Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2005
Predigt über Markus 9, 17-27, verfasst von Traugott Koch
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Liebe Gemeinde!

Naturheilkunde war fast die einzige Medizin zur Zeit Jesu; aber auch spirituelle Heiler („Geistheiler“) gab es seiner Zeit nicht wenige, in Palästina und auch außerhalb, etwa in Griechenland. Spektakuläre Wunderheilungen zu vollbringen, das konnten auch Andere als Jesus. Also kann das bloße Heilen auch von schweren Krankheiten und schwersten Behinderungen Jesu Sache nicht sein. Wäre es das bloß, wir würden uns heute nicht mehr dafür interessieren. Jesu Heilungen sind von ihm mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden. Für Jesus zeigt sich in ihnen sichtbar, ganz augenfällig wahrnehmbar real, daß das Reich Gottes angebrochen ist und sich unter den Menschen auszubreiten beginnt. Jetzt, in der Gegenwart, jetzt und hier ist die Zeit des Heils. Jetzt ist die Zeit des Heils, in der „Gutes“ sich einstellt, „Gutes getan wird“ und „das Leben“ von menschen „gerettet“ wird vor dem Verbrechen (Mk 3, 4). Und dieser Anbruch des Reiches Gottes geschieht eben nicht in bloßen Worten; das Reich Gottes besteht nicht nur im reden, nicht allein als eine Botschaft; sondern es ist eine wirkende Kraft und so ist es im Leben von Menschen. Das beweisen Jesu Heilungen von Krankheiten und Behinderungen und – wie man damals meinte – von dämonischer Besessenheit, von einer Beherrschung durch einen „unreinen Geist“.

Doch Jesus setzte von Anfang an als Heilkraft, als entscheidender „Faktor“ für solche Heilungen, für solche Lebensrettung im Reich Gottes, auf einen unbedingten Glauben, auf einen Glauben, der sich völlig, vorbehaltlos, darauf verläßt, daß ihm geschieht, was Jesus ansagt: Rettung von Leben aus allem Zerstörerischen, Tödlichem und vor dem Tod. Zu der jetzt gesund gewordenen Frau sagt Jesus: „Tochter, dein Glaube hat dich geheilt, hat dich gerettet. Geh in Frieden.“ (Mk 5, 34).

Jesus hat vermutlich auch für sich persönlich solchen Glauben gelebt. Sorglos um sich selbst – wir würden sagen: in einem unfaßlichen Gottvertrauen – setzte er sich für die Kranken, Beschädigten ein, denen er begegnete. Angstlos, ohne jede Furcht vor Ansteckung, wandte er sich Aussätzigen zu. Über die damalige Ansicht, wonach man selbst „unrein“ wird, wenn man mit Unreinem wie einem Geschwür in Berührung kommt, setzte er sich einfach hinweg. In solcher Freiheit lebte er, gänzlich erfüllt von seiner Sache, dem bei Menschen wirklich werdenden Reich Gottes. Und darum ging von ihm eine Kraft aus, die gerade Notleidende, Kranke, Arme, Hilfsbedürftige anzog wie eine Heilquelle.

Für Jesus war jedoch klar: Gesundheit ist nicht alles; sie ist auch nicht die Hauptsache. Damit, nur gesund zu sein und folglich gesund werden zu wollen allein, ist man noch lange nicht im Reich Gottes. Jesus sagt zu denen, die mit ihrer Gesundheit Probleme haben, vielleicht weil sie nichts als ihre Gesundheit kennen: ‚Wenn deine Hand oder dein Fuß oder dein Auge dir zum Ärgernis werden, hau sie ab, reiß sie aus. Es ist besser, daß du als Krüppel oder lahm oder einäugig ins „Leben“, ins Reich Gottes eingehst, als daß du in die Hölle fährst’ (Mk. 9, 43-48).

Im Laufe der Zeit mußte Jesus aber die Erfahrung machen, daß er „solchen“, ganz vom Reich Gottes erfüllten „Glauben“ unter seinen Landsleuten fast nicht ‚gefunden’ hat (Matth. 8, 11). Jesus hat darum wahrscheinlich von einem bestimmten Zeitpunkt an das Heilen eingestellt. Wird von Jesus ein Wunder, ein „Zeichen vom Himmel“ als Ausweis seiner Gottbegabung, seiner „Vollmacht“ gefordert, so lehnt er das ab: „Wahrlich, ich sage euch: Es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben werden.“ (Mk. 8, 12) Aus der letzten Zeit Jesu in Jerusalem wird auch keine einzige Heilung von ihm berichtet.

