Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis, 2. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 9, 1-8, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Misstrauen gegen Vergebung

„Ich glaube...
dass kein lebender Mensch dem anderen vergibt,
warum sollte Christus sonst sein Blut in Kelchen aus echtem Silber schenken?“
Det skabtes vaklen, Seite 32. S.U. Thomsen

So radikal drückt der dänische Dichter Sören Ulrik Thomsen sein Misstrauen gegen Vergebung als Möglichkeit oder Wirklichkeit zwischen Menschen aus. Nur der Tod Christi um der Menschen willen schenkt uns die Vergebung, die wir einander nicht zu geben vermögen. Nun dürfen wir kaum ein losgerissenes Zitat aus einem längeren Gedicht zu einem Postulat oder zu einem Dogma machen – weit gefehlt. Aber es tut gut zu sehen, dass jemand den Mut hat, aufrichtig zu sein und seine Stimme zu erheben gegen den Strom süßlicher unzuverlässiger Rede davon, dass wir bloß einander vergeben, einander lieben, Freunde sein müssten – wie wenn das so einfach wäre, so leicht und selbstverständlich. Der Dichter glaubt anscheinend nicht, dass diejenigen Menschen, die sich gegenseitig tödlich verletzt, sich gegenseitig gekränkt haben, so dass sie es nicht vergessen können, – dass sie einander von Herzen vergeben können. Und wie überzeugt sind wir selbst? Wie sicher sind wir, dass wir selbst imstande sind, dem- oder derjenigen zu vergeben, der oder die uns auf irgendeine Art und Weise ins Unglück gestürzt hat? Wenn es etwas gibt, was wir nicht ertragen, dann dass man uns mit Füßen tritt. Mag auch der Wille vorhanden sein, so ist es noch nicht sicher, dass auch das Gefühl dabei ist. – Und als Jesus dem lahmen Patienten die Sünden vergibt, sind die Schriftgelehrten, weisen Männer entrüstet. Nicht weil der lahme Mann ihnen etwas angetan hätte, ihnen persönlich, sondern weil Vergebung und Sündenerlass nicht in der Verantwortung oder Macht von Menschen liegen, sondern allein in der Macht Gottes. Sie wussten, dass man einem Menschen nicht alles Mögliche so einfach vergeben kann. Denn wo bliebe da die Gerechtigkeit? Was geschähe mit dem Opfer, dem dieser Mann etwas angetan haben mag? Und wenn man nun ein Mörder wäre? Wäre Vergebung da nicht ein Hohn gegen den Ermordeten? Es lag große Weisheit und Menschenkenntnis und ethisches Urteilsvermögen in der Entrüstung der Gelehrten. Sie hatten wirklich Grund dazu, sprachlos zu sein. Solange sie jedenfalls in einem Lebensbild lebten, in dem Verbrechen und Strafe einander wie Ursache und Wirkung folgen mussten in einem steifen System von Gerechtigkeit. Gegenseitigkeit heißt das heute. Konsequenz statt Schlaffheit... Sie lebten in einem System, das streng und ernst war. Ohne Mitgefühl, ohne Humor. Ohne Mut etwas Ungewohntes zu wagen, um aus einem festgefahrenen, unterdrückenden Lebensmuster auszubrechen. Sie besaßen weder Phantasie noch Mut, die Bande der Tradition zu zerreißen. Deshalb konnten sie auch nicht verstehen, dass jemand den Mut hatte, Verantwortung und Entscheidungsgewalt auf sich zu nehmen, um Sündenerlass zu geben, wenn das etwas war, was nur Gott zukam – und wir könnten vielleicht hinzufügen, wenn Menschen davon so angenehm frei waren?

