Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2005
Predigt zum Hafengottesdienst in Stade, verfasst von Ekkehard Heise
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Predigt zum Hafengottesdienst in Stade am 11.9.2005

Liebe mittelalterliche Hafengemeinde,

ein Hafen ist ein Umschlagplatz für Waren aller Art.
Wenn wir uns gleich
im Anschluss an diesen Gottesdienst
in das Hafentreiben begeben,
dann bekommen wir einen Eindruck davon.

Viel Interessantes gibt es dort zu erwerben,
neugierig könne wir den verschiedenen Handwerkern und Künstlern zusehen.

Ein Hafen ist auch ein Umschlagplatz für Nachrichten,
Hoffnungen,
Gerüchte
und Geschichten,
und wer ein geübtes Ohr hat
und Bewohner von Hafenstädten haben darin eine große Erfahrung, -
wer im Hafentreiben genau hinzuhören versteht,
der weiß mehr aus der Welt
und von Hoffnungen mehr,
als manchem Mächtigen lieb ist.

Der christliche Glaube,
nicht die Staatsreligion,
der Glaube des Volkes,
lebt auch von solchen subversiven Geschichten,
in denen von einer Macht die Rede ist,
die die Herrscher mit Furcht erfüllt,
weil sie ihnen nicht zur Verfügung steht.

Aus solchen Geschichten setzen sich die Evangelien zusammen.
Aus Geschichten über die göttliche Macht Jesu
und über seine Worte,
die von einem Reich der Freiheit sprechen
reich für das Volk und nicht für die schon immer Reichen,
von Lebensmöglichkeiten
außerhalb der festgelegten Erfolgsleitern
und versklavenden Konsumzwängen.

Die Agenten der vorgeschriebenen Lebensformen erschraken
und trachteten schon früh nach dem Leben Jesu:

12 Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin diese Worte gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon. (Mk 12,12)

Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu
wurden die Geschichten noch gewagter.
Die Hoffnung auf Befreiung noch brennender.
Befreiung von allem das den Tod bringt.
Es wurde immer gefährlicher solche Geschichten zu erzählen.
Das letzte Buch der Bibel
ist deshalb in einer Geheimsprache verfasst.
Die Offenbarung des Johannes versteht nur,
wer die Codenamen und Schlüsselworte richtig deutet.
In den Hafenstädten der Welt
wurden solche chiffrierten Botschaften
einander zugeraunt und unter die Leute gebracht.
„Die Tage der großen Abzocke sind gezählt.“
„Die Gefängnisse sind überfüllt.“
„Immer mehr Sklaven werden Christen.“

Der christliche Glaube,
nicht die offizielle Religion,
lebt und überlebt in den Herzen und Geschichten der Menschen
in allen Jahrhunderten.

Die Geschichte von John Newton zum Beispiel
eine Geschichte,
die auch nicht allen gefallen hat,
am wenigsten seinen hochkarätigen Geschäftspartnern.
John Newton, nämlich, war Sklavenhändler.

Er wurde am 24 Juli 1725 in London geboren.
Sein Vater war Kommandant auf einem Handelschiff,
das die Häfen am Mittelmeer anlief.
Als John Newton 11 Jahre alt war,
begann er mit seinem Vater zur See zu fahren.
Nach wechselhaften Jahren als Seemann
wurde er selbst Kapitän
auf einem Schiff, das Sklavenhandel betrieb.

Eines Nachts geriet das Schiff in einen fürchterlichen Sturm
und alle wussten, wir werden sinken.
Der Kapitän John Newton auf der Brücke
er war niemals ein frommer, religiöser Mensch gewesen,
aber in jener Nacht rief er:
„Lord, have mercy upon us.
Herr sei uns gnädig.“

Das Schiff wurde gerettet
und später
in seiner Kabine
grübelte Kapitän Newton über das Erlebte nach.
Gott hatte das Schiff gerettet.
Seine Gnade war es
und galt sie nicht allen auf dem Schiff:
der Mannschaft
und auch der Ladung – den Sklaven?

