Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

18. Sonntag nach Trinitatis, 25. September 2005
Predigt über Markus 10, 17-27, verfasst von Hans Martin Müller
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Hier kommt ein junger Mensch voll Freude und Begeisterung zu Jesus und geht traurig und betrübt wieder weg. Es geschieht heute wohl nur dann und wann, daß ein Mensch sich aufrafft und voll Erwartung in einen Gottesdienst kommt. Ob er findet, was er suchte oder ob auch er enttäuscht nach Hause geht? Wir Christen, der Prediger allen voran, müssen uns fragen: Haben wir etwas falsch gemacht? Wir versäumen ja leicht etwas an den Menschen, die den Weg zu uns fanden und von uns enttäuscht werden.

Aber können wir das von unserm Herrn auch sagen? Hat er diesen Mann enttäuscht, daß er betrübt wieder weggeht? Hat auch etwas an ihm versäumt? Versuchen wir einmal, ob wir den Weg des jungen Mannes im Evangelium mitgehen können, ob wir seine Begeisterung und seine Trauer nachfühlen und teilen können.

Da kommt also dieser Mensch zu Jesus, um ihm eine Frage vorzulegen. Viele Menschen kamen so zu ihm - mit neugierigen Fragen wie der König Herodes in der Passionsgeschichte, auch mit trügerischen Fragen wie die Gesandten des Hohen Rats, um ihm eine Falle zu stellen. Aber dieser hier fragt: „Guter Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben erlange?“ Das ist keine Neugier und das ist auch keine Falle. Das ist ernst gemeint: Was muß ich tun? Auch wir fragen oft so in unserm Leben. Was muß ich tun, um den richtigen Beruf zu wählen, um einen andern Menschen auf mich aufmerksam zu machen, an dessen Aufmerksamkeit mir liegt, um gesund zu bleiben, um glücklich zu werden? Aber dieser Mensch hier hat sein Ziel höher gesteckt als wir. Er fragt: Was muß ich tun, daß ich das ewige Leben erlange? So etwas fragt kaum einer von uns? Wir haben so viel mit unserem täglichen Leben hier in dieser Welt zu tun, daß wir die Frage nach dem ewigen Leben immer wieder zurückstellen; sie liegt jenseits unseres Gesichtskreises. Dieser Mann hier hat trotz seiner jungen Jahre gemerkt, worum es eigentlich geht. Er fragt nach dem Kern und dem letzten Ziel unseres menschlichen Lebens.

„Menschliches Wesen, was ist‘s gewesen? In einer Stunde geht es zugrunde, sobald das Lüftlein des Todes drein bläst,“ sagt Paul Gerhardt. Und das weiß auch dieser Mann. Alles, was wir sind und haben, alles, was wir uns geschaffen haben, woran wir hängen - in einem Augenblick ist’s dahin - unwiederbringlich verloren im Augenblick unseres Todes. Und wenn uns unsere Zukunft sonst auch verschlossen und undurchsichtig ist, eines wissen wir: Der Punkt, auf denn unser Leben unweigerlich zusteuert, das ist der Tod. Ob jung oder alt, ob arm oder reich, wir werden alle seine Beute.

Vor dieser Tatsache verschließen wir unsere Augen. Wir tun so, als ob es nicht viel bedeutete für unser Leben im hier und jetzt, oder wir finden uns einfach damit ab: Es kommt ja doch so, wie es soll. Aber in unserm Innern frißt die Gewißheit des Todes weiter und beeinflußt uns vielleicht mehr als wir es für möglich halten. Der Mensch hier in unserer Geschichte hat sich nicht damit abgefunden. Und so sucht er nach einem andern Leben, dem wahren Leben, dem ewigen Leben. Aber wo findet er es? Da kann ihm kein Weiser und kein Mächtiger dieser Welt einen Rat geben. Wo findet er dies Leben, über das der Tod keine Macht hat? Mit dieser Frage kommt er zu Jesus: „Guter Meister, was soll ich tun?“

Wir können ihn nur bewundern. Er schaut der Tatsache, die wir gern verschweigen, offen ins Auge, der Tatsache des Todes. Und da, wo wir resignieren und sie einfach verdrängen, will er etwas tun. Und so kommt er zu Jesus - voll Vertrauen, daß dieser die Antwort weiß, wo alle andern zweifeln und unsicher sind.

Wir bewundern diesen Mann, aber Jesus bewundert ihn nicht. Wie ein kalter Guß müssen Jesu Worte gewirkt haben: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut denn Gott allein.“ Und wenn du Gutes tun willst, dann halte dich an die Gebote Gottes. Mit einem Satz macht Jesus deutlich, wie leichtfertig wir mit dem Wort „gut“ umgehen. Wie kommen wir dazu, etwas „gut“ zu nennen, gar einen Menschen gut zu nennen? Meinen wir damit dasselbe, als wenn wir sagen: ein gutes Essen, eine gute Stellung, ein gutes Stück Geld? Doch wohl nicht. Ein guter Mensch - das ist eine ganz besondere Auszeichnung. Aber solch eine Auszeichnung kommt einem Menschen nicht zu. Denn kein Mensch ist gut im letzten und im höchsten Sinn. Und kein Mensch tut Gutes in einem letzten und höchsten Sinn. All das Gerede, daswir so häufig im Munde führen, wenn wir sagen: Der christliche Glaube bestehe darin, Gutes zu tun; im Werteunterricht solle den Schülern beigebracht werden, Gutes zu tun. All das Gerede wischt Jesus mit einem Satz hinweg: Niemand ist gut als Gott allein. Wir Menschen sollen nicht so große Worte machen und meinen, wir wüßten, was das Gute ist und wie man Gutes tut. Wir sollen erste einmal etwas anderes: Gottes Gebote halten; Du sollst nicht töten - du sollst nicht ehebrechen - du sollst nicht falsch Zeugnis reden - du sollst niemand berauben - ehre Vater und Mutter.

