Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2005
Predigt über Markus 9, 17-27, verfasst von Christian Tegtmeier
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Ich komme gerade aus Leipzig, der Stadt, in der die Wende im Herbst 1989 begann. Die Begegnung mit den Menschen aus jener Zeit, die Gespräche beschäftigen mich. Manches macht mich betroffen, anderes weckt Erinnerungen und ich frage mich, wie das damals war bei mir und meinen Freunden. Mut und Freude, Dankbarkeit und Staunen erfüllen mich – einiges ist ganz dicht in mir, anderes wird wieder wichtig. Kaum zu glauben, das es schon sechzehn Jahre her ist! Kaum zu glauben, dass das scheinbar Unmögliche möglich geworden ist: mit Gottes Hilfe. Menschen machten sich auf aus den Fesseln einer Diktatur und der Ängste, weg von der lebensbedrohenden und einschüchternden Umwelt auf den Weg der Hoffnung, auf die Straßen der Freiheit zum Leben. Die anderen, die Mächtigen, die, die Menschen beherrschen und im Griff haben wollten, mussten ohnmächtig zusehen, kapitulieren, das Feld räumen. Der Weg der Freiheit bildete Leben und neue Gemeinschaft, war vertrauenswürdig und konnte Altes friedlich auflösen.
Im Rückblick fragen wir nach den bestimmenden Motiven. Da kommen politische Entscheidungen – der Wandel im Konzept der russischen Führung, günstige Umstände aber auch das Wagnis des Glaubens ins Spiel, werden benannt und wecken Gefühle und Erinnerungen. Hoffnung und Tatkraft entstehen im Schutz der Gemeinschaft der Glaubenden und der Hoffenden. Und einige sagen: die Kirche als Gemeinschaft der Gesegneten teilt ihren Segen mit denen, die in ihrer Seele nach Gott dürsten. Die Quelle zur Freiheit findet sich dort, wo Betende und auf Gott vertrauende Menschen ihre Hoffnung mit anderen teilen, andere teilhaben lassen an der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. Und im geschützten und schützenden Raum der Kirchen, im Zelt Gottes also, motivieren und stärken Friedensgebete offensichtlich unvergleichlich mehr als jede Rede draußen in der von Waffen strotzenden und gewaltbereiten Welt, wo Macht und Ängste vorherrschen und noch den Rahmen setzen.
Diese friedliche Revolution aus dem Glauben hat tiefe Wurzeln in der Lebensgeschichte unseres Herrn Jesus Christus. Im Evangelium nach Markus heißt es:

Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist.
Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht.
Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!
Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riß er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund.
Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, daß ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf.
Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, daß er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!
Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst - alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
Als nun Jesus sah, daß das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!
Da schrie er und riß ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so daß die Menge sagte: Er ist tot.
Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.

Die Umstände der Heilung eines epileptisches Kindes lassen sich rasch benennen: Die Jünger, das Volk und Schriftgelehrte streiten sich, unerwartet kommt Jesus dazu, fragt nach dem Grund des Streites und erhält Auskunft. Ein Vater möchte sein krankes Kind zu ihm bringen, das von einem „sprachlosen“ Geist besessen ist. Beide, Vater und Sohn sind schicksalhaft miteinander verbunden, die Freiheit des Vaters ist durch die Krankheit des Kindes überschattet, die Kraft zum glücklichen und gesunden Leben schwindet bei beiden mehr und mehr.
So sucht der Vater, der am Ende seiner Kraft ist Hilfe und Trost für sich und seinen Sohn, schildert die Krankheitssymptome und bitte Jesus um Heilung. Jesus weist erst einmal die Jünger in ihre Schranken und lässt den kranken Jungen zu sich bringen, der sogleich einen heftigen Anfall hat. Auf Nachfrage berichtet der Vater von der Dauer des tragischen Schicksals seiner Familie, aber auch von seiner großen Hoffnung , die er in Jesus setzt:
„Von Kind auf.
Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, daß er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“
Diese, für den Verlauf des Geschehens wichtigen Worte, liebe Gemeinde, zeugen von Hoffnung und Vertrauen, lassen letztendlich die Heilung möglich werden. Ich meine, nicht in der Heilung an sich liegt die Tiefe der überlieferten Geschichte, sondern in der Zuversicht und ungebrochenen Hoffnung des Vaters, die ihn allen Widrigkeiten zum Trotz Jesus aufsuchen , ihm seinen Not klagen, sich alles von der Seele reden lässt, was ihn und sein Kind beherrscht, ängstigt, ihnen Mut und Kraft raubt. Denn seit der Geburt des Sohnes müssen sie ohnmächtig mit dem Zwang und der Gewalt einer Macht leben, die sie um ihr wahres Leben bringen will und wird. Alle menschenmögliche Zuwendung und Heilung schlägt fehl, greift daneben, verstärkt das Leiden eher als dass es erleichtert , lässt Pflegende und den Kranken rat- und mutlos werden.
Und dann in der tiefsten Resignation ein Funke der Hoffnung, die fragende Bitte:
„Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“
„Wenn du Gott, es kannst!“ – wer sollte es denn sonst können? Das ist Gottvertrauen, das sind Worte eines mutigen Bekenners, keine stammelnden Worte eine völlig hilflosen Menschen. Das erkennt Jesus, deshalb hilft er und sagt:
„alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“
Wirklich alles! Der Vater bekennt seinen eigenen Unglauben, bittet um Stärkung seines Gottesvertrauens. Und Jesus hilft beiden, Vater und Sohn. Der Vater erfährt durch Jesus, wie es um ihn im Grunde seines Herzens steht, und so lässt er sich bewusst ermutigen, das neu gestärkte gewonnene Vertrauen Zur Lebensgrundlage werden zu lassen.