Jesus fragte die entrüsteten Männer: „Warum denkt ihr so Böses in euren Herzen?“ Er fasste den Unwillen von Menschen gegen Vergebung nicht als Ausdruck einer höheren Gerechtigkeit und als Respekt vor möglichen Opfern auf. Er erlebte diesen Unwillen als Zeichen von Hass. Und als Ausdruck von Machtmissbrauch und Unterdrückung der Schwachen. Er wusste, dass Menschen es ganz irrationell lieben, beleidigt zu sein. Und dass sie die Fehler von anderen ausnutzen, um sich selbst der Verantwortung für ihr weiteres Schicksal zu entziehen. Er wusste, dass Menschen sich in sich hineinziehen, um ihre Beleidigungen zu pflegen und um nicht in die Gefahr zu geraten, dass sie denen, die sie verletzt haben, etwas Gutes tun könnten. Man genießt die Kränkungen, denen man ausgesetzt wird, und möchte sie nicht aufgeben, denn es ist eine Art Genuss, den anderen auszuschließen und ihn, wie wir sagen, „in seinem eigenen Fett braten zu lassen“. Vergebung ist ein Wort, das verunsichert. Denn es droht, die ghettoisierte Welt, die man sich selbt errichtet hat, zusammenbrechen zu lassen. Dem anderen vergeben bedeutet, dass er von Neuem ein Teil meiner Welt wird – und das möchte man um alles in der Welt vermeiden. Er verdient meine Vergebung nicht, denken wir. Und vergessen dabei, dass es sehr wohl die Frage ist, ob ich selbst jemals Vergebung verdiene. Die gelehrten Männer, die entrüstet waren, fühlten sich offenbar sicher, dass sie selbst ohne Fehler seien und Vergebung nicht nötig hätten? Oder hatten sie vergessen, dass sie eines Tages selbst ihrer bedürften und sie vielleicht nicht verdient hätten. Ihre bösen Gedanken enthüllten Mangel an Selbsterkenntnis. Oder Flucht vor ihr. Aber dieser Mangel oder diese Flucht ist so verbreitet, dass das Wort, dass kein lebender Mensch dem anderen vergibt, der Wirklichkeit recht nahe kommt. Diese Neigung, dass wir uns jeder für sich in unsere eigene Welt von Kränkungen zurückziehen und damit die anderen ausschließen, dass wir uns in unser eigenes Ghetto einschließen, diese Neigung ist so verbreitet, dass wir es fast schon nicht mehr merken. So sieht die Welt nun einmal aus! Wenn Jesus dem lahmen Patienten Sündenvergebung gibt, obwohl er nicht einmal darum gebeten hat, bricht er mit dieser in Ghettos aufgeteilten Welt. Er wagt einen Sprung in ein neues Lebensbild. Aber dafür wird er dann später auch bestraft, wie wir wissen. Denn wir WOLLEN uns nicht dazu zwingen lassen, miteinander zu tun zu haben. Wir WOLLEN nicht, denn das tut zu weh. Wir wollen uns lieber isolieren und FREI sein. Eine verkehrte Auffassung von Freiheit, meinte Jesus.

Wie sonderbar Jesu Vergebung war, zeigt sich deutlich darin, dass der Patient nicht um sie gebeten hatte. Er wollte nur von seiner Krankheit geheilt werden. Das war jedenfalls das, was die Helfer des Patienten glaubten, als sie mit ihm zu Jesus kamen. Denn unmittelbar glauben wir, Krankheit sei etwas vom Allerschlimmsten. Aber Jesus zeigt mit seinen Worten, dass das Allerschlimmste sei, wenn einem nicht vergeben ist. Da kann die Krankheit erst an zweiter Stelle kommen. Verstehen wir das? Kennen wir das von unserem eigenen Leben? Ist es nicht vielmehr am allerschlimmsten, wenn man nicht geliebt wird? Weder von Menschen noch von Gott? Wie erlebt man das Leben, wenn man als alter Mensch auf sein Leben in lauter ungelösten Feindschaften zurückschaut? Welchen Wert hat die gute Gesundheit, wenn man sich in seine eigene gekränkte Welt zurückgezogen hat und die Welt um einen herum menschlich gesehen öde und leer ist? Oder nur ein Meer von Leiden anderer Menschen? – Bedeutet das nicht, auf eine andere Art und Weise gelähmt zu sein als im buchstäblichen Sinn, auf den die Helfer des Patienten fixiert waren? Sonderbar war Jesus in seiner Bevorzugung der Sündenvergebung gegenüber der Heilung. Aber es ist ja diese Bevorzugung, die in einem gewissen Sinne im Christentum und in der Kirche gilt. Die Kirche ist kein Krankenhaus, und sie ist überhaupt kein Ort, an dem es darauf ankommt, Heilungswunder zu vollbringen. Sie ist ein Ort der Verkündigung der Vergebung der Sünden, der Vergebung Gottes und der Vergebung unter Menschen. Dass aber Krankheiten ein menschliches Leiden sind, das gibt Jesus zu, wenn er den Lahmen auch physisch heilt. Das war bloß nicht das, worauf es in erster Linie ankam. Das war vielmehr das Geistige: dass die Welt des Kranken von Isolation gegenüber Gott und Menschen befreit wird.