Zeit seines Lebens beschäftigte John Newton diese Frage
und er hörte nicht auf, sich zu wundern,
zu wundern über diese erstaunliche Gnade Gottes:

Amazing Grace.

Der ehemalige Kapitän des Sklavenschiffes
erzählt in diesem Lied seine Geschichte
die Geschichte der Gnade Gottes,
die ein falschgelaufenes Menschenleben wie das seine rettete:

I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see.

Ich war verloren doch nun bin ich gefunden
Ich war blind, doch nun kann ich sehen.

Der Sklavenhändler sieht
dank der Gnade Gottes
die Brutalität und Erbarmungslosigkeit des Wirtschaftssystem,
das sich auf die Versklavung von Menschen gründet.
Erst im Jahre 1865
wurde in den USA die Sklaverei abgeschafft.

Amazing Grace ist ein Lied in der Tradition der Gospelsongs,
die unserem heutigen Gottesdienst seinen Inhalt geben.

Die Gospel-Musik, entstanden aus den Liedern
der farbigen Amerikaner
in den Südstaaten der USA.
Die Gospel-Songs drücken nicht nur
die Liebe zu Gott,
sondern auch zum Leben
und den Menschen aller Rassen und Hautfarben aus.
Das sind subversive Gedanken in einer Sklavenhaltergesellschaft.

Beinahe alle der ersten Afrikaner,
die die Neue Welt erreichten,
waren Sklaven.
Sie mussten in den Städten oder in der Landwirtschaft arbeiten.

Die, als heidnisch verdächtigten Trommeln
wurden ihnen in ihren Gottesdiensten verboten.
So entstand als die typische rhythmische Begleitung ihrer Lieder
das Klatschen und das mit den Füßen stampfen.

Viele Gottesdienste waren geheime Treffen
um gemeinsam Freud, Leid und Hoffnungen zu teilen.
Auf solchen Treffen hörten Tausende von Sklaven
herumziehende Prediger
und sangen ihre Lieder,
von der Botschaft von Jesus Christus
und seiner für sie guten Nachricht,
dem Evangelium - dem Gospel.

Gospel – Songs sind Lieder,
in denen das schwarze Volk von seiner Befreiung erfährt.
„Our God is so good,
he set us free,
praise him, praise him…”

so haben wir vorhin gehört.

Die Sklaverei macht es notwendig,
bestimmte Dinge nicht offen auszusprechen.
So singen sie Oh happy day
und meinen den Tag ihrer Befreiung.
In der verschlüsselten Sprache der Sklaven
hießen die Gebiete ohne Sklaverei:
“my home”
oder
“the Promised Land”.
Diese Land war auf der nördlichen Seite des Ohio,
den man in der verschlüsselten Sprache
“Jordan”
nannte.
„Down by the riverside gonna lay my bourdon down ...“
auch dieses Lied haben wir heute gehört.

So sind wir in Gedanken im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika,
in den Regionen,
in denen auch heute noch die meisten
armen und farbigen Menschen leben.

Wir haben von den geheimen Nachrichten
und Gerüchten in den Hafenstädten gesprochen.

Aus der Hafenstadt New Orleans hörte man zu Beginn dieser Woche:
erst leise mit unterdrückter Stimme
und dann immer lauter:
„Alle Weißen sind oben in den Hotels"
Dunkelhäutige Hurrikan-Opfer müssen noch immer
auf Hilfe und Versorgung warten.

