Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 16. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 10, 34-39, verfasst von Gerlinde Feine
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Einige Vorbemerkungen zum Verständnis der Predigt:

Den Gottesdienst am 3.Sonntag im Oktober gestalten die MitarbeiterInnen der Diakonie-/ Sozialstation durch eigene Beiträge und Gedanken zum Predigttext mit. Beim Vorgespräch wurden in diesem Jahr unter dem Stichwort „etwas unter den Teppich kehren“ Beispiele und Assoziationen gesammelt, die mithilfe einiger Requisiten vorgetragen werden. Unter dem Perser-Teppich liegen alte Fotos aus Kriegstagen, unter einer großen Verbandsplatte verbergen sich offene, eitrige Wunden, unter der Sonntagstischdecke werden Familiengeheimnisse versteckt. Die Landesfahne steht für politische Fragen wie Pflegeversicherung u.ä., zur Wolldecke (schwäb. „Teppich“ !) gehört eine Anekdote aus der Seniorenbetreuung, auf die in der Predigt angespielt wird. - An diesem Sonntag trifft sich zudem der Jahrgang 1925/26 zur sogen. „80er-Feier“, die mit Kirchgang und Totengedenken beginnt.

"Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden."

Liebe Gemeinde –

Wer von uns hat das noch nicht getan – um des lieben Friedens willen etwas unter den Teppich gekehrt? Eine Bemerkung heruntergeschluckt beim Familienfest, wenn der Enkel mal wieder mit viel zu langen Haaren erscheint und die Hose irgendwo in den Kniekehlen sitzt. Schnell das Thema gewechselt, wenn Opa wieder anfing, vom Krieg zu erzählen und daß damals doch nicht alles schlecht gewesen sei. Rasch das Fest verlassen, sobald der Teil der Verwandtschaft kam, mit der man doch noch nicht einig war um die Erbschaft. Schließlich muß eine Familie doch zusammenhalten, Vater, Mutter, Kinder, Schwiegereltern… . Wenn die alte Tante herausbekommen würde, daß ihr Lieblingsneffe schon lange aus der Kirche ausgetreten ist, das würde die Festtagsstimmung doch nur trüben – und wem schadet das schon, wenn wir’s unter den Teppich kehren?

Ja, wem schaden sie, die gebrauchten Papiertüchlein und leeren Bonbonpapierchen, die die alte Dame so sorgfältig unter der Decke auf dem Platz neben ihr versteckt hat? Wem schadet das, was sie doch erleichtert, ihr eine Sorge abnimmt, ganz diskret und unauffällig? Sie hat die Hände wieder frei, und wer immer irgendwann einmal später diesen schwäbischen Teppich wegnehmen und all den Abfall finden wird, der weiß zumindest nicht, von wem er stammt. Und den Ärger darüber, daß er nun diese „Altlasten“ entsorgen muß, den wird sie nicht mitbekommen.

Was wird nicht alles um des Friedens willen unter den Teppich gekehrt – wir erleben es gerade bei den Koalitionsverhandlungen, wie da die Parteien, die sich über 7 Jahre hinweg heftig gestritten haben, plötzlich Einvernehmen behaupten über die künftige Richtung der Politik, und doch kaum verbergen können, daß selbst innerhalb der eigenen Lager alles andere als Frieden herrscht, und die verfassungsmäßige Richtlinienkompetenz der noch nicht einmal gewählten Kanzlerin von ihren eigenen Partnern in Frage gestellt wird. Wie soll das erst werden, wenn die Arbeit der neuen Regierung anfängt? Wie groß muß der rote Teppich eigentlich sein, damit alles Trennende unauffällig darunter verschwindet und man ohne zu stolpern darüber laufen kann?

