Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Erntedankfest, 2. Oktober 2005
Predigt über Jesaja 58, 7-12, verfasst von Friedrich Seven
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„Bis Sonntag, Herr Pastor“ - so verabschiedete sich Harald von mir und mir war damit klar, dass er heute Abend zur Kirchenvorstandssitzung wohl wieder nicht kommen würde.

Es war ein schöner Sommertag, ohne Regen und damit ein guter Tag für die Erntearbeit. Lange hatte ich gebraucht, um zunächst einmal zu begreifen und dann zu akzeptieren, dass Ernte zeit für die Bauern eine Zeit ist, in der sie kaum eine andere Verpflichtung kennen, als die, günstige Gelegenheiten zum Abernten der Felder und zum Einfahren der Frucht zu nutzen. Zu oft warten sie Regentag für Regentag , bis endlich die Sonne mit einem Hoffnungsschimmer zur Fahrt auf die Felder einlädt. Wer die Bauern dann auf ihren schwerfälligen Maschinen wie auf Thronwagen sitzen sieht, der merkt, dass sich anscheinend auch in den Kabinen solcher Ungetüme Musik aus dem Kopfhörer gut hören lässt. Die Freude an der Ernte scheint sich prächtig mit dem schwerfälligen Rangieren und dem steten Hin und Her, dieser Streckenfresserei zu vertragen.

Lotti, Haralds Frau, hatte mir einmal gesagt, dass bei allem Streß, den die Erntezeit mit sich bringe, die Ausfahrt auf die Felder fast so schön sei wie früher die allmorgendliche Ausfahrt in der warmen Jahreszeit zu den Kühen, und da sie ihre wenigen Kühe schon vor Jahren abgeschafft hatten, freuten sie sich über die Erntefahrten umso mehr.

Freilich wäre der Streß mehr geworden und da inzwischen für die meisten Bauern tagsüber noch die Verpflichtung bestünde, irgendwo in der Umgebung für acht Stunden am Fließband zu stehen, könnte für viele die Arbeit erst am späten Nachmittag beginnen und so würde für sie oft genug die Nacht zum Tag. Auch die Bauern wüssten inzwischen, was Nachtschicht ist. Wie man da in Büchern von „Feierabendbauern“ schreiben könne, wäre ihr unverständlich.

Wer Harald also in den Sommermonaten an die Teilnahme an der Kirchenvorstandssitzung erinnern wollte, erntete auch bei denen im Kirchenvorstand nur Kopfschütteln, deren Familien die Landwirtschaft schon lange aufgegeben oder die als Zugezogene nie ihr Auskommen auf den Feldern und Wiesen hatten suchen müssen. Haralds Fehlen auf der Sitzung war in den Augen der übrigen kein Versäumnis, sondern eine Selbstverständlichkeit, an der sich nur der stoßen konnte, der eben nicht dazugehörte.

Harald hatte mir mal in Zeiten, als ich ihn noch an seine Pflicht erinnern wollte, im Kirchenarchiv Protokolle gezeigt, in denen zu lesen war, dass früher während der Erntezeit die Schüler vom Feld geholt werden mussten und oft genug der Lehrer, wenn er denn den Unterrichtsbesuch nicht einmal mit dem Feldschützen erzwingen konnte, allein mit den Kindern des Pastors und mit seinen eigenen in der Schule saß. „ Ganz allein, Herr Pfarrer, werden Sie auf unseren Sitzungen aber nie sein“, tröstete er mich damals.

Dabei hatte Harald gar nicht von Kind auf dazugehört und war von seinen Eltern zu allem anderen als zum Bauern ausersehen. Aber durch den Krieg war es anders gekommen und schließlich hatten der Krieg und der Hunger ihn in unser Dorf gebracht. Hier, so erzählte er oft, hätte er sich wieder sein Brot verdienen können. Bis er freilich hier heimisch geworden wäre, hätte es schon ziemlich lange gedauert, eigentlich bis er endlich seine Frau kennen gelernt und in deren bescheidene elterliche Landwirtschaft eingeheiratet hätte. Er betonte, wenn er davon erzählte, das Wort „eingeheiratet“ stets so, dass deutlich werden konnte, wie sehr die beiden Jung-Verliebten hatten damals auch den Gesetzen von Haus und Hof gehorchen müssen und im Dorf geblieben waren, um das Anwesen mit seinen angestammten Gerechtigkeiten auf Holz und Weide zu bewahren und weiter auszubauen.

