Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2005
Predigt über Markus 9, 14-29, verfasst von Hans Joachim Schliep
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Anmerkung:
Die Predigt soll in der Kronsberger Abendkirche um 18.00 Uhr, dem regelmäßigen Sonntagsgottesdienst im früheren EXPO-Neubaugebiet, gehalten werden. Eine ausführliche Auslegung des Vf. findet sich -> im GPI-Archiv zur Stelle.

Liebe Gemeinde!

Pünktlich, als unsere Abendkirche begann, wurden die Wahllokale geschlossen. Deutschland hat gewählt. Jetzt werden die Stimmen gezählt. Alle warten auf die ersten Hochrechnungen. Bevor auch wir uns dieser Spannung aussetzen, können wir erst einmal ausspannen. Abstand gewinnen von den politischen Debatten der letzten Wochen, von der Frage, ob denn diese Wahl überhaupt verfassungsgemäß ist, von der schwierigen Entscheidungsfindung: Wem soll ich denn nun mein Vertrauen schenken? Was ist denn nun der richtige Weg für unser Land?

Abstand gewinnen von der Spannung der letzten Tage? Der Predigttext für heute, den wir vorhin als Biblische Lesung gehört haben, ist ganz schön lebendig und voller Spannungen. Ein Vater will, daß sein offenbar epileptischer Sohn geheilt wird. Jesu Jünger können das nicht - entweder weil sie in einen theologischen Disput mit Jesusgegnern geraten oder weil sie überhaupt unfähig sind. Jesus tritt auf und wird zornig: Was will dieser Vater? Warum ist noch nichts geschehen? Was seid ihr doch für ungläubige, kraftlose Leute! Erwartet Jesus von seinen Leuten, bald auch von dem Vater, daß sie handeln wie Gott?! Als das Kind in Jesu Nähe gebracht wird, hat es gleich einen Anfall: als sei es von allen guten Geistern verlassen und als werde es von allen bösen Geistern hin- und hergerissen, als folgte seiner totalen Sprachlosigkeit im nächsten Augenblick der Herzstillstand. Am Schluß macht Jesus diesem Treiben machtvoll und gebieterisch ein Ende und hilft dem Kind wieder auf die eigenen Beine. Vorher fragt er den Vater nach dessen Glauben, nach dem, was ihn bewegt und treibt, was ihn mutig und stark macht. Der Vater kann nur mit einem Ausruf antworten: „Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“

Nichts paßt zusammen in diesem Aufschrei! Wer kann denn glauben, ohne zu glauben?
Indem ich auf eine etwas andere Weise als sonst diesem Wort nachgehe, möchte ich uns allen Abstand verschaffen, uns in diejenige Spannung versetzen, die uns gut tut, die uns heilt von den Zerrissenheiten und Besessenheiten unseres Lebens.

„Ich glaube. HERR, hilf meinem Unglauben!“ Es ist dieses widersprüchliche Wort, aber es ist zunächst der Vater selbst, der mich hineinzieht in diese Geschichte. Ich kann nicht sagen, ich wäre aufgewachsen ganz ohne Glauben, aber er spielte in meiner Familie und in meinem beruflichen Alltag keine Rolle. Da konnte ich, als mir der Glaube begegnete in Menschen, die glaubten, und vor allem in der Gestalt des Jesus von Nazareth, gar nichts anderes sagen als: „Ich glaube. Herr, hilf meinem Unglauben!“ Das war gar keine Bitte um Glauben. Es war eine Bitte, überhaupt irgendetwas zu fassen zu bekommen von dem, was Glauben genannt wird.

Doch zuerst einmal war mir der Vater sympathisch, einfach als Mensch. Wie der sich um seinen Sohn kümmert. Wie der sich nicht schämt für sein behindertes Kind, wie er es zeigt und nicht versteckt. Wie der Vater um Hilfe sucht. Was hat dieser Mann alles durchgemacht?! Nicht nur im Blick auf dieses Kind, sondern im Blick auf sich selbst. Denn ein solches Kind, das dauernd „Schaum vor dem Mund“ hat, das in spasmischen Krämpfen zuckt und sich windet, galt damals als Strafe Gottes - und das heißt: alle Welt schloß von diesem Sohn auf den Vater, der Sohn entlarvte den Vater als Sünder. Der Vater, der für sein Kind das Unmögliche sucht, sucht es auch für sich selbst. Jesus aber antwortet zunächst nicht mit einer Tat, durch die Unmögliches geschieht, eine radikale Wendung, eine Heilung, sondern mit einem unmöglichen Wort: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Aber ist es nicht allein Gottes Sache, noch das Unmögliche möglich zu machen? Und das soll nun auch dieser Mann, dieser Vater? Unmöglich!

Doch worum geht es eigentlich? Was hat der Junge überhaupt für eine Krankheit? Was bedeutet es, daß er besessen ist wie von tausend Dämonen? Meine etwas ungewöhnliche These lautet: Es mangelt ihm an GEGENWART. Ja, an GEGENWART. Der Junge hat, wie der Vater sagt, „einen sprachlosen Geist“. Wenn es ihn überkommt, wird er „starr“; dann ist er total dicht, „stoned“, könnte man sagen. Er verfällt also in Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit. Infolgedessen nimmt er nichts mehr wahr, was um ihn herum und in ihm ist. Das meine ich mit Mangel, Verlust an GEGENWART. Und das ist dasselbe wie „Unglaube“. Denn „Unglaube“ heißt doch: Das nicht mehr richtig wahrnehmen, was ist. Seine Herkunft nicht kennen. Seiner Zukunft gegenüber gleichgültig sein. Nichts mehr davon spüren, wie jeder Augenblick ein Moment der Zeit in der Ewigkeit ist. Auch nicht mehr staunen können über die Schönheit des Lebens, zugleich das Erschrecken verloren haben über die Nachtseiten des Daseins. Kein Vertrauen mehr in die Gegenwart haben und keine Lust auf Zukunft.