In diesem Zusammenhang von Glaube und Heilung, von einem Glauben, dem Jesus alles an Rettendem, Leben Erweckendem, Heilung Schaffendem zutraut, gehört auch unsere, vom Evangelisten Markus erzählte Geschichte, die wir vorhin gehört haben: die Geschichte von dem Vater eines mit schweren epileptischen Anfällen geplagten und dadurch sprachunfähigen Jungen – und von den zu heilen unfähigen Jüngern oder Anhängern Jesu. Der Vater, der seinen schwerstbehinderten Sohn mitgebracht hat, beklagt sich bei Jesus über seine zu heilen unfähigen Gefolgsleute. Darauf antwortet Jesus so: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?“ (V. 19) Das angesprochene „ungläubige Geschlecht“, das sind seine Zeitgenossen, aber auch seine Begleiter, die Jünger, und das ist auch der Vater des Jungen. Bei ihnen allen hat Jesus den Glauben, den er auszulösen und in Menschen zu verwurzeln suchte, nicht gefunden. Wie lange soll er das noch ertragen? Wie lange soll er noch bei ihnen bleiben, um endlich das zu bewirken?

Auf Jesu Aufforderung hin wird der behinderte Junge zu Jesus gebracht. Nach einem neuerlichen Anfall erkundigt sich Jesus beim Vater, wie lange schon der Sohn so krank ist. Der Vater antwortet: „Von Kind an“ und verbindet das mit der Bitte: „Aber wenn du etwas vermagst, so hilf uns und erbarm dich unser.“ (V. 22) Schroff erwidert Jesus: „Wie kannst du zu mir sagen: Wenn du etwas vermagst?“ Jesus sagt also: Es geht doch gar nicht um mich, um mein Vermögen, meine Kraft – sondern: „Alles ist dem möglich, der da glaubt.“ Der Glaube ist es, der Hilfe schafft. Der Glaube ist es, der rettet. In der Erzählung heißt es weiter: „Gleich schrie der Vater des Kindes auf“ – welche Zumutung an ihn! – schrie auf, wie sein epileptischer Sohn aufgeschrieen hat, „und spricht: ‚Ich glaube, hilf meinem Unglauben’“ (V. 24). Um Hilfe bat der Vater für seinen Sohn; und nun bittet er um Hilfe für seinen Unglauben.

Als nun das Volk herbeilief, befahl Jesus dem „unreinen“ dämonischen Geist auszufahren, und der fuhr mit einem Anfall aus dem Jungen aus. Erschöpft, wie tot, liegt der Junge am Boden. Jesus richtet ihn auf. Als die Begleiter Jesu, die Jünger ihn fragten, warum sie denn jenen gottwidrigen, dämonischen Geist nicht austreiben konnten, antwortet Jesus: Das gelingt nur „durch Gebet“, nur durch eine konzentrierte Zuwendung zu Gott.

Liebe Gemeinde! „Alles ist möglich dem, der da glaubt“ – sogar eine Heilung, sogar das Bestehen einer schweren Krankheit oder eines langwierigen Leidens. Fragen wir deshalb, was es um die Macht des Glaubens ist, was die Macht des Glaubens vermag. Wieder und wieder beklagt Jesus den „Kleinglauben“, den kleinmütigen, letzlich mutlosen Glauben, der so gar nichts Großes, Umwendendes erwartet, der den Blick nicht zu heben vermag: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ (Matth. 8, 26) Das kann er nicht verstehen, wie man jetzt, wo das Reich Gottes im Kommen ist, wie man da so gedrückt, so kümmerlich und halb verzagt sein kann. Mit Jesus ist doch Gott und seine Gemeinschaft mit Menschen, sein „Reich“ da: eine neue Gemeinsamkeit unter Menschen mit einem weiten, alle umfassenden Horizont bricht an. Wie kann man da nicht hinzugehören – wie kann man da nicht glauben, daß das jetzt geschieht, daß Neues geschieht und Leben gerettet wird?! Nach Jesus genügt auch ein kleiner Glaube, wenn der nur wächst und gedeiht wie ein Senfkorn (vgl. Matth. 13, 32): „Wahrlich, ich sagee euch: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berg: Rücke von hier weg dort hinüber, und er wird fortrücken; und euch wird nicchts unmöglich sein.“ (Matth. 17, 20)