Aber dazu gehörte also auch Mut! Denn Menschen gönnen es einander nicht, Vergebung zu erlangen. Dies ist es, was die Entrüsteten im Grunde zu erkennen geben. Menschen haben ganz einfach nicht das RECHT zur Vergebung, denn sie können den Schaden nicht wieder gut machen, wenn er erst eingetreten ist. Sie können die Toten nicht wieder lebendig machen. Oder den Unglücklichen ihre gestorbenen Lieben zurückgeben. Deshalb kann nur Gott dem Mörder oder bloß dem- oder derjenigen vergeben, der oder die einem anderen Menschen nicht wieder gutzumachendes Böses getan hat. Woher nahm Jesus dann den Mut zur Vergebung? Woher bekam das RECHT dazu? Das ging über ihren Verstand, und sie wurden zornig. Diejenigen aber, die seine Vergebung empfingen, verstanden es. Denn sie merkten seine Liebe. Es war eine Liebe, die sich nicht von den Einschränkungen knechten ließ, denen man sie im Lauf der Zeit ausgesetzt hatte. Der Mut Jesu war die Überzeugung der Liebe, dass sie das gute Recht hatte, Gutes zu tun. Dass Gott hinter seiner Liebe zu jedem einzelnen Menschen stand, wer immer und was immer er war. Es war eine Überschreitung des bloß gewöhnlich Menschlichen, in dessen Rahmen Grenzen gesetzt sind für die Fähigkeit der Liebe zur Vergebung. Und wo die Frage nach dem Recht des Opfers auf Genugtuung lähmend wirkt, weil man dem Opfer diese Genugtuung nicht geben kann. Jesus übertrat die gewöhnliche Grenze und sagte, dass sie böse war: „Warum denkt ihr Böses in euren Herzen?“ Ist das eine Aufforderung, dass auch wir die Grenze überschreiten und immer vergeben sollen, ganz egal was? Ganz egal, ob das Verbrechen unheimlich und nicht wieder gutzumachen ist und ganz egal, ob wir mit dem Herzen dabeisein können oder nicht?

Ja, ich glaube, dass es so ist. Aber mit welchem Recht? Genau danach wurde Jesus ja immer wieder gefragt. Mit dem RECHT DES GLAUBENS. Er glaubte, alles würde gut werden. Alles sollte von der Barmherzigkeit Gottes erleuchtet werden. Alle Opfer, alle Unglücklichen, alle Schuldigen würden Genugtuung bei Gott erhalten. Bei Gott würde es keinen Unterschied geben zwischen Opfer und Henker. Beide würden Anteil erhalten an der Freude der Vergebung. Dies war seine Überzeugung, und dies trieb ihn dazu, es überall zu zeigen, wo er hinkam. Vergebung war das Reich Gottes hier und jetzt und in Ewigkeit – und niemand, der sich nicht selbst außerhalb dieses Lichtkreises stellte, sollte draußen bleiben.

DAS RECHT bekam er aus dem Glauben an Gottes allversöhnende Barmherzigkeit und aus seiner eigenen Liebe. Er war ein Mensch, aber ein besonderer Mensch. Und ich zweifle nicht daran, dass er den Glauben, die Liebe und den Mut zur Vergebung an alle weitergeben wollte. Aus diesem Grund erzählen wir bis auf den heutigen Tag von ihm. Sein Glaube und sein Mut sind heute genauso rätselhaft und grenzüberschreitend, wie sie es damals waren. Amen.

Pastor Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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