Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

19. Sonntag nach Trinitatis / Erntedankfest, 2. Oktober 2005
Predigt über Jesaja 58, 7-12, verfasst von Jürgen Berghaus
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


(Übersetzung "Hoffnung für alle" 2002)
"Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! Dann wird mein Licht eure Dunkelheit vertreiben wie die Morgensonne, und in kurzer Zeit sind eure Wunden geheilt. Eure barmherzigen Taten gehen vor euch her, meine Macht und Herrlichkeit beschließt euren Zug. Wenn ihr dann zu mir ruft, werde ich euch antworten. Wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: 'Ja, hier bin ich.' Beseitigt jede Art von Unterdrückung! Hört auf, verächtlich mit dem Finger auf andere zu zeigen, macht Schluß mit aller Verleumdung! Nehmt euch der Hungernden an, und gebt ihnen zu essen, versorgt die Notleidenden mit allem Nötigen! Dann wird mein Licht eure Finsternis durchbrechen. Die Nacht um euch her wird zum hellen Tag. Immer werde ich euch führen. Auch in der Wüste werde ich euch versorgen, ich gebe euch Gesundheit und Kraft. Ihr gleicht einem gut bewässerten Garten und einer Quelle, die nie versiegt. Euer Volk wird wieder aufbauen, was seit langem in Trümmern liegt, und wird die alten Mauern wieder errichten. Man nennt euch dann 'das Volk, das die Lücken der Stadtmauer schließt' und 'Volk, das die Ruinen bewohnbar macht'."

Liebe Gemeinde!

Deutschland hat gewählt. Und wie. Ich musste sogar fünf Minuten vor der Wahlkabine warten, weil der Andrang so groß war. Aber dann das Ergebnis - das einzig Klare daran scheint zu sein, dass nichts wirklich klar ist. Jetzt wird in den Berliner Parteizentralen herumgetüftelt, man entwickelt Strategien, führt Gespräche - und im Idealfall kommt am Ende eine regierungsfähige Koalition dabei heraus. Ich bin sehr gespannt, wie die wohl aussehen wird...

Deutschland scheint unentschieden zu sein. Die rot-grüne Regierung hat keine Mehrheit bekommen. Aber für die schwarz-gelben Herausforderer reicht es auch nicht. Die alt-neuen "Linken" haben beachtlich abgeschnitten, doch die wollen vorerst in der Opposition verharren. Manche rufen schon wieder nach Neuwahlen, als ob wir Bürgerinnen und Bürger uns irgendwie "verwählt" hätten. Dabei spiegelt das verworrene Ergebnis doch nur die Gemütsverfassung der Bevölkerung wider - man weiß halt nicht genau, was das Beste für unser Land ist; kein Parteiprogramm konnte durchschlagend überzeugen, und auch die Kanzlerfrage "Gerhard oder Angela" brachte kein eindeutiges Resultat.

Liebe Gemeinde, ähnlich unklar war wohl auch die Lage in Israel um das Jahr 500 vor Christus herum, als unser Predigttext entstanden ist. Gewiss, die babylonische Gefangenschaft war vorüber, in der zweiten und dritten Generation lebte man schon wieder im Gelobten Land - aber irgendwie lief die ganze Sache nicht richtig rund. Nur schleppend kam der Wiederaufbau der zerstörten Hauptstadt Jerusalem in Gang, die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern klappte mehr schlecht als recht - und offenbar setzten sich die Starken gegen Schwächere in der Gesellschaft durch, so dass zunehmend mehr soziale Schieflagen sichtbar wurden.

Was war zu tun in dieser Situation ? Sollte man dankbar sein für das bisher Erreichte, oder galt es weitere Verbesserungen zu fordern ? Mussten die Benachteiligten getröstet oder die Machthaber in ihre Schranken gewiesen werden ? Unser Predigttext lässt sich in diesen Fragen nicht eindeutig auslegen, vielleicht ist er sogar selbst eine Zusammenstellung aus unterschiedlichen Positionen im Gottesvolk Israel zu jener Zeit. Ich möchte versuchen, einige Argumentations-Fäden aus dem Knäuel herauszulösen und nach ihrer Brauchbarkeit für uns heute zu fragen.

Zunächst fällt mir auf, dass offenbar Menschen mit einem gewissen Wohlstand angesprochen werden. Das passt natürlich gut zu unserem Erntedankfest, wo die Gaben der Schöpfung und die Produkte der Menschen in ihrer ganzen Fülle vor dem Altar kunstvoll aufgebaut sind - und doch nur einen kleinen Teil von alledem umfassen, was uns sonst noch zur Verfügung steht.

