Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis, 23. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 18,21-35, verfasst von Niels Henrik Arendt
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Die Erzählung von dem Schalksknecht ist nicht so schwer zu verstehen. Die Schwierigkeit liegt eher darin, ihre Botschaft zu akzeptieren, sich vor dem zu beugen, was sie über unser Verhältnis zu Gott und über unser Verhältnis zueinander sagt. Unmittelbar können wir alle hören, dass der verschuldete Knecht falsch handelt. Es geht nicht an, einem Mitknecht gegenüber so unangemessen kleinlich zu sein, wo er doch selbst gerade eben so großzügig behandelt worden ist. Aber wenn die Erzählung nun sagen will, dass wiruns gebenüber unseren Mitmenschen oft so benehmen, dann will uns das nicht einleuchten. Erstens können wir nicht richtig sehen, dass wir eine solche Großzügigkeit erlebt haben sollen, und zweitens werden die meisten von uns der Meinung sein, dass wir nur angemessene und gerechte Forderungen an das Dasein stellen. An wen Jesus mit seiner Geschichte auch immer gedacht haben mag, wir können es jedenfalls nicht sein.

Das Problem besteht darin, dass es uns schwer fällt, uns selbst als Schuldner zu betrachten. Wir meinen nicht, dass wir so etwas Überwältigendes und Unverdientes erleben wie der Knecht, als sein Herr ihm alle Schuld erlässt, denn wir meinen nicht, dass wir in einer vergleichbar hoffnungslosen Lage sind wie er. Unsere Schuld Gott gegenüber ist nicht bodenlos, wir sind nicht zahlungsuntüchtig. Und es ist genau dasselbe, was der verschuldete Knecht von sich selbst meint – der König tut wohl eigentlich nur das, was ein König zu tun hat. Was sein Verhältnis zu dem anderen Knecht angeht, ist eine ganz andere Geschichte.

Was denken wir, wenn in der Kirche von Gottes Barmherzigkeit und Vergebung gesprochen wird? Denken wir nicht: ja, es ist wohl Gottes Job, Gottes Aufgabe zu vergeben. Das ist es, was man von Gott erwarten kann, dass man uns nicht zur Rechenschaft zieht für das, was wir an kleinen Versehen und Schnitzern begehen. Was hier in der Kirche gesagt wird, als etwas wirklich Erfreuliches und Großzügiges zu erleben, setzt voraus, dass man etwas weniger Erfreuliches hierher mitbringt, von dem man dann befreit würde. Aber das ist unsere Schwierigkeit im Verhältnis zur Botschaft der Kirche, dass die Rede davon, dass wir Sünder oder Schuldner sind, uns nicht richtig angeht oder trifft.

Was für eine Sünde oder Schuld ist es denn, an die man in der Kirche immerzu erinnert werden soll, mit der aber die wenigsten irgendetwas verbinden können, wenn sie die Kirche wieder verlassen haben? Wie kann man eine Sünde bereuen, wenn man eigentlich gar nicht fühlt, dass man etwas zu bedauern hat? Wie kann der Gottesdienst ein Fest sein, wenn die festliche Botschaft gar nicht auf einen selbst gemünzt ist?

Nun können wir heute wohl sehen, dass wir nicht die Ersten sind, denen es so geht. Petrus, der Jesus fragte, wie oft er seinem Bruder vergeben solle, erging es ebenso. Er war selbst nicht der Auffassung, dass er ein elender und schuldbeladener Mensch sei – sonst hätte er nicht so gefragt. Und der Knecht, von dem Jesus erzählt, meinte wohl auch, dass er bloß bekam, worauf er ein Recht hatte, als ihm seine großen Schulden erlassen wurden. Wir sind nicht die Ersten, die so ihre Schwierigkeiten mit dem Wort „Schuld” haben. Es ist auch so, dass die Worte „Schuld“ und „Vergebung“ so oft und so gedankenlos gebraucht werden können, dass sie ihre Bedeutung verlieren; sie sind wie ein Bonbon, auf dem man behaglich lutscht, und wenn jemand fragen sollte: „Was ist das für eine furchtbare Sünde, von der du die ganze Zeit redest?“, dann weiß der Betreffende keine Antwort.

Es kennzeichnet unsere Gegenwart, dass wir gelernt haben, dass auch wenn es um das Handeln von Menschen geht, menschliche Fehler ihre Erklärung und ihre Ursache haben. Deshalb ergibt es keinen Sinn für uns, diese Fehler „Sünden“ zu nennen, als wären sie etwas, was uns schuldig macht, etwas, wofür wir selbst etwas können. „Man kann ja nicht dafür, nicht wahr?“

Zugleich sind wir uns einigermaßen einig, dass jeder Mensch im Grunde Anspruch auf Glück hat. Ja, im Blick auf uns selbst sind wir dessen so sicher, dass wir sogar willens sind, unser eigenes Glück mit dem Unglück anderer zu erkaufen. Wir haben ein Recht im Verhältnis zu unseren Mitmenschen; nicht dass wir nicht Rücksicht auf sie nähmen, aber stehen sie unserem Glück im Wege, dann dürfen wir sie zur Seite schieben. Gelegentlich tun wir das mit der lahmen Entschuldigung, dass das auch zu deren eigenem Vorteil geschehe. Gestern las ich von einer Frau, die ihre Ehe um eines anderen Mannes willen aufgegeben hatte und in Bezug auf ihre Kinder das Argument gebrauchte: für sie wäre es ja nicht gut, wenn sie ihre Mutter unglücklich sähen. Wir hören nicht einmal, wie hohl das klingt. Obwohl wir es sicherlich hören würden, wenn jetzt der Knecht in der Erzählung Jesu zu seinem armen Kollegen sagen würde: „Es geschieht zu deinem eigenen Vorteil, dass du und deine Familie ins Schuldgefängnis geworfen werdet. Euch ist damit am besten gedient, dass ihr meinem Erfolg nicht im Wege steht!“