Die Fotos aus New Orleans gleichen sich:
Sie zeigen verzweifelte und ängstliche Menschen,
meist dunkelhäutig.
Die Folgen des Hurrikans „Katrina“ treffen die Ärmsten der Armen in der überfluteten Stadt.
„Hier sehe ich nur Schwarze“,
sagt Cassandra Robinson, die mit ihrer Familie tagelang auf einem Parkplatz ausharrte.
„Alle Weißen sind oben in den Hotels.“

Vor dem Eintreffen von „Katrina“
waren nach Angaben des Bürgermeisters
schon 80 Prozent der Einwohner evakuiert worden.
Diejenigen, die zurückblieben, waren
Menschen ohne Autos und Geld,
und dann heißt es in einer Zeitung:
"Erbe von Sklaverei und Unterdrückung ungebrochen"

Mehrere prominente Schwarze übten am vergangenen Wochenende
scharfe Kritik an den Behörden.
Bürgerrechtler Jesse Jackson sagte:
„In New Orleans, wo die Sklavenschiffe angekommen sind,
ist das Erbe von 246 Jahren Sklaverei und Unterdrückung heute ungebrochen.“

Und der Rap-Star Kanye West:
„Wenn eine schwarze Familie gezeigt wird, heißt es,
sie plündert.
Wenn man eine weiße Familie sieht,
heißt es, sie ist auf der Suche nach Essen.“ (1)


Liebe Hafengemeinde,
nun sind wir nicht mehr im Mittelalter
sondern im 21. jahrhundert angekommen.
Aber wir sind im Hafen geblieben.
Und wir wollen heute bewusst die Traditionen des Hafentreibens feiern,
und dazu gehören auch
die offenen Ohren
und Herzen
der Menschen einer Hafenstadt,
die mehr hören

Ein Hafen ist auch ein Umschlagplatz für Nachrichten,
Hoffnungen,
Gerüchte
und Geschichten,
Geschichten von Menschen,
die Erfahrungen mit Gott machen.
Geschichten,
die unsere Bibel weitererzählen,
immer wieder neu,
von der Liebe Gottes,
von der Hoffnung auf Befreiung durch IHN,
Befreiung
von allen
und allem,
was unser Leben versklavt.

Von welchen Hoffnungen
auf welche Zeichen der erstaunlichen Gnade Gottes warten wir,
heute am 11 September,
was trauen wir uns weiter zu sagen?
Hoffnungen im Hafengetriebe:

Mir sagte jemand,
hier im Hafen,
„Ich träume von dem Tag,
an dem die Mensch
wenigstens als Opfer
gleich behandelt werden.“

Und ich hörte wie eine Mutter ihrem Kind erklärte.
„Die USA sind reich,
ja das stimmt für einige,
aber es gibt dort auch sehr, sehr viele arme Menschen,
die hat Gott besonders lieb,
denn sie sind wie sein Sohn Jesus.“

Ein Stück Papier aus New York
lag hier auf der Erde,
Der Padre Luis Barrios von der Iglesia San Romero de Las Américas
schreibt:
es ist fürchterlich,
wie viele reiche Gemeinden sich hier
so billig aus der Affäre ziehen
in dem sie sagen –
und meinen damit auch noch fromm zu sein:
„Gott hat das Hochwasser gebracht,
er wird auch wieder helfen.“

Padre Barrios setzt dagegen diesen Satz

„Eine Religion,
die dir sagt, dass du nur nach oben schauen sollst
und dass das Leben hier auf Erden nur niedrig und minderwertig ist,
dass es deine Aufmerksamkeit nicht verdient,
eine solche Religion ist die Garantie dafür,
dass du dich bei jedem Schritt stößt
und dass du dir die Zähne ausbeißt
und die Seele zerbrichst
an den Steinen,
die ganz und gar von dieser Erde sind.“ (2)

Amen

(1) Der Abschnitt über die Folgen des Hurrikans „Katrina“ enstand aus Zitaten aus einem Artikel erschienen am So, 4. September 2005 in Der Welt.
(2) Padre Luis Barros veröffentlichte seinen Kommentar „Dios, Katrina y Bush“ im Internet unter http://www.esfazil.com.

Dr. Ekkehard Heise
Ekkehard.Heise@t-online.de

 


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