Wer um des Friedens willen Dinge unter den Teppich kehrt, geht ein hohes Risiko ein. Denn es könnte sein, daß sie ein Eigenleben entwickeln, so wie die offenen Wunden unter den großen Verbänden, daß sie sich entzünden, eitrig und verkrustet werden, und wenn dann das Pflaster abgenommen wird, dann sieht man die Bescherung. Da wird die Pinzette der Pflegerin zum Schwert, jedenfalls mindestens so schmerzhaft, und doch ist die Behandlung notwendig, wenn es Heilung geben soll. Da muß dann die Decke oder der Teppich entfernt werden über den Verletzungen und Wunden unseres Lebens, da muß einer es aushalten, da hinzuschauen und sich des Elends anzunehmen, auch den Geruch muß man aushalten und das Stöhnen, die Angst und vielleicht auch den Zorn dessen, dem man um seinetwillen wehtut.

Und mancher wird fragen: „Muß denn das sein?“ Muß ich mir das wirklich antun, mich erinnern (lassen) an längst vergangene Dinge? Die Frauen und Männer, die heute ihr Jahrgangstreffen feiern, die werden nachher beim Mittagessen sicher allerlei Erinnerungen austauschen an gemeinsam Erlebtes, an die Schulzeit in den Dreißiger Jahren, an die vielen Sommer, die sie auf den Feldern verbracht haben, weil es damals dazugehörte, daß man in der Landwirtschaft half. Sie werden vielleicht an die Abende in der Lichtstube denken, an die Treffen bei der Molke, an das erste Auto, den ersten Fernsehapparat im Dorf, an die Jahrgangsfeiern zum 40er oder 50er, die Ausflüge, die Goldene Konfirmation. Aber muß man an das andere auch denken, an das, was schwer fällt? An Krieg und Gefangenschaft, als den kaum 20jährigen in den französischen Bergwerken der Rücken ruiniert wurde fürs Leben, an die Angst der jungen Frauen um ihre Männer und Väter, an die schweren Jahre des Wiederaufbaus und auch an die Schuld, die damals allen bewusst wurde? Es war mir sehr eindrücklich in unserer Vorbesprechung, wie da in dem Fotoalbum von 1939 die Bilder direkt nebeneinander kleben: links der Konfirmand mit Schillerkragen und bravem Scheitel, rechts der Hitlerjunge in der Uniform und mit derselben ordentlichen Frisur. Es sei nicht einfach gewesen, diese Spannung auszuhalten, sonntags zum Dienst (zu dem man verpflichtet wurde) und zum Gottesdienst, später zur Christenlehre zu gehen. Um des Friedens willen wurden auch da Kompromisse geschlossen, und niemandem steht es heute zu, darüber zu urteilen.

Und doch wäre es falsch, zu denken, die Probleme wären einfach weg, wenn wir nur einen passenden Teppich fänden, unter den wir sie stecken könnten. Es wird auf Dauer nicht gelingen, es kann nicht gut gehen; das merken wir immer wieder. Nachts, wenn die Träume kommen, wenn längst vergessen Geglaubtes wieder in uns aufsteigt, oder am Ende eines Lebens, wenn Bilanz gezogen wird über das, was gewesen ist – wenn wir aufräumen in unserem Leben und in unseren Herzen, dann spätestens stolpern wir über das, was so lange unter der Decke gehalten wurde um des Friedens willen. Und merken umso mehr, daß es nicht gut tut, wenn wir nicht eindeutig leben.

Denn um nichts anderes geht es Jesus in diesen harten Worten, die ich vorhin verlesen habe: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ – das mag so gar nicht in die Kirche passen, von der die Soziologen sagen, sie sei ein „Harmoniemilieu“ (G.Schulze, Die Erlebnisgesellschaft). Und doch ist es ihm, dem Herrn der Kirche, absolut ernst damit. An ihm scheiden sich die Geister, das Bekenntnis zu ihm wird die Familien spalten, und wer in der Nachfolge Jesu lebt, muß damit rechnen, daß Streit und Auseinandersetzung den Frieden stören. Es wäre ohnehin nur ein fauler Friede, sagt Jesus, denn „wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert.“ So warnt er seine Jüngerinnen und Jünger, ehe er sie aussendet unter die Leute, ehe er sie losschickt, anderen die frohe Botschaft vom Anbruch des Gottesreiches zu bringen, vom Frieden zwischen Gott und den Menschen.

