Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

18. Sonntag nach Trinitatis, 25. September 2005
Predigt über Markus 10, 17-27, verfasst von Robert Schelander
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Gott will uns ganz und das sofort

Liebe Gemeinde

1. Überschriften lenken die Aufmerksamkeit

„Der reiche Jüngling“; mit dieser Überschrift kenne ich - und vermutlich die Mehrzahl von Ihnen/Euch – den Predigttext. Er ist einer der bekannteren biblischen Geschichten. „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.“ Dieser Satz ist zum geflügelten Wort geworden. Beim Lesen und Hören fällt mir auf: da wird aber kein Jüngling erwähnt.
In den ersten – in griechischer Sprache niedergeschriebenen – Bibelbüchern gab es keine Überschriften. Damit man sich leichter orientieren konnte, hat man den fortlaufenden Text in Abschnitte geteilt und diesen später Überschriften gegeben. Die Überschriften fassen den Inhalt der Geschichte zusammen oder heben einen Gedanken oder Satz heraus und bezeichnen damit ein Thema, auf welches man beim Lesen besonders achten soll. Damit wird auch festgelegt, wie wir an diese Geschichten herangehen und sie verstehen.
Wie ist der „Jüngling“ hier hineingerutscht? Im Text steht nur, dass „einer“ herbeiläuft. Einer, von dem später gesagt wird, dass er reich ist, weil er „viele Güter hat“. Wir wissen nicht wie alt dieser „eine, der herbeiläuft“ ist. Nun, die Antwort ist einfach: Die Geschichte findet sich auch an anderer Stelle in der Bibel. Matthäus erzählt von einem reichen Jüngling, der zu Jesus kommt.
Ich habe die Geschichte bisher mit dieser „Brille“ gelesen: Ein junger Mensch kommt zu Jesus. Ich denke, es macht schon einen Unterschied ob wir uns einen jungen Menschen, einen in der Mitte des Lebens oder einen alten Menschen vorstellen. Man denkt vielleicht gerne an einen Jüngling, weil man meint, dass vor allem junge Menschen vor solch lebensentscheidenden Fragen stehen: Wie soll es in meinem Leben weitergehen?
Wenn man älter wird, merkt man, dass dies nicht stimmt: Auch ältere Menschen werden von Gott gerufen, ihr Leben zu ändern.

Ich bin jedenfalls neugierig geworden. Kann man auch andere Überschriften über diese Geschichte setzen? Die Lutherbibel schreibt: „Die Gefahr des Reichtums“ und in Klammern dahinter „der reiche Jüngling“. Ich suche weiter: „Die Frage eines Reichen, nach dem ewigen Leben“ so titelt die Züricher Bibelübersetzung und eine andere wiederum: „Von Reichtum und Nachfolge“.
Liebe Gemeinde, ich merke, es spielt eine Rolle, welche Überschrift man dieser Geschichte gibt – man versteht sie ganz anders: Wir können das ausprobieren, indem wir darüber schreiben: „Der, den Jesus liebgewann“ oder „Eines, was dir fehlt.“ Je nachdem, mit welcher Frage wir der Geschichte begegnen, wird sie uns anderes antworten.
Schauen wir uns also den Text an und überlegen, welche Überschrift wir ihm geben wollen.