Nein, die christliche Botschaft trifft uns nicht richtig. Es fehlt sozuagen ein „erkenntnismäßiger Durchbruch“, wie ein Politiker einmal gesagt hat. Wir können uns sicher einigen, dass es vielen Menschen heute bestimmt nicht allzu gut geht. Es ist Sand im Getriebe an allzu vielen Stellen, Menschen fühlen sich zum alten Eisen geworfen, sie sind einsam, beginnen mit Missbrauch von Alkohol oder Narkotika, sind nervlich am Ende, fühlen sich von allen Seiten in Bedrängnis, sind gestresst auf Grund der Forderungen, denen sie nicht gerecht werden können, oder sie meinen, ihre Arbeit sei nicht sinnvoll, sie meinen, dass sie ihren Kindern gegenüber versagen; sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sie sich zu wenig um die Alten kümmern. Usw. usw.

Aber all diese Schlechtigkeit ist niemandes Schuld. Oder andere sind daran schuld. Oder es ist womöglich die Schuld der anonymen Gesellschaft – auf sie kann man die Schuld immer schieben. Aber das bedeutet keine Besserung.

Den erkenntnismäßigen Durchbruch, von dem ich sprach, nennt das Christentum Bekehrung – auch eines der Wörter, die Menschen von heute wohl nur schwer verstehen. Aber das Christentum dreht die Dinge wirklich um, es verlangt von dir, dass du das Dasein genau auf die entgegengesetzte Art und Weise betrachten sollst, wie du es zu tun pflegst. Das Christentum sagt zunächst, dass nicht du es bist, der Anspruch auf das Glück oder etwas anderes hat, nein, du bist es, auf den Anspruch erhoben wird. Es sind die anderen, die Anspruch auf dich haben. Du hast den anderen gegenüber nicht Recht, denn du hast von vornherein mehr bekommen, als du verdient hast. Du bist immer zu spät dran mit der Rückzahlung. Du schuldest. Du bist es, der seinem Mitmenschen etwas schuldet. Und wenn es ihm oder ihr schlecht geht oder wenn es dir selbst schlecht geht, dann bist du es, der versagt hat.

Dahin zu gelangen, dass man diese Wendung um 180 Grad vornimmt, ist nicht leicht. Die Dinge umgekehrt zu sehen, als wir es gewohnt sind, das ist mehr als schwierig. Um uns zu helfen, damit wir die Dinge in diesem Licht sehen können, hat Gott einen merkwürdigen Entschluss gefasst. Er beschloss selbst die Schuld auf sich zu nehmen. „Gib mir die Schuld für das Elend“, sagte er zu den Menschen durch Jesus. Wie klingt es, dass „die Schuld bei Gott liegt“? Ja, zunächst einmal würden wir vielleicht sagen: Ja, es ist Gottes Schuld; er hat schließlich das Leben so kompliziert geschaffen, die Verantwortung für diese Bescherung muss bei ihm liegen. Aber bei näherem Zusehen erweist sich dieser Gedanke natürlich als wahnwitzig. Das wäre dasselbe, wie wenn der Knecht zu seinem Mitknecht sagen wollte: Es ist die Schuld des Königs, dass du ins Gefängnis kommst!

Wenn zwei Geschwister Unfug gemacht haben und sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, d.h. von sich selbst abwenden wollen, und wenn dann ihr kleinerer Bruder (oder die kleinere Schwester), der (oder die) absolut nichts mit der Angelegenheit zu tun hatte, um Versöhnung zu stiften, das Versehen eingesteht, fühlen sie vielleicht zunächst, dass sie jetzt noch einmal davongekommen sind. Aber bei näherem Nachdenken denken sie: nein, das ist zu viel – und dann legen sie ein Geständnis ab. Und so wird die Versöhnung zuwege gebracht.

Das Christentum handelt von einer solchen Versöhnung. Es erzählt, dass die Versöhnung mit Gott zuwege gebracht ist – Gott har in seiner Barmherzigkeit dem Menschen die Hand gereicht. Aber es bedarf keinen scharfen Blicks, um zu sehen, dass die Versöhnung zwischen Menschen noch nicht zuwege gebracht ist. Und zwar deshalb, weil wir noch nicht erkannt haben, wie freigebig, wie großzügig, wie barmherzig Gott uns behandelt hat. Wir müssen erst noch lernen, unseren Mitmenschen im Licht der Liebe zu sehen, die uns zuteil geworden ist. Das Christentum sagt, dass all unser Elend daher kommt und dass, wenn wir wirklich aufhören wollen, die Dinge auf dem Kopfe zu sehen, und wenn wir sie sehen, wie sie wirklich sind, dann alles Elend wie Tau vor der Sonne verschwinden wird. Dann würde die Gemeinschaft endlich beginnen, unter uns zu heranzuwachsen. Dann würden wir anfangen, anstatt an unserer eigenen Freude an der gegenseitigen Freude zu arbeiten. Amen.

Bischof Niels Henrik Arendt
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Tel.: +45 74 52 20 25
E-mail: nha@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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