Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2005
Predigt über Klagelieder 3, 22-26.31-32 , verfasst von Ralf Hoburg
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


I.
Die Allgegenwärtigkeit der Klage

In Zeiten, in denen sich die Lebenssituationen verschlechtern, wächst die Sehnsucht nach einem göttlichen Eingriff oder vielmehr der Wunsch nach dem sich offenbarenden Gott. In der Not wächst das Rettende auch – sinngemäß formulierte dies Theodor W. Adorno kurz vor seinem Tod. Wenn sich die Klagen verstärken und Töne des Missmutes öffentlich zu hören sind, so ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass es um Land und Leute nicht gut steht. Gründe zur Klage gab es in jedem Zeitalter. Bei einem Besuch in Berlin in diesem August durchwanderte ich verschiedene Ausstellungen. Ob es nun die Dokumente und Zeugnisse jüdischer Vertreibungen im Mittelalter und die darin zu spürende Verarbeitung der Pestepedemien war oder ob in einer anderen Ausstellung mit sehr bewegenden Dokumenten über die Monate kurz nach dem Endes des 2. Weltkrieges 1945 berichtet wurde: Übereinstimmend war für mich auf den Gesichtern der Fotos und den bildlichen Darstellungen der Gestus der Klage zu erkennen, die die Not zu verarbeiten sucht. Auch die großartige Goya-Ausstellung in der Alten Nationalgalerie zeigt das doppelte Gesicht von Elend und Glanz. Es wird einerseits das sich bis zur Dekadenz steigernde Leben des aufstrebenden Bürgertums zur Zeit der Aufklärung beschrieben und andererseits drücken Gesichter und die Gestaltgebung der Figuren eine innere Leere und stilles Wehklagen aus. Die Klage muss also nicht immer sichtbar sein, sondern ist auch in der Stille zu spüren. Wohl am eindrücklichsten hat der norwegische Maler Edvard Munch in seinem Bild „Der Schrei“ das unterdrückte Klagen eines Menschen visuell geradezu hörbar gemacht. Die Klage wird in Kunst, Literatur und Musik zu allen Zeiten der Kulturgeschichte zu einem Reflex über die Dringlichkeit existenzieller Bedrängnis und zu einem Ruf aus der Not. Vor dem biblischen Hintergrund gesehen bilden die Klage und das Lob die zwei Grundhaltungen des Gebetes, die helfen sollen das Erlebte im Angesicht Gottes innerlich zu verarbeiten. Wer Klage erhebt, der verarbeitet das Erlebte und unternimmt den Versuch, seine Not vor ein gleichsam höheres Gericht zu bringen. Von Anfang an also ist im Akt des Klagens die Hoffnung auf Erhörung der Klage mit angelegt. Dabei ist es eigentlich nur von untergeordneter Bedeutung, ob Gott oder eine andere metaphysische Kraft das Gegenüber des Klagenden ist. Die Bibel ist voll von Klagen. So klagt Hiob darüber, dass er ungerechterweise ins Elend gestürzt ist, die Beter der Psalmen klagen über die Not und das Elend ihres Lebens und Jesus selbst klagt über die Pharisäer und Schriftgelehrten. Letztlich drückt die Klage aber vor allem ein menschliches Grundbedürfnis aus.

