Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2005
Predigt über Lukas 18, 28-30, verfasst von Ulrich Nembach
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Nach der Flut ist vor der Flut – vom Menschen und seinen Reaktionen

Liebe Gemeinde,

unter den Bildern, die uns in diesen Tagen erreichen, blieb mir eins besonders in Erinnerung. Es zeigt einen Mann, notdürftig gekleidet, der klagt, seine Not herausschreit. Er hat gerade seine Frau verloren. Sie, er und die Kinder hatten sich auf sich auf dem Dach ihres Hauses in New Orleans gerettet. Die Wassermassen ließen dann das Haus bersten. Er hielt seine Frau an der Hand. Sie rutschte ab. Er hielt sie fest und konnte eigentlich nicht mehr. Seine Frau rief ihm zu: Laß mich! Du kannst mich nicht mehr halten! Rette die Kinder, sorge für sie!“… und sie rutschte ab.
Anders waren die Situationen bei den Flutkatastrophen in Bayern, Österreich, der Schweiz, in Rumänien und davor an Elbe und Oder.
Noch wieder anders war die Situation im vom Terror geschüttelten Bagdad,

Liebe Gemeinde, in dieser Situation haben wir als Predigttext vorgeschlagen bekommen Lk. 18,28-30. Der Text ist nicht für diese Situationen niedergeschrieben worden. Auch nicht bei den Flutkatastrophen, bei denen ich im Folgenden bleiben möchte, um nicht ins Allgemeine abzugleiten oder hier zu lang zu werden. Unser Text ist fast 2000 Jahre alt. Und doch passt er in diese Situationen. Erstaunlich!
Ich lese den Text.

Man kann den Text, Jesu Rede mit einem Wort Luthers zusammenfassen: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Jesus stellt letztlich vor die Alternative: Gott oder unsere Welt.

Hätte jener Mann nicht rechtzeitig weggehen können? In Bayern und anderswo ist einiges zum Schutz vor Hochwasser getan worden, aber nicht genug. Mancher Anlieger wollte sich nicht von seinem Grund trennen, obwohl man den für Schutzmaßnahmen brauchte. Die Rumänen haben kein Geld; andere halfen ihnen nicht; und mancher wohnte eben gern am Wasser aus diesem oder jenem triftigen Grund. Ähnlich oder so ungefähr war es in den anderen Ländern. Immer gab es Gründe.
Viele, die in New Orleans blieben, sagen, dass sie ihr Eigentum schützen wollten. In Bayern hingen manche an ihrem Land, manche hofften vielleicht auch auf einen höheren Preis, den ihnen der Staat zahlen sollte – nun haben sie teuere Schäden.
Zu New Orleans muss man wissen, dass Besitz in den USA mehr bedeutet als in Europa, in Deutschland. Besitz ist, was man hat, was man ist. Besitz hilft bei Krankheit, versorgt den Menschen im Alter. Anders ist es in Deutschland, das ein Sozialstaat ist. Land bedeutet hier natürlich auch einen Schatz, den man darum nicht gern hergibt.

Ähnlich war es vor einigen Monaten, als die große Flutwelle am 26.12.2004 drohte und eine rechtzeitige Warnung zum Teil deshalb nicht weitergegeben wurde, weil sie Touristen verschrecken könnte. Von diesen hängt viel, oft alles ab. Nach der Flutwelle warben die Überlebenden um Touristen, weil diese die einzige Einnahmequelle für sie sind.

Nicht anders war es schon früher. Bevor der Vesuv Pompeji und Herculanum zerstörte, war auch noch Zeit zum Weglaufen. Nicht wenige blieben und starben. Auch sie hatten ihre Gründe für das Bleiben.

Was sind das für Gründe? Es sind gewichtige Gründe. Es geht generell um das Leben, seinen Unterhalt, seine Qualität. Genau darum geht es auch im Text. Dort geht es um die Familie, nicht weniger als um die Familie! Selbst sie ist laut Jesus das Vorletzte. Das Reich Gottes bleibt.
Eine Auslegerin unseres Textes – sie schrieb ihre Überlegungen vor den Flutkatastrophen der letzten Tage nieder – fragt radikal nach Beziehungen, die unser Text meint. Sie kommt zu dem Schluß, dass es um „neue Lebensperspektiven“ geht. „ Loslassen…befreit … von den bangen Sorgen um das eigene Leben“ (Antje Labun, in: Dt. Pfr., 2005/7, 366).
Hätten jener Mann und seine Frau sich um ihr Leben gesorgt, so wäre seine Frau noch am Leben! Soll sich ein Landwirt nicht um seine Wiesen sorgen, die die das Leben seiner Familie als ökonomische Basis ermöglichen, mindestens mit ermöglichen?

Das, was jene Auslegerin schreibt, nicht ungewöhnlich. Denken nicht viele – auch und gerade unter kirchentreuen Christen so? Die Wissenschaft bewegt sich letztlich nicht selten ebenfalls auf diesem Niveau, in diesen Bahnen des Denkens – oder sollte ich richtiger sagen: in diesen Grenzen des Denkens? Bis in unsere Tage war Konsens unter den Vulkanologen, dass die Beschreibung des Ausbruchs des Vesuvs, die uns überliefert ist, eine Übertreibung darstellt. Plinius der Jüngere war Augenzeuge und schrieb das Gesehene nieder. Die Basis der Argumentation waren die immer wieder kehrenden, kleineren Ausbrüche des Vulkans. Größere wie die, die Pompeji und Herculanum zerstörte, sind - Gott sei´s gedankt – seltener. Die nahe liegende Frage an die Argumentation: Warum Pompeji und Herculanum zerstört wurden, wo doch die kleineren Ausbrüche keine größeren Schäden anrichten, wurde nicht gestellt. Die heutigen Bewohner der Hänge des Vesuvs wissen um die großen Schäden, und sie wissen, dass ein größerer Ausbruch bevorsteht, aber sie leben ruhig vor sich hin.

Unsere Bitte um das tägliche Brot im Vater-unser gilt dem nahe Liegenden. Das nahe Liegende ist nicht das Nächste. Nahe liegend ist das Wesentliche. Es ist die Basis für alles. Gottes Reich ist nahe liegend in der Kirche, aber auch im Alltag. Um das Kommen des Reichs Gottes bitten wir im Vater-unser wie um das tägliche Brot im Vater-unser.
Das tägliche Brot meint für jenen Mann aus New Orleans buchstäblich Brot für sich und seine Kinder, aber auch Kleidung – er hat nicht mehr, als was er am Leibe trägt – und es meint auch Wohnung und Arbeit. Für die Kinder braucht er Trost wegen des Todes der Mutter und für sich selbst wegen des Verlustes der Frau. Das ist viel, sehr viel – mehr als Regierung und Hilfsorganisationen leisten können. Und doch braucht er noch mehr, wesentlich mehr: Das nahe Liegende, Gottes Hilfe, sein Reich.
Paul Gerhard, der durch den 30-jährigen Krieg hindurch lebte und so Zerstörung, Not, Elend erlebte, singt von dem nahe Liegenden.
Wir wollen eins seiner Lieder singen, wie wir schon zuvor eins seiner Lieder sangen.
Amen


Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach
ulrich.nembach@theologie.uni-goettingen.de


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