Ich erwähnte eingangs, dass ich gerade aus Leipzig komme, mit Menschen gesprochen habe, die zur Wende aus dem Glauben heraus beigetragen haben. Das gilt für glaubende Mitglieder der Kirche wie solche, denen Gottvertrauen bis dahin gänzlich fremd oder gar suspekt war. Sie alle teilen mit den Jüngern, dem Vater und dem Sohn die gute Erfahrung, dass ihre Bitte um Veränderung in der Not Widerhall fand, dass sie nicht allein waren in ihrem Gebet. Und so wie erlebter und getragener Glaube dem Kranken und seinem Vater neues Leben schenkte, wie um Gottes Willen Unmögliches möglich geworden war, so wandelte gemeinsam erlebtes Gottvertrauen und Gebet Angst in Freude, Zwang in Freiheit - oftmals nur durch das kleine Licht einer Kerze.
Gewiss, eine so glückliche Stunde lässt sich nicht „machen“, geschweige denn nach theoretischen Erkenntnissen gestalten. Doch eines gilt: wenn Jesus spricht, fordert er heraus – die im Gottvertrauen offenen Menschen ebenso wie jene, die meinen, dass sie auch ohne Gott selig werden können. Jesus schilt den Unglauben des Bittenden ebenso wenig, wie Kirche der Wende darauf verzichten konnte, sich um den Glauben und seine gebotene Stärke zu streiten.
Sie lebte überzeugend und glaubwürdig aus der Botschaft von Jesus Christus, steckte mit ihrem Glauben an, konnte mitreißen, bildete neue Gemeinschaften, gab Mut, Unmögliches zu wagen und überraschend möglich werden zu lassen. Um solche Kraft dürfen wir bitten, auch in weniger schicksalsschweren Stunden und Tagen. Zum Beispiel heute, am Tag der Wahl.
Jesu Zuspruch fordert dich und mich, euch und uns heraus, sein Heil zu sehen und anzunehmen. Wir können uns seine Gnade zusprechen lassen, uns aufmachen aus Resignation und Stagnation einer matten Gesellschaft in eine andere Zukunft. Von ihr wissen wir nicht, wohin sie uns führet. Wir wissen aber, dass wir Vertrauen wagen dürfen um Gottes Willen.
Dieses Wissen belebt den noch zaghaft Glaubenden und bestärkt den schon im Glauben Gefestigten. Das mutige Wagnis des Glaubens scheint in vielen Gemeinden zu fehlen, bei den Mitarbeitern ebenso wie bei den treuen Gemeindegliedern. Unser Glaube vermag wohl weniger Menschen anzustecken, als er es in Wirklichkeit könnte. Denn oftmals trauen wir Glaubenden uns nicht über das zu sprechen, was uns trägt und was uns von Gott als Weg zur Freiheit geschenkt wird.
So werde ich bitten, werde Gott meine Sorge und meine Not nennen, mich ihm anvertrauen, damit mein Gottvertrauen wachsen kann, damit mir der Mut nicht fehlt, den der Vater in seiner ausweglosen Situation hat: der Mut sich Jesus zuzuwenden und ihm zu sagen:
„Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“
Ich wünsche Ihnen, liebe Gemeinde, den Mut und die Kraft, sich an Ihn zu wenden.
Möge es am Vertrauen auch dann nicht fehlen, ihm zu folgen, wenn das lockende Ziel der Veränderung nicht schon draußen erkennbar vor der Kirche liegt.
Amen.

Christian Tegtmeier
gabriele.tegtmeier@t-online.de


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