Das hält Jesus diesem Mann entgegen, der das ewige Leben ererben will. Und darüber ist der enttäuscht. Er hat etwas anderes erwartet von Jesu. Er hatte wohl gemeint, Jesus könne ihm einen besonderen Weg zum Leben zeigen, einen geheimnisvollen und vielleicht auch besonders schwierigen Weg. Und da kommt ihm Jesus mit den zehn Geboten. Das soll der Weg ins Leben sein, in das Reich Gottes? „Das habe ich alles gehalten von Jugend auf“, hält er Jesus entgegen und spricht uns damit aus dem Herzen: Wer von uns hat denn gestohlen oder einen andern Menschen getötet, wer von uns ehrte nicht seine Eltern? Müßten wir da nicht alle in das ewige Leben eingehen?

Aber mit dieser enttäuschten Reaktion verraten wir, daß wir Jesus ebensowenig verstanden haben wie der Mann in unserer Geschichte. Und daß wir Gottes Gebote nicht verstanden haben. „Du sollst nicht töten“ - so lautet das fünfte Gebot. Und was bedeutet das? „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserm Nächsten an seinem Leibe kein Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten.“ So lautet Luthers Erklärung dieses Gebots - und damit kommen wir der Sache schon näher. Haben wir wirklich immer unsern Nächsten im Auge gehabt, wenn es darum ging, zu unserm Recht zu kommen? Sind wir achtsam genug gewesen auf die unhörbare Bitte in den Augen eines Notleidenden in unserer Nähe? Oder haben wir uns damit getröstet, daß wir ja schließlich in einem Sozialstaat leben, in dem wir unsere Steuern zahlen? Daß es schließlich die Diakonie gibt, die sich um diese Dinge kümmert, und für die wir ab und zu eine Spende übrig haben?

Wir wollen diese Frage nicht beantworten und es nicht auf eine Probe ankommen lassen, sondern unseren Herrn hören. Er scheint noch eine Hoffnung zu haben für den jungen Mann, der sich so vertrauensvoll an ihn gewandt hat und nun enttäuscht ist: „Eines fehlt dir noch. Gehe hin und verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm - folge mir nach.“ Weil Jesus noch eine Hoffnung für ihn hat, ruft er ihn in seine Nachfolge und damit alles hinter sich zu lassen, an das er sein Herz gehängt hat. Und gerade das kann der Mann nicht. Er verlor seinen Mut und ging traurig weg, denn er hatte viele Güter.

Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Mensch, den Jesus in seine Nachfolge ruft, mutlos und traurig davonläuft. Und doch geschieht das hier bei diesem Reichen. Wir wollen nicht befreit aufatmen und denken: Wir haben glücklicherweise nicht viel Güter. Wir wollen auch nicht erleichtert aufatmen, wenn wir Jesu hartes Wort hören „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn das ein Reicher ins Reich Gottes komme“ und zu uns sagen: Wir sind ja glücklicherweise nicht reich. Denn Jesu nachfolgen, das heißt für alle - jung und alt, reich und arm: alles, was wir haben, weggeben ohne an die Folgen zu denken, ob das nun viel ist oder wenig. Und uns ganz und bedingungslos Jesus anvertrauen ohne Rückendeckung. Bringt das ein Mensch fertig?

Die Jünger Jesu, die seinem Ruf gefolgt sind, bezweifeln das und „entsetzen sich“: Wer kann dann überhaupt selig werden? Dann müssen auch sie, die alles verlassen haben, um ihrem Herrn zu folgen, am ewigen Leben verzweifeln. Und Jesus bestätigt es ihnen: Ihr habt recht, für die Menschen ist es unmöglich.

Unmöglich! - Sollte dies das letzte Wort sein, auch über unser Leben? Nein, das letzte Wort Jesu lautet: „Bei Gott ist es nicht unmöglich; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“ Freilich, der reiche Mann hört dies letzte Wort nicht mehr. Er ist schon betrübt weggegangen. Und es kommt der Tag, wo Jesus auch seine Jünger fragt: Wollt ihr auch weggehen? (Joh. 6, 67) Wieviele Menschen sind weggegangen und hören dies letzte Wort nicht mehr, weil sie schon bei dem Wort „unmöglich“ enttäuscht umkehren und meinen: Bei diesem Jesus ist das also auch nicht zu finden, was wir suchen. Sie hören dies andere, dies letzte Wort „Bei Gott sind alle Dinge möglich“ nicht mehr. Aber sie werden es einmal hören - an dem Tage, wo die Gnade Gottes überschwänglich ausgegossen wird über die ganze Welt und alle Menschen die Stimme Gottes hören.

Und solange wollen wir warten und nicht weglaufen und wollen dies Wort bewahren in einem feinen guten Herzen: „Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich.“ Und uns diesem Gott anvertrauen, daß er uns freimache von allen Bedenklichkeiten und uns auch da, wo wir nicht weiterkönnen, tragen möge in das neue Leben, wo nicht der Tod herrscht, sondern Er sein wird alles in allen. Amen

(Nach der Predigt könnte die Gemeinde aus dem Lied „O Durchbrecher aller Bande“
<EG 388> einige Strophen singen. Leider hat man die Strophe „Ach erheb die matten Kräfte“ <EKG 262,5> aus was für Gründen auch immer eliminiert.)

Hans Martin Müller
muellerhm@gmx.de


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