Im visuellen Zeitalter von Fernsehen und Medien sind wir beinahe der Bilder des Klagens satt. Es droht die Gefahr, abzustumpfen und inmitten der Klagelitaneien scheint der einzelne Mensch mit seinen Gründen zur Klage zu verschwinden. Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen unzufriedenem Meckern und der berechtigten, weil zutiefst existenziellen Klage? Die Politik und die Medien klagen seit längerem die schlechter werdende Lage Deutschlands im internationalen Vergleich an. Wir sprechen gelassen vom sog. „Pisa-Schock“ oder der „Bildungskatastrophe“ und klagen weithin über einen Sozialabbau. In der Tat: es steht nicht gut um unser Land, aber auch um die ganze Welt. Wenn man aufmerksam die letzten Jahre oder gar Jahrzehnte verfolgt, so zieht sich das Klagen wie ein immer neues Menetekel an der Wand durch die Geschichte. Gegenwärtig nehmen wir wieder Anteil an der Klage von Menschen, die durch die Naturkatastrophe eines Hurricans in den USA entwurzelt sind. Es sind gerade die Benachteiligten und Ärmsten, die es schlimm getroffen hat und die sich nicht aus der Stadt retten konnten. Im Verlauf eines Jahres ist dies nach dem Tsunami inzwischen die zweite schwere Naturkatastrophe, die sich jederzeit und an allen Orten der Welt wiederholen kann. Wir haben Grund zu der Klage, dass der Mensch nun selbst die Folgen der nachhaltigen Umweltzerstörung mit aller Macht der Natur zu spüren bekommt. Aber nicht immer sind die Gründe zur Klage so spektakulär. Die goldenen Jahre sind, das spüren wir hierzulande deutlich, erst einmal vorbei. Immer mehr Menschen können durch Wohnungsnot oder Arbeitslosigkeit durch die Löcher der sozialen Sicherung fallen und immer mehr Menschen halten der Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft nicht mehr stand. Die Aggressivität im Miteinander der Menschen nimmt zu und einer erhebt Klage wider den Anderen. Die Sehnsucht nach den sog. Fleischtöpfen Ägyptens, aus denen sich Wohlstand und Wohlergehen schöpften, wächst.

Aber wohin oder an welches Ohr fließt der Strom der Klagen? Gott spielt doch als Gegenüber des Menschen in unserer Gesellschaft keine scheinbar große Rolle mehr. Folgt man dem Trend der Zahlen, so dürften die Kirchen in Deutschland langsam aber allmählich ihre Existenzberechtigung verlieren. Aber die Ablehnung der Institution Kirche bedeutet nicht automatisch auch die Abwendung von Gott oder einer religiösen Sehnsucht. Inzwischen ist der Glaube Privatsache geworden und somit können wir aus kirchlicher Perspektive nur erahnen, ob und wie gläubig die Menschen wirklich sind. Der Glaube hat sich zwar in einem größer werdenden Ausmaß von der Lehre der Kirche entkoppelt, aber die religiöse Sehnsucht ist spürbar und der Wunsch die eigene Klage vor Gott zu bringen, ist nach wie vor deutlich vernehmbar. Inzwischen ist der Ort der Kirche wieder zu einem öffentlichen Zufluchtsort geworden. Als in den vergangenen Wochen erneut ein kleines Kind getötet wurde, meldeten die Nachrichten, dass die örtliche Kirche völlig überfüllt sei. Zunehmend sucht die persönliche Klage der Menschen ihre Wege in einer öffentlichen Trauer. In ihrer eigenen und persönlichen Klage wollen die Menschen begleitet werden und suchen sie nach Deutungen für das Geschehene. Hier sind Kirche und Theologie in einer sie fast bedrängenden Weise nach Antworten gefragt, ja man kann sagen, dass vor dem Hintergrund von biographischem Scheitern und persönlicher Schicksale die Religion als ein lebensbestimmender Faktor eine wichtige Rolle erhält. Die Frage, wo Gott in meinem eigenen Leben ist, hat inmitten aller Säkularisierung ihren bleibenden Ort.

II.
Die Klage und die Hoffnung auf Überwindung

Der Predigttext für den 16. Sonntag nach Trinitatis aus den Klageliedern Jeremias setzt die Klage eines einzelnen Menschen voraus, der sein Leben im Gebet vor Gott ausbreitet. In Klagelieder 3,1-19 lesen wir von einem Mann, der in seinem Leben das Elend gesehen hat (V.1) und der – wie er selber schreibt – durch Gott mit „Bitternis und Mühsal umgeben“ (V.5) wurde. Die Erfahrung des abwesenden Gottes treibt diesen Mann in seinem Nachdenken um. Es ist nicht weniger die existenzielle Erfahrung des Scheiterns, die sich in der Klage eines Menschen vor Gott Bahn bricht. Insofern ist der Beter dieses Textes in gewisser Weise ein „Jedermann“ (Hugo von Hofmannsthal), nur mit dem Unterschied, dass er seine Not vor einem Publikum schriftlich offen legt. Mir scheint, als ob der Predigttext geradezu eine Aufforderung darstellt, offensiver mit den Erfahrungen des eigenen Scheiterns umzugehen. Wer hier nun aber zu voreilig gleich an einen Vergleich zu den Talkshows der heutigen Tage denkt, geht fehl in der Annahme. Weder geht es darum, vor einem Millionenpublikum Mitleid zu erheischen noch nach Schuldigen zu suchen. Sondern seine Klage ist Reaktion auf ein Ereignis, das aus der Sphäre des Individuellen herausgehoben ist und gleichzeitig der Versuch einer offensiven Vergangenheitsbewältigung. Über die individuelle Klage des Mannes hinaus ist der Text aber auch ein Politikum, weil sich in ihr bzw. hinter den Worten auf einer gleichsam allegorischen Ebene die Klage des Volkes verbirgt. Der Mann, der hier klagt, ist kein geringerer als das Volk Israel, das inmitten der Vertreibung und des Exils über die vermauerten Wege der Zukunft nachdenkt.