2. Die Fragen des reichen Mannes

Jesus ist im Aufbrechen. Er zieht im Gebiet von Judäa und auch im Jordanland umher, macht hier und da Rast und lehrt das Volk, wie Markus schreibt. Gerade hat er Kinder, die zu ihm gebracht wurden als Vorbilder im Glauben bezeichnet; sie in den Arm genommen, geherzt und gesegnet. Er ist schon wieder unterwegs – noch nicht weit, erst wenige Schritte, als einer herbeiläuft, vor ihm niederkniet und ihn aufhält. „Guter Meister“, so bricht es aus ihm heraus, „Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“
Vieles wissen wir nicht – können es uns nur vorstellen: Wer ist der, der da herbeiläuft? Hatte er Eile, weil er läuft? Warum erst jetzt, als Jesus aufbricht? Vielleicht hat er gewartet bis zu diesem letzten Moment. Warum hat er nicht gefragt als Zeit war? Wir kennen dies, wenn wir wichtige, aber verunsichernde Dinge aufschieben. Hat er zugewartet, bis er wusste: jetzt oder nie?! Auf diesen entscheidenden Moment mit seiner lebensentscheidenden Frage?
„Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Eine Frage, die vielleicht beim ersten Hören fremd und nicht nach unseren Fragen klingt. Niemand geht zu den heutigen Auskunftspersonen – Lehrern, Ärztinnen, Therapeuten, Beraterinnen, Medienprofis und so weiter und fragt „Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Wir fragen: Was muss ich tun, damit ich ein gutes, glückliches, gesundes Leben habe? Vielleicht auch: Was muss ich tun, damit mein Leben Sinn hat; dass mein Leben gelingt? Nach dem ewigen Leben zu fragen heißt, danach zu fragen, was unser Leben - jetzt und immer - trägt. Das ewige Leben ist kein zweites Leben nach dem ersten. Es ist kein anderes Leben, dass danach kommt, irgendwann.
Eine Frage daher, die man nicht so leicht zwischen Tür und Angel beantworten kann und will. War Jesus deshalb unwillig? Vielleicht hat Jesus gedacht: Jetzt kommt er mit dieser Frage daher, wo ich doch mit meinen Gedanken schon unterwegs bin. Es war doch genug Zeit zum Fragen.
„Was soll ich tun?“ Der große Philosoph Immanuel Kant nannte sie eine der Grundfragen des Menschenseins, neben den anderen: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Bei solchen Fragen pflegen ich erst mal tief Luft zu holen, um mit der Antwort dann noch weiter auszuholen. Vielleicht hat Jesus gedacht: Dazu hab ich jetzt wirklich keine Zeit und deshalb so unwirsch, ja man empfindet es geradezu als unhöflich, geantwortet: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.“
Doch Jesus nimmt sich die Zeit. Er nimmt den vor ihn Knienden ernst und antwortet, mit dem, was gutes Handeln ausmacht: nämlich den Gottes Willen zu tun und nach seinen Geboten zu handeln. Er zählt einige exemplarisch auf: „Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen“ usw. Interessant ist aber, dass Jesus dem Frager zu verstehen gibt: Du kennst doch die Antwort. Und tatsächlich antwortet der Reiche: Das habe ich getan.
„Ja, was fragst du denn dann?“ so möchte ich da dazwischenfahren. Der Mann kennt nicht nur die Antwort, sondern lebt sie ja auch. Was hat er sich denn von Jesus erwartet?
Aber der Mann hat offenbar noch etwas auf dem Herzen. Sonst gäben seine Fragen und sein Drängen keinen Sinn. Obwohl er all das gehalten hat, zweifelt er! Man könnte meinen, er könnte doch ein reines Gewissen haben. Oder bricht er heimlich doch die Gebote? Und belügt Jesus und letztendlich sich selbst? Nein, ich denke, wir müssen uns diesen Menschen, der hier Jesus fragt, als jemanden vorstellen, der sich redlich bemüht ... und dennoch zweifelt. Er zweifelt daran, ob das, was er tut, ein Gott wohlgefälliges und gerechtes Leben ist.
Sind solche quälenden Fragen vorstellbar? Ja!
In seinen jungen Jahren hat Martin Luther sich verzweifelt bemüht ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen. Er ist ins Kloster eingetreten, hat sich selbst kasteit. Er wollte mehr tun um sicher zu sein. Und wurde immer unsicherer. Alles was er versuchte, führte ihn doch nur zur Erkenntnis: sein von ihm geschaffenes gerechtes Leben kann vor dem ewigen gerechten Gott nicht bestehen. Irgendwann hasste er richtiggehend diese Gerechtigkeit Gottes, weil sie ihm so unerbittlich erschien.
Freilich, gerade in dieser Situation machte er eine entscheidende Erfahrung. Luther begegnet bei der Suche nach dem gerechten Leben das gerechtfertigte Leben. „Ich bin nicht fromm, Christus ist aber fromm.“ (*) Was bei dem Menschen nicht möglich ist, ist Gott selber möglich.
Liebe Gemeinde, jetzt haben wir einen Sprung gemacht zum Ende unserer Predigttextes. Da wird diese Erfahrung von Jesus ausgesprochen: Was bei dem Menschen nicht möglich ist, ist Gott selber möglich. Deshalb können und müssen wir unsere Hoffnung auch in der Frage des geglückten, des guten und ewigen Lebens allein auf Gott setzen.
Das klingt doch recht tröstlich, warum sagt Jesus aber dem – so nehmen wir mal an - verzweifelt suchenden Mann vor ihm nichts davon? Er legt im Gegenteil noch ein Schäuferl nach: Er setzt die Forderung Gottes an ein gutes und gerechtes Leben noch etwas höher an: der Reiche soll all seinen Besitz den Armen geben und Jesus nachfolgen. Kein Wunder, dass dieser deprimiert davongeht.

