovon wir und die christliche Gemeinde und Kirche lebt und erhalten wird: das Wort der Vergebung. Dem antworten wir mit unseren Gebeten, mit Dank, Klage und Fürbitte “Bei dir ist die Vergebung” in der Gewissheit der Erhörung, weil Christus in seiner Gemeinde gegenwärtig ist und mit uns betet das “Abba”, lieber Vater. Amen.

Michael Plathow

 


(zurück zum Seitenanfang)