Und wir, hier und heute, die morgen schon wieder im Alltag stehen? Sollen wir uns nur als Kleingläubige, Kleinmütige und Aussichtslose bekennen? Sind wir ehrlicherwweise nichts mehr als das? Ich nehme ds nicht an. Das muß nicht so sein, und das ist auch nicht nur so. Wohl gibt es Berge, die auch der Glaube nicht versetzt, nicht aus dem Wege räumt. Sicher, wir wissen es, etliche unter uns müssen mit ihrer Behinderung leben und ihre Angehörigen auch. Ja, damit leben werden sie. Und immer ist dabei die Frage, wie sich recht leben läßt. „Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen. Wollt ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben“: und ganz ruhig, zuversichtlich bleiben (P. Gerhardt, EG 370. Str. 7). „Unverzagt“, selbst bei einer schweren Beeinträchtigung, das wird nicht ohne den Glauben sein. Der Glaube ist`s, der das Wunder macht, daß einer dessen gewiss ist, unverloren zu sein, in seinem ganzen Leben nicht ohne Liebe Gottes zu sein. So kann einem das Herz weit werden und man merkt, von wieviel Freundlichkeit man lebt, zuweilen ganz unverdient.

Verschiedentlich haben Menschen berichtet, wie ihnen geschah, daß aus verzweifelter Lage heraus sie wieder Mut faßten und ihres Lebens gewiß wurden – und zu solch neuer Zuversicht kamen, gerade als sie erlebten, daß sie mit ihrer Kraft und Anstrengung am Ende waren. Der ganze Krampf, sein Leben sich selbst zu besorgen, fiel auf einmal, scheinbar ganz zufällig, von ihnen ab. Wenigstens eine Beschreibung sei angeführt. Sie stammt von Schwester Christamaria Schröter und steht in ihrem Buch: „Unter / brochen“. Sie lag nach einem schweren Autounfall mit Brüchen, Splittern und Quetschungen monatelang in einer Unfallklinik. Nach einer gewissen Zeit schreibt sie auf:

„Am Bettrand – am Existenzrand
Rührt mich nicht an          schreit es aus meinem Kopf
Es tut mir leid         ich kann nicht mehr
Zusammengesunken      lahmgelegt      stumm
Überflutet vom Schmerz      und ringsum fremde Blicke
Erschöpfung      als gäbe es keine Erholung von ihr

Bewegungsübungen mit dem verschraubten Bein     Heute
ist alles aus mir herausgeholt was zu einem noch so kleinen
Lebensgefühl gehört      Nichts geht mehr
Verzweiflung      Selbstverachtung hämmert nach innen:
Waschlappen du! Wehleidige Jammerin! Reiß dich zusammen!
Was soll das Theater! Führ dich nicht so auf!

‚...Gehen Sie vorsichtig um mit dem Bein’
unterbricht eine ruhige Stimme den Monolog
‚Mit solchen Verletzungen können Sie kein Held sein!’
Dr. Sch`s Gesicht kann ich vor Tränen nicht sehen
Ich bin sprachlos      Das war kein Scherzton –
Der Widerstand      aus dem ich bestehe
ist plötzlich aufgelöst durch eine Kraft des Verstehens
Wenige Worte rücken Dinge an den Platz
Schaffen Durchblicke –

Barmherzigkeit von Dir      Gott      die mich nicht bloßstellt
nicht demütig...

Ich nehme mein Bein wieder ‚zu mir’
Ich höre auf      mich      das Bein      meine Schwachheit
zu beschimpfen
als wäre einer hinter mir her
und stellt unerbittliche Forderungen...“
(S. 98)

Soweit der Bericht dieser Frau. Der schlichte Satz des Arztes, wonach man in solcher Situation kein Held sein muß, eben jetzt und zu dieser Frau gesagt, wird zum Gotteswort, das Leben weckt, Leben rettet und heilt – und wofür man der Barmherzigkeit Gottes dankbar sein kann.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, der bewahre uns in Christus Jesus. Amen.

Literatur: T. Koch, Jesus von Nazareth, der Mensch Gottes. Eine gegenwärtige Besinnung. Tübingen 2004. – Christamaria Schröter, Unterbrochen. Tages-Skizzen nach einem Unfall. Selbitz: Christusbruderschaft 1995.

Prof. Dr. Traugott Koch
Wendelohstr. 86 h
22459 Hamburg
Tel.: 040 5510979


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