Gerade heute aber war es ganz dumm, daß Harald bei der Sitzung nicht dabei sein würde, wo doch der baldige Erntedanktag auf der Tagesordnung stand: Wie in den Städten, so wollten auch wir endlich mal über den Gottesdienst hinaus und noch vor dem abendlichen Dorffest Erntedank in der Gemeinde feiern und planten ein Eintopfessen aus den Erntegaben, die die Kinder des Kindergottesdienstes am Samstag zuvor im Dorf einsammeln sollten. Dabei war es für die Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher offenbar eine schöne Vorstellung, mit den Kindern, worunter auch die eigenen Enkel sein könnten, in die großen Gärten zu gehen und sie noch etwas Obst ernten zu lassen, bis sie ihnen dann körbeweise Kartoffeln, Kohl und andere Gemüse mitgeben würden, so dass sie sicher selbst noch beim Tragen mithelfen müssten.

Wir besprachen auf der Sitzung alles nötige, Harald und Lotti wurden einfach mit eingeplant und so konnten wir nur hoffen, dass auch am Erntedanktag das Wetter freundlich würde und wir zum Erntedankessen auf den Kirchhof bitten könnten.

Für den Samstagabend vor dem Fest hatten wir uns noch vorgenommen, die Erntekrone aufzuhängen, wofür wir Harald brauchten.
An diesem Abend dann trafen wir Lotti schon in der Kirche, wo sie mit der Küsterin den Altar geschmückt hatte, nur Harald war nicht zu sehen.
„Hier bin ich“, rief es plötzlich von oben, als einer nach ihm rief. Er hatte sich schon auf den Dachboden begeben und alles so gerichtet, dass wir die Erntekrone hochziehen könnten.
Als die Erntekrone schließlich hing und wir uns alle darunter im Altarraum versammelt hatten, wollte Lotti, die auch den Lesedienst übernehmen sollte, nocheinmal den Bibeltext lesen, der für den morgigen Sonntag vorgesehen war.
Die Küsterin hatte das Lektionar bereits aufgeschlagen und Lotti las:

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn Du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und deine Heilung wird schnell voranschreiten und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: „Siehe, hier bin ich.“

Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit den Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward. Und du sollst heißen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“

Während Lotti las, hatten wir uns hingesetzt, obwohl sie doch eigentlich nur für sich zum Üben lesen wollte. Wir blieben noch sitzen, als Harald zum Lesepult ging, sich das Buch nahm und seine Frau anschaute „Wie hieß das da gerade, wie steht das da?: ‚Wenn Du den Hungrigen Dein Herz finden lässt!’

Gott sei Dank, Lotti, dass ich damals Dein Herz finden konnte, Danke, dass Du mich Hungrigen aufgenommen hast. Also, ich freu mich auf morgen!“

Am Sonntag kamen dann nur wenige, so wenige, wie schon lange nicht mehr am Erntedanktag, und als wir uns nach dem Gottesdienst auf den Kirchhof begaben, hatte sich der Regen, der uns schon am frühen Morgen begrüßt hatte, zu einem kräftigen Landregen entwickelt, so dass Tische und Bänke auf dem Kirchhof von der Küsterfamilie schon wieder abgedeckt worden waren und wir wussten ,dass unser kleiner Haufen in den Pfarrsaal würde ziehen müssen.

Missmutig zogen wir eilig in den Pfarrsaal, nur Harald blieb lange auf dem Kirchhof stehen und er schien den Regen zu genießen.

„...wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ – sagte er dann, als er sich tropfnass zu uns setzte und so zufrieden wirkte, als hätte er auch schon gegessen. „So schöne Worte!“.

Wir blieben lange beieinander im Pfarrsaal, Haralds Anzug war schon fast wieder trocken und noch zweimal wurde Kaffee gekocht.

Dr. Friedrich Seven
Im Winkel 6
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e-mail. friedrichseven@compuserve.de


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