Dieses Leben im Wohlstand droht allzu leicht eine Selbstverständlichkeit zu werden, und meine eigenen Ansprüche liegen ziemlich hoch. Wäre hier nicht mehr Bescheidenheit angebracht ? Und Dankbarkeit für die Wohltaten eines hochtechnisierten Landes ? "Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen!" Diese Aufforderung setzt eigenen Wohlstand voraus, eigenes Vermögen oder Können. Was ich selbst habe, darf und soll ich nach meinen Vorstellungen nutzen - aber ich brauche es nicht krampfhaft festzuhalten, sondern all dies Gute kann noch weiterfließen und auch andere beglücken. Doch dazu ist es nötig, meine Augen zu öffnen für die Menschen um mich herum. Was sind deren Bedürfnisse, und können sie die aus eigener Kraft erfüllen? Oder werden sie ohne fremde Hilfe wohl niemals auf einen grünen Zweig kommen ?

In Jesaja 58 werden menschliche Nöte ganz konkret beim Namen genannt : Hunger, Obdachlosigkeit, Armut oder Unterdrückung - hier geht es also nicht um allgemeine Moralvorschriften, sondern um einen realistischen Blick auf menschliches Elend. Da ist nichts abstrakt konstruiert, sondern uns werden Gesichter vor Augen gemalt, Gesichter von Menschen aus unserer alltäglichen Umgebung.

Liebe Gemeinde, solch einen Blick für die Gesichter der ganz normalen Not brauchen auch wir in Deutschland. Denn wo soziale Leistungen zurückgefahren werden - und das meinen mittlerweile fast alle politischen Parteien tun zu müssen - da geht es den den früheren Empfängern dieser Leistungen schlechter als vorher. Und nicht jeder hat soviel finanzielles Polster, um derartige Einschnitte problemlos ausgleichen zu können. Die Einsparungen im Gesundheitswesen und das Arbeitslosengeld II lassen die Schere zwischen Armen und Reichen in unserem Land noch weiter auseinander gehen. Aber was hilft es, wenn die Besserverdienenden jetzt ein schlechtes Gewissen kriegen ? Nützlicher wäre, wenn sie sich die Weisung unseres Predigttextes zu Eigen machten: "Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen!" Also Augen auf, und flugs dem einen oder der anderen geholfen ! Niemand kann alles Elend dieser Welt allein auf seine Schultern laden - aber ein gewisser Betrag zur Unterstützung anderer bleibt bestimmt jeden Monat übrig; und ein paar Stunden meiner Freizeit regelmäßig im sozialen Bereich zu investieren, das steigert auch meine eigene Lebensqualität. "Dann wird mein Licht eure Dunkelheit vertreiben wie die Morgensonne" heißt es zweimal in unserem Predigttext als Wort Gottes.

Wir Protestanten scheuen uns ja traditionell vor jeder Art von Werkgerechtigkeit - nicht durch meine guten Taten, sondern durch Gottes Gnade werde ich ins rechte Licht gesetzt. Jesaja 58 teilt diese Bedenken nicht. Vielmehr bereitet mein Handeln zugunsten der Armen gewissermaßen das Feld, auf dem Gott anschließend sein Licht leuchten lassen will. Wohl gemerkt : Gottes Licht, nicht unser eigenes! Aber Gottes Licht strahlt gerade dort auf, wo wir uns um Notleidende kümmern. Dort geht die Dunkelheit zu Ende, und die Morgensonne bricht an. Ein schöner Gedanke, trostvoll auch für Leute, die erst am Anfang ihrer praktischen Solidarität für ihre Mitmenschen stehen und die vielleicht auch den einen oder anderen Rückschlag bei ihren Bemühungen verkraften müssen. "Immer werde ich euch führen. Auch in der Wüste werde ich euch versorgen."

Das, liebe Gemeinde, ist für mich die Grundlage für alles vorher Gesagte. Wenn ich anderen abgeben soll von meinem Besitz oder meinen Fähigkeiten, dann brauche ich dafür das Vertrauen, auch selbst gut versorgt zu sein. Das sagt uns Gott sogar für Wüstenzeiten zu, wenn alles bisher scheinbar fest Gefügte ins Wanken gerät, wenn all meine gewohnten Sicherheiten zu zerbrechen drohen. "Ja, hier bin ich" verspricht uns der Ewige, wenn wir ihn in einer Notlage um Hilfe anrufen. Mit einem derart hilfsbereiten Gott an meiner Seite sollte uns die eigene Hilfeleistung viel leichter fallen.

Erntedankfest 2005 : dankbarer Rückblick auf erreichten Wohlstand, Weisung zur tätigen Nächstenliebe im Alltag, verbindliche Zusage des Beistandes Gottes auch in schweren Zeiten. Damit müssten sich doch eigentlich regierungsfähige Koalitionen bilden lassen - und auf alle Fälle kann ich selbst damit sinnbringend leben ! Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn! Amen.

LIEDVORSCHLÄGE eg 304 "Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich" eg 502 "Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit" eg 420 "Brich mit den Hungrigen dein Brot" eg 510 "Freuet euch der schönen Erde"

Pfarrer Jürgen Berghaus
51377 Leverkusen
Scharnhorstsr. 38
Tel./Fax 0214 / 8707091
berghaus@ekir.de

 


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