Der Text steht im Zentrum von fünf selbständigen Liedern, die das Zeugnis einer Reaktion auf die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und des folgenden Exils sind. Aus der Perspektive des Glaubens schien Israel den Weg verfehlt zu haben und musste nun feststellen, dass der Weg vermauert war mit Quadern und der Pfad der Geschichte zum Irrweg geworden war (V. 9). Die Zerstörung des Tempels kam im Selbstverständnis Israels fast der Zerstörung der eigenen Identität gleich. Mit dem Exil setzte dann in Israel auf eine sehr unterschiedliche Weise eine Art „Vergangenheitsbewältigung“ ein. Das Aufarbeiten der Geschichte bildet eine entscheidende Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit. Wie in den Klageliedern so deuteten die Propheten stellvertretend für Israel diesen Weg und wurden damit über ihre Mahnungen und Unheilsbotschaften hinaus lebendige Beispiele für die Fähigkeit Israels, gerade in der Krise ein erneuertes Gottesverhältnis aufzubauen. Trotz der Erfahrung des Unheils hält Israel an der Hoffnung auf Gottes Treue fest – und wird belohnt. Gott wendet sich seinem Volk immer und immer wieder neu zu. Wie es genau und an welchem Punkt es zu dem Wechsel zwischen der fast vernichtenden Klage und der deutlichen Hoffnungsgewissheit kommt, bleibt letztendlich ein Geheimnis. Hin und wieder sind jüdische Autorinnen und Autoren auch in der Selbstdeutung der Schoa soweit gegangen, die These zu wagen, dass die Hoffnung auf die Güte und Barmherzigkeit des Herrn der Motor war, das Unfassbare der Konzentrationslager zu überleben. Ich kann als Christ nur meine tiefe Bewunderung vor dieser, dem Judentum inhärenten Hoffnungskraft bezeugen. Neue Ansätze dieser jüdischen Hoffnungsgewissheit sind auch in Deutschland seit einigen Jahren zu spüren, denn inzwischen ist das jüdische Leben 65 Jahre nach der Schoa wieder ein fester Bestandteil in der städtischen Kultur Berlins. Und wer den wunderbaren Kino-Film „Alles auf Zucker“ gesehen hat, spürt hautnah, wie eng in jüdischem Denken Totenklage und Lebensfreude miteinander verbunden sein können.

III.
Die Gewissheit der Barmherzigkeit

Mit Vers 22 beginnt nun die große Wende in der Klagelitanei des betenden Mannes. Sie deutet sich langsam an, wenn in Vers 20 die Gewissheit ausgesprochen wird: „Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir’s“. Die tröstende Gewissheit des Herzens bricht sich hier im Bewusstsein Bahn. Mit der Gegenwart Gottes in der Not ist zu rechnen. Er ist derjenige, der da sein wird so wie es in 2. Mose 3 verheißen hat: „Ich werde dasein“. Für diese Gewissheit der Gottesgegenwart, die Ausdruck des eigenen Glaubens ist, bildet die Klage geradezu die innere Voraussetzung.