3. Gott will uns ganz

Liebe Gemeinde, fragen wir uns: Was brauche ich in meinem Leben? Und: Was bin ich bereit in meinem Leben aufzugeben? Woran hängt mein Herz? Und: Wo liegen meine Prioritäten?
Liebe Gemeinde, ich frage mich, ob ich auch so wie dieser reiche Mann mit Gottes Wort umgehe? Dass ich im Grunde eine Bestätigung meiner Lebensweise haben will. Dass ich wie dieser reiche Mann vor ihm hinkniet und erwarte, dass er sagt: Robert, so wie du dir dein Leben eingerichtet hast, ist es recht – es ist nicht in allen Bereichen optimal, aber man merkt, du bemühst dich, du bist auf dem richtigen Wege – im Großen und Ganzen stimmt die Richtung ... und vielleicht später ...
Ich denke, das ist es, was auch der reiche Mann von Jesus wollte. Ein bisschen Anerkennung, und vor allem eine Beruhigung, dass sein Leben doch soweit ganz in Ordnung sei.

Liebe Gemeinde, natürlich kenne ich meine wunden Punkte. Ich beruhige mich damit, dass man ja manches auch noch später ändern kann. Jetzt ist eben noch etwas anderes dran. Vielleicht würde ich wie jener reiche Mann zögern, jetzt zu Jesus zu gehen und ihn über mein Leben zu befragen. Ich würde diese Entscheidung auf später verschieben.
Wenn wir aber hinhören, ist von uns - wie bei diesem Mann vor Jesus - jetzt eine Entscheidung gefordert. Gott will uns ganz . Nicht nur am Sonntag, nicht nur in der Kirche, nicht nur beim Lesen in der Bibel, beim Gebet, sondern auch bei der Arbeit, in der Familie, mit Freunden und den Nächsten die uns begegnen, Gott will uns rund um die Uhr, jeden Tag ... und das sofort.
Der Mann vor Jesus kann dies nicht, weil er etwas hat, was dem entgegensteht. Jesus spricht es aus: „Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“
Liebe Gemeinde,
das ewige Leben beginnt hier und jetzt in der Begegnung mit Jesus und seinem Wort; vielleicht heute. Woran wir unser Herz hängen und womit es voll ist, das ist entscheidend.
Unser Heil steht allein bei dem, der Himmel und Erde gemacht hat. Leben wir auch danach? Oder gehört doch noch einiges mehr dazu: etwas Gut und Geld; Ausbildung, ein paar Sicherheiten; usw. Wer verlässt sich in seinem Leben ganz allein auf Gott?
Weil Gott uns total haben will, müssen wir erschrecken, wie die Jünger „Wer kann dann selig werden?“ Wer kann zu den Seinen gehören und sein Erbe im Reich Gottes sein?
Ich denke, dass Reichtum und Besitz nur ein Grund ist, um zu Gottes Ruf an uns nicht entschlossen ja zu sagen. Aber das macht diese Begegnung deutlich. Reichtum ist ein gewichtiger Grund – damals und heute.

Liebe Gemeinde, welche Überschrift würde daher zu unserem Text passen? Er hat ja mit uns zu tun und unserer Reaktion auf Gottes Ruf an uns. Mein Vorschlag lautet: Gott will uns ganz und dass sofort.
Ich merke, wenn ich mich hineinbegebe in diese Begegnung mit Jesus, dass ich wie die Jünger erschrecke: über mich selbst. Wie steht es um meine Schätze, von denen ich nicht lassen kann und will.
Liebe Gemeinde, da steht auch das tröstende Wort Jesu: Bei Gott sind alle Dinge möglich. Das ist wahr, und soll uns aufrichten und trösten. Dem reichen Mann sagt es Jesus aber nicht. Wer zu Jesus kommt, um in seinem eigenen Leben bestätigt zu werden, der bedarf eines solchen Trostes nicht und könnte ihn vielleicht auch nicht hören. Wer aber zu ihm kommt und bereit ist sich auf Gottes Führung in seinem Leben einzulassen, da gilt: Bei Gott sind alle Dinge möglich.
Amen

(*) WAT 2. Nr. 13 1351; 66, 1-7; 1532, in: Heiko A. Obermann, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1981, S. 161.

Prof. Dr. Robert Schelander, Wien
robert.schelander@univie.ac.at


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