Derzeit läuft alles unter der Devise: Leben im Hier und Jetzt. In der modernen Welt bedeutet es in Wahrheit aber: Du mußt nicht nur schneller sein als die anderen, du mußt dir selbst immer vorauseilen und kommst deshalb hinter dir selbst gar nicht mehr her. Die Welt bietet immer mehr Möglichkeiten, so daß in einer Lebenszeit davon immer weniger genutzt werden können. Auch wer sich mit anderen ehrlich und eifrig müht, diese Erde wieder bewohnbar zu machen, kann dabei ganz schön außer Atem kommen. So bist du dauernd „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Marcel Proust). Das macht heute das Leben so schwer. Es versetzt Junge wie Alte in eine Unruhe, die mehr zerstört als aufbaut, die mehr verschließt und „stoned“ macht als zu öffnen für die GEGENWART, für die Menschen und die Dinge des Lebens heute. Wir sind da kaum anders als der besessene, immerzu schon besetzte Junge.

Solcher „Unglaube“ überträgt sich auf den Vater. Der Vater aber widersteht ihm zugleich. Sein großes Wagnis ist nicht das Bekenntnis seines „Unglaubens“. Sein wirkliches Wagnis ist das Bekenntnis zu seinem „Glauben“. Das kann man erleben, wenn man von Menschen spöttisch oder neugierig gefragt wird: „Glaubst du wirklich - an Gott?“ Das habe ich selbst (nicht nur) als Werftarbeiter so erfahren. Zuerst habe ich argumentiert, Gründe genannt. Das hat aber wenig gebracht. Als ich aber einfach und spontan antwortete: „Ja!“ - da erst erwachte in den Menschen, die mich fragten, ein echtes Interesse; später konnten wir dann auch über Gründe sprechen.

Mit dem Glauben ist es wie mit der Liebe, der einen, großen: Nur ein einfaches „Ja!“ kann ihr gerecht werden! Vielleicht will Jesus gar nicht mehr von dem Vater, von uns, von dir und mir, wenn er in dem „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ dazu auffordert, einfach einmal auf die Seite Gottes zu treten, es einfach einmal mit dem „Glauben“ auszuprobieren?

Die (wenigen) Auszeiten, die ich mir in Taizé genommen habe, haben mich auf die Spur gebracht, mich einfach einmal dem „Glauben“ auszusetzen und von Gottes GEGENWART auszugehen. Durch das kleine Büchlein von Frère Roger: „Die Quellen von Taizé“ (Freiburg 2004, folg. Zitate: S. 11, 45, 51, 57) wurde die Erinnerung wieder wach. Im Blick auf den Ausruf des Vaters schreibt er von einer „stillen Erwartung einer Gegenwart“. An einer späteren Stelle spricht er uns unmittelbar an: „Vielleicht hast du es bemerkt: Zutiefst im Menschen ruht die Erwartung einer Gegenwart. Denk daran: Diese schlichte Sehnsucht ist schon der Anfang des Glaubens.“ Und dann schreibt Frère Roger - gleichsam im Gespräch mit Jesus Christus - Sätze, die auf mich wie heilender Balsam wirken: „Jesus Christus, du hast mir wiederholt gesagt: Lebe das wenige, das du vom Evangelium begriffen hast, verkünde mein Leben unter den Menschen, komm und folge mir nach.“ Im Blick auf‘s Gebet resumiert er: „Magst du auch keinen fühlbaren Widerhall spüren, die geheimnisvolle Gegenwart Christi weicht nie von dir.“

Das ist das eigentliche Wunder Jesu, das macht seine Wirkung aus: Jesus geht einfach vom Dasein, von der Gegenwart Gottes aus, von „Gottes Reich mitten unter uns“ (Lk 17,21). Das Leben ist dann keine verpaßte Gelegenheit, sondern gelebte, erfüllte GEGENWART - Gegenwart Gottes. Weil sie, gefangen im Streit mit anderen und im Widerstreit mit sich selbst, diese GEGENWART wieder einmal verpaßt hatten, konnten die Jünger dem Jungen nicht helfen. Umso einleuchtender wird Jesu Schlußwort: „Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.“ Denn was wäre Beten anderes, als in der Gegenwart Gottes zu leben?! Solche GEGENWART läßt glauben, daß es im Leben auch anders zugehen könnte, mit mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden, weniger Gewalt.

Das mag jetzt genügen - so zwischen vollzogener Wahl und erwarteter Hochrechnung. Mit der Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses müssen wir uns ja noch gedulden, bis alle Dresdener gewählt haben. In diesem Zwischenraum, in dieser Zwischenzeit - kann uns da helfen, was wir aus der Begegnung eines Vaters mit einem kranken Sohn mit Jesus gehört haben? Zumindest in der Weise, daß wir uns dessen vergewissern konnten: Wir leben in der Gegenwart Gottes - auch im politischen Kampf. Das befreit uns von dem Druck, diesen Kampf wie Besessene führen zu müssen. Aber es verpflichtet uns und gibt uns Kraft, uns selbst politisch so auszurichten, daß kein Mensch zu Boden geht und die, die zu Boden gegangen sind, wieder aufgerichtet werden. Jesus will offenbar den aufrechten Gang. Er gibt uns dafür eine Orientierung: „Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.“ Amen.

Hans Joachim Schliep
Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
0511 - 52 75 99
e-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

 

 


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