Wie aber kommt es zu dem fundamentalen Wechsel in der Bewertung der Not? Erst die Klage und dann die Gewissheit um die Güte und Barmherzigkeit JAHWES? Der Wechsel von Not und Rettung wiederholt sich in der Geschichte Israels. Am Anfang der Geschichte des Volkes steht eine Befreiungserfahrung. Die Rettung des Volkes am Schilfmeer bildet den Kern des Verhältnisses von Jahwe und Israel. In der Situation der persönlichen Niederlage und Vernichtung erinnert sich der Mann, d.h. Israel an die Taten Gottes. Gleichzeitig wird die eigene Zukunft und die Zukunft des Lebens in die Hände Gottes gegeben. Die Klage verändert sich in der Perspektive des Glaubens fast unmerklich in ein Glaubensbekenntnis. So drückt es Vers 22 aus: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und Deine Treue ist groß.“ Aus dem Wissen, dass Gott nicht ewig verwirft, kommt die Kraft aus der Mitte des Glaubens die Krise zu überwinden. Der Predigttext drückt dies mit dem Wort der Barmherzigkeit aus.

Die Wende von der Klage zum Glaubensbekenntnis entstammt demnach dem tiefen Bewusstsein, dass Gottes Barmherzigkeit für den Menschen erkennbar wird. Für das Judentum geschieht dies durch die Erinnerung an das Verhältnis zwischen dem Volk und Jahwe und durch die Vergegenwärtigung der Taten Gottes in der Geschichte des Volkes. In Liturgie, Feier und Festen wird die Erinnerung daran wach gehalten. Im Christentum nimmt diese Funktion die Vergegenwärtigung Jesu Christi in der Gemeinde ein. Dietrich Bonhoeffer beschreibt dies mit dem Wort: „Christus als Gemeinde existierend“. Die Güte Gottes und seine Barmherzigkeit liegen aus der Sicht des Christentums in Jesus Christus verborgen. Er ist der „Mann“, der stellvertretend den Sühnetod am Kreuz stirbt und auf dessen Wiederkehr die Christenheit inmitten aller Zeiten und Klagen hofft. In dem Reformationslied „Ein feste Burg“ findet sich in Strophe zwei die Aussage: „Es streit’ für uns der rechte Mann,/ den Gott hat selbst erkoren./ Fragst Du wer der ist?/ Er heißt Jesus Christ,/ der Herr Zebaoth,/ und ist kein andrer Gott,/ das Feld muss er behalten.“ Während also das Judentum die Rettung aus der Not aus der eigenen Geschichtserfahrung herleitet, so erinnert sich das Christentum an das Kreuz. Aus der Sicht des Glaubens indes ist es die Kunst, oder so bezeichnet es der Text geradezu als ein köstlich Ding, geduldig zu sein und auf die Hilfe des Herrn zu hoffen (V. 26). Mit dieser Ermahnung wird der Text wieder hoch aktuell. Denn in der Gegenwart mangelt es allzu sehr an der Hoffnung. Die Geschwindigkeit und Schnelllebigkeit der heutigen Zeit führt allzu rasch in die Klagelitanei. Die Unzufriedenheit steigert den Wunsch nach Meckern und Klagen. Die Welt wird zur Reparaturwerkstatt und so schnell wie bei Formel 1 Rennen der Boxenstopp geschieht, so schnell soll eine Lösung für die Not herbei gezaubert werden. Meistens finden wir dann schnell einen Schuldigen, wenn’s nicht so klappt und der für die Not verantwortlich gemacht wird. Der Text erinnert mich inmitten aller Turbulenzen dieser Tage zwischen Katastrophen, steigenden Ölpreisen und der bevorstehenden Wahl in zwei Wochen an die Tugend der Geduld. Beim großen Klageduell zwischen dem Menschen und Gott, das in diesem Predigttext vor unser aller Augen und damit in aller medialen Öffentlichkeit geführt wurde, gibt es in der Tat einen eindeutigen Sieger: und das ist die Barmherzigkeit Gottes! Was will man denn noch mehr? Aus dieser Gewissheit heraus wünsche ich Ihnen eine gute Woche wo immer Sie sein mögen. Seien Sie Gott befohlen und meckern sie nicht zu viel, denn: „Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“

Amen

Prof. Dr. Ralf Hoburg, Hannover
RalfHoburg@aol.com

 


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