Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2005
Predigt über Lukas 18, 28-30, verfasst von Tom Kleffmann
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Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Sucht ihr immer noch das Leben? Das wahre Leben, das andere Leben, das Leben zu dem wir bestimmt sind: ohne Angst, ohne Lüge, voll und getragen, tief und liebevoll?

Nicht nur die Jungen suchen es, jedenfalls wenn sie wach sind, noch nicht bestochen durch den tausendfältigen billigen Ersatz, den die Glitzerwelt uns aufdrängt. Auch die, deren Leben äußerlich längst in gewohnten Bahnen verläuft, Beruf und Familie, Arbeit und Urlaub, so viele Jahre schon, Sommer und Winter – auch sie suchen es, das andere Leben.

Und wir Christen? Auch wir suchen es. Aber wenn wir Christen sind, dann haben wirs auch gefunden, wenigstens in Augenblicken. Oder besser: seine Wahrheit hat uns gefunden, dieses Leben ohne Angst, ohne Lüge, tief und liebevoll. Aber weil wir immer wieder zurückfallen in das tägliche Dahinleben, in das seichte Leben, in das schlafende Leben, weil dessen Gesetze so mächtig sind, suchen wir es auch immer wieder, das wahre Leben.

Das wahre Leben, das andere Leben, das Leben zu dem wir bestimmt sind, das kommt nicht von allein. Viele Menschen glauben, das gibt es garnicht. Es gibt höchstens ein angenehmes Leben, aber ein wahres Leben – was ist das? Wir glauben, daß es möglich ist – ein wahres Leben. Aber es kommt nicht von allein. Man kann es nicht kaufen. Das wahre Leben, das andere Leben, das heißt auch Abschied nehmen und sich entscheiden. Das wahre Leben, das kann schmerzlich sein, weil es einen Menschen herausholt aus dem Ich-Gehäuse, in dem er sich behaglich eingerichtet hat und den Tod und das Leid nicht sieht. Es kann sehr schmerzlich sein, dieses Leben, aