Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2005
Predigt über Klagelieder 3, 22-26.31-32 , verfasst von Helmut Brendel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

heute gedenken wir des Terroranschlags auf das Welthandelszentrum in New York. Für über 3000 Menschen war es gar aus, wie unser Predigttext sagt. Wo war da die Güte des Herrn, wo war da seine Barmherzigkeit. Über 3000 Familien haben ihre Väter, Mütter, Kinder verloren. Erst jetzt wagte man es, die Aufzeichnungen der Funkgespräche der Rettungskräfte aus dem Inferno zu veröffentlichen. Damit hat man dem Drängen der Angehörigen nachgegeben, die die letzten Lebenszeichen ihrer Toten haben wollten. Weil von den meisten Opfern nichts übrig geblieben ist als die Erinnerung, wollten sie wenigstens ein letztes Lebenszeichen von ihnen haben. Am liebsten wollten sie wissen, wann und wo und wie sie umgekommen sind. Es ist ein ungeheurer Drang danach zu wissen, was kein Mensch wissen, aber auch kein Mensch erfahren kann.

Liebe Gemeinde, letztlich steht hinter diesem Wissendrang die Frage, wo sind sie geblieben, die lieben Toten. Es ist eine Frage, die die Menschheit umtreibt, seit wir Spuren von ihr haben. Wo wohnen die Toten, wo sind sie geblieben, was tun sie, was geschieht mit ihnen. Das Totenreich zieht die Lebenden mit ungeheurer Macht und Faszination an. Viel Fantasie und Kreativität haben die Menschen darauf verwandt, dieses Vakuum auszufüllen. Es ist wohl eine der Hauptfunktionen der Religion, diese Lücke in uns zu schließen.

Liebe Gemeinde, aber wir gedenken heute nicht nur der Opfer des Terroranschlags von New York. Wir gedenken heute auch der Opfer des Hurrikans in New Orleans. Täglich wird von neuen Zahlen von Todesopfern berichtet. Aber wir beklagen auch die Menschen, die Hab und Gut verloren haben. Die Frage taucht auf, ob es überhaupt sinnvoll und möglich ist, diese Stadt, die zum Teil unter dem Meeresspiegel liegt an dieser Stelle wieder aufzubauen. Auch hier ist die Frage, ob da etwas unwiederbringlich dahin ist.

Unser Predigttext aus den Klageliedern des Propheten Jeremias beklagt auch den Verlust einer Stadt, von der man glaubte, sie sei unwiederbringlich dahin. Die Klagelieder des Jeremias beziehen sich auf die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier und die Deportation der Bevölkerung in die Babylonische Gefangenschaft. 40 Jahre lang währte sie, so lange wie die Wüstenwanderung des Volkes Israel nach der Befreiung aus Ägypten. Vierzig Jahre, das war der Zeitraum, in dem, bei der damaligen Lebenserwartung, keiner der den Anfang erlebt hatte das Ende erleben konnte. Die Generation der Exulanten durfte die Rückkehr nicht erleben. Nur die in Babylon Geborenen durften nach Jerusalem zurückkehren. Die Frage ist, ob das wirklich so war, oder ob es der Bibel um etwas ganz anderes geht. Vermutlich haben doch einige der Gefangenen auch die Heimkehr erlebt. Theologisch aber sollte das bedeuten, dass mit der Rückkehr ein völliger Neuanfang gesetzt werden sollte.

Liebe Gemeinde, am Anfang steht die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems mit dem Babylonischen Exil. Es war eine ausweglose Situation, ein Ende ohne Aussicht auf einen Neuanfang. Wenn wir den Predigttext ansehen, dann scheint es, als sei dieses endgültige Aus fast verschwunden. Die Hoffnung auf einen Neuanfang steht nun im Vordergrund. Ich möchte mit ihnen die Probe auf Exempel machen. Ich möchte mit ihnen den Text auf die beiden Seiten hin untersuchen, die Klage über das unwiederbringliche Ende und die Hoffnung auf einen Neuanfang.

Der Text beginnt mir dem Satz: „Die Güte des Herrn ist´s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und deine Treue ist groß.“ Heute erscheint uns dieser Text als einer der großen Hoffnungstexte des Alten Testaments. Die grausame Erfahrung des Endes, die dahinter steht ist fast ganz verschwunden. Bei der Zerstörung Jerusalems wird keiner so gesprochen haben. Jeremia wird vermutlich eher geklagt haben, dass die Güte Gottes zu Ende war und es mit seinem erwählten Volk gar aus war. Die Barmherzigkeit, die Gott seinem Volk in all den Jahren seiner Untreue und seines Abfalls erwiesen hatte, war zu Ende. Jeden Morgen schaute man neue auf die Trümmer der Stadt oder auf die Mauern Babylons. Weil sein Volk ihm untreu geworden war und sein heiliges Land entheiligt hatte hat er ihm die Treue aufgekündigt.

Im folgenden Text geht es um das, was das Volk verloren hatte und sich sehnlich zurück wünscht. „Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen.“ In Wirklichkeit aber hatte sich der Herr von seinem Volk getrennt. Das Volk saß in Babylon und hatte alle Hoffnung auf einen Neuanfang verloren. So können wir den klagenden Text im Untergrund dieses Hoffnungstextes weiter rekonstruieren.

Der Herr war nicht freundlich, sondern zornig auf es, wegen seiner Untreue mit der es jeden stehenden Stein für einen Gott und jeden Baum für ein Heiligtum hielt. Sie haben sich ungeduldig im Genuss des Reichtums dieses Landes verloren. Milch und Honig, die er ihnen geschenkt hat genossen sie nur, um den Geber dieser Gaben zu vergessen und nicht mehr nach ihm zu fragen. All denen, die im Reichtum und in seinem Genuss sich verloren hatten sagt der Text, dass das köstlichste Ding nichts ist, wenn die Menschen den vergessen, der der Geber dieser Gaben ist. Das köstlichste Ding ist, geduldig zu sein und auf seine Hilfe zu hoffen.

Liebe Gemeinde, hier geht es aber nicht mehr nur um den Verlust des Landes. Hier geht es auch darum, in der Gefangenschaft in Babylon, die Erinnerung an den Gott Israels nicht zu verlieren. Das „köstlich Ding“ ist auf einmal nicht mehr die Gabe des Heiligen Landes. Das köstliche Ding ist auf einmal, in der Fremde der eigene Gott. Denn, wenn überhaupt noch einer helfen konnte, dann nicht die Götter Babylons, sondern der Gott Israels. Wenn die Angst, in der Fremde verloren zu gehen nicht siegen sollte, dann konnte nur die Hoffnung auf den Gott Israels sie retten. Und nun folgt der Vers, in dem das Grundgefühl des Volkes Israel in der Gefangenschaft noch am deutlichsten spürbar wird. „Denn der Herr verstößt nicht ewig, sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.“

Liebe Gemeinde, ungeheuer schwer scheint es dem Volk gefallen zu sein, sich einzugestehen, dass Gott sie verstoßen hatte und dass er sie betrübt hatte. Als Verstoßene und Betrübte aber saßen sie an den Wasserflüssen Babylons und weinten. Aber mitten im Weinen und Klagen darüber, dass sie sich von Gott verstoßen und gedemütigt fühlten, tauchte die Hoffnung auf, dass er das nicht auf ewig getan hat. Dem Gericht folgte das Erbarmen Gottes.

Liebe Gemeinde, es ist Tatsache, dass Gott uns in unserer Genusssucht und in unserm Freiheitsdrang Grenzen setzt. Wir aber erleben das als Gericht und Strafe. Und doch können wir der Begrenztheit unseres Lebens nicht durch noch so großen Gehorsam entrinnen. Auch dann nicht, wenn wir in der Askese Genuss durch Verzicht und Freiheit durch Begrenzung ersetzen. Wir können vieles ändern in unserm grenzenlosen Lebensdrang. Wir können bewusster mit den Ressourcen unseres Lebens umgehen, mit unserer eigenen Gesundheit, mit unseren eigenen Kräften, aber auch mit den Dingen, die wir zu Leben brauchen. Dadurch können wir Nachhaltigkeit erreiche, wie man das heute nennt. Das heißt, dass es nicht nur für uns, sondern auch für die Generationen nach uns noch langt. Solche Grenzen können wir unserer Maßlosigkeit selber setzen. Damit übernehmen wir Verantwortung für die Erhaltung der Freiheit, die menschenmöglich ist.

Die Grenze aber, die Gott uns gesetzt hat, können wir damit nicht verschieben oder gar aufheben. Wenn wir diese Grenze als Strafe Gottes an uns sehen, dann machen wir den Gott, der uns ein so begrenztes Leben gegeben hat zu einem grausamen Gott. Dieses Vorurteil der Menschen hat Gott aber dadurch widerlegt, dass er selbst ein Mensch wurde und sich selbst der Grenze unterwarf, die er uns gesetzt hat. Wenn wir diese Botschaft recht verstehen, dann können wir zu einem neuen Leben auferstehen wie Christus und wie Lazarus, den er, wie es das Evangelium dieses Sonntag erzählt, von den Toten erweckte. Aber wir können auch mit denen zu einem neuen Leben auferstehen, die sich in der Babylonischen Gefangenschaft wie lebende Tote fühlten.

Wir können auch mit den Menschen in New York vier Jahren nach dem Terroranschlag, zu einem neuen Leben finden jenseits der Katastrophe beim Wiederaufbau des Welthandelszentrums als Freedom-Tower, als Turm der Freiheit.

Wir können aber auch mit den Menschen in New Orleans zu einem neuen Leben finden jenseits der der Katastrophe, beim Wiederaufbau der Stadt am alten Ort oder dem Bau einer neuen Stadt an neuem Ort.

Wer keine Hoffnung hat, dass er die unausweichliche Begrenztheit und Gefährdetheit dieses Lebens aushalten kann, der wird zu einem lebenden Toten. Wem Gott mit dieser Grenze aber auch die Hoffnung gegeben hat, dass er in ihr neues Leben findet, den hat er teilhaben lassen an der Auferstehung seines Sohnes Jesus Christus. In ihm dürfen wir leben, auch wenn wir sterben. Amen

Helmuit Brendel, Celle
BrendelDGfP@aol.com


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