Und ausgerechnet diese Botschaft, dieses Evangelium wird die Leute auseinanderbringen. Wer in aller Konsequenz und ohne faule Kompromisse danach leben will, wer darauf vertraut, daß Gott regiert, der darf nicht damit rechnen, von allen geliebt zu werden, ganz im Gegenteil. Der wird mit Gegenwind rechnen müssen, dem werden Steine in den Weg gelegt werden und Türen vor der Nase zugeschlagen. Wer im Namen Jesu eintritt für Gerechtigkeit, wer sich gegen Unrechtsstrukturen stark macht, wer gegen den Strom der herrschenden Meinung schwimmen möchte, der ist Widerstand ausgesetzt, und dieser Widerstand wird umso erbitterter ausfallen, je mehr auf dem Spiel steht an Geld und Macht und Einfluß.

Ich muß das jetzt nicht im Einzelnen ausführen; es ist ja zum Teil schon vorhin geschehen: Soll man wirklich den Behörden einen Verdacht weitergeben, daß Pflegegelder nicht sinngemäß verwendet werden? Ist es nicht nur natürlich, bei der Steuererklärung ein wenig zu schummeln? Halten wir den Mund, wenn der Chef die Kollegin ungerecht behandelt oder treten wir für sie ein? – jede und jeder von uns kennt solche Beispiele, jede und jeder von uns hat schon einmal geschwiegen, wo er hätte reden müssen, jede hat schon einmal klein beigegeben, anstatt zu widerstehen, einfach weil die Sorge groß war, die Konsequenzen nicht auszuhalten, isoliert dazustehen im Team, nicht mehr dazuzugehören in der Familie oder im Freundeskreis. Was nutzt die Eindeutigkeit im Handeln, wenn sie einsam macht?

Und wir dürfen nicht übersehen, daß die ersten Gemeinden mehr zu erwarten hatten als das. Eine Trennung von der Familie bedeutete (besonders für die Frauen) Not und Elend, weil es keine Sozialversicherung gab und keinen Anspruch auf Unterhalt. Ein großer Konflikt mit der Gemeinschaft konnte in Haß umschlagen; wir kennen die Geschichten der Christenverfolgungen, die Martyrien der ersten Zeuginnen und Zeugen. Da war es wichtig, daß sich die Gemeinde als neue Familie der Christinnen und Christen bewährte, sonst war der einzelne verloren; diese Erfahrung machten die Jüngerinnen und Jünger schon sehr früh. Das Evangelium vom Frieden Gottes mit den und für die Menschen – es konnte für Unfriede und Streit sorgen. Und all das sollte Jesus gewollt, sogar „gebracht“ haben?

Das ist schwer vorstellbar. Und nicht zuletzt deshalb ziehen wir es heute noch in der Kirche vor, auf Eindeutigkeit zu verzichten und Streit und Konflikte unter den Teppich zu kehren, und zwar schon seit langem. Der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der für die Eindeutigkeit seines Bekenntnisses 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet wurde, schrieb schon 1928: „Ob Christus in unseren Tagen noch an einer Stelle stehen kann, an der die Entscheidungen über das Tiefste, das wir kennen…fallen, das ist die Frage. Die Religion spielt für die Psyche des 19. und 20. Jahrhunderts die Rolle des sogenannten guten Zimmers, in das man sich gern auf ein paar Stunden zurückzieht, um dann aber wieder gleich darauf in seine Arbeitsstube zu treten. Eins aber ist klar, dass wir Christus nur verstehen, wenn wir uns zu ihm in einem schroffen Entweder-Oder entscheiden. Zur Verzierung und Verschönerung unseres Lebens ist er nicht ans Kreuz gegangen.“ (D.Bonhoeffer: Jesus Christus und vom Wesen des Christentums, Gesammelte Schriften V, München 1972, S. 134f.).

Nein, der Christliche Glaube taugt nicht für Sonntagsreden in der guten Stube, wenn er nicht auch im Alltag gelebt und ausgehalten wird, gerade da, wo es zu Spannungen und Konflikten kommt, gerade da , wo Wunden aufgekratzt und versorgt werden müssen an Leib und Seele, wo Entscheidungen zu treffen sind, die von uns allen Opfer und Einschränkungen verlangen, wo man die Augen nicht verschließen darf vor Missständen und Ungerechtigkeiten, wo die bösen Erinnerungen und Träume da sind und nach Trost und Vergebung rufen. Dafür ist Christus nicht ans Kreuz gegangen, damit wir das alles unter den Teppich kehren um eines faulen Friedens willen. Dafür ist er nicht gestorben und nicht auferstanden, er, unser Friede.

Wer sein Leben finden will in vordergründiger Harmonie und faulen Kompromissen, der wird es verlieren, sagt Jesus. Aber wer sein Leben verliert um seinetwillen, wer sich ganz auf ihn verlässt, Eindeutigkeit wagt und Vertrauen riskiert – der gewinnt alles!

Es ist unbequem, schmerzhaft und vielleicht auch trennend, die vielen Teppiche, Decken und Tücher unseres Lebens, in Gesellschaft und Kirche, in der Familie und ganz still bei uns selber, hochzuheben und nachzusehen, was wir darunter verborgen haben. Es wird uns womöglich den Frieden rauben, den wir uns selbst ausgesucht haben, es wird uns wehtun und manch schlaflose Nacht bereiten – aber nur so ist Heilung möglich. Wer nicht nur an den Symptomen herumkurieren möchte, sondern Ruhe haben und Frieden finden will, der muß zum Arzt, zu diesem Arzt, der selber das Leben ist (EG 320,4 / nach Ex 15,26), und sich den schützenden Verband wegnehmen lassen, unter dem sich die tödliche Krankheit unbehandelt ausdehnt, wenn man nichts dagegen unternimmt.

Deshalb ist es wichtig, daß wir uns das gefallen lassen – wichtig und heilsam für uns, daß Jesus keinen faulen Frieden bringt, sondern mit scharfem Skalpell seziert, was abgetrennt werden muß. Dafür aber ist er sehr wohl ans Kreuz gegangen, und dort, am Kreuz, da wollen wir die Dinge ablegen, die wir leichtfertig und um eines faulen Friedens willen unter den Teppich kehren wollten. Dort gehören sie hin, aufgedeckt und offenbar, unsere Schuld und unsere Versäumnisse, unsere Nachlässigkeiten und unsere Kompromisse, unsere Gedankenlosigkeit und unsere Angst. Dort werden wir Frieden finden, weil offenbar geworden ist, wovon wir wirklich leben können, sogar über den Tod hinaus, weil einer es aushält, wo wir nicht hinschauen können, weil er – Gott – sich der ganzen Not angenommen hat und sich nicht zu schade war, uns zu helfen.

Nachher wollen wir miteinander Abendmahl feiern, uns stärken lassen durch Brot und Wein, und unserem Herrn begegnen, bei dem es keinen faulen Frieden gibt, sondern ein klares und eindeutiges Bekenntnis zu uns Menschen: „Für euch gegeben – für euch vergossen zur Vergebung der Sünden“ – nichts muß mehr verborgen bleiben, nichts braucht uns zu belasten, alles können wir wagen, eintreten für das, worauf wir hoffen, eindeutig sein in dem, was wir tun, denn „Er ist unser Friede“.

Amen.

Pfrin. Gerlinde Feine
Rohrgasse 4
72131 Ofterdingen
Tel. 07473-6334
Fax 07473-270266
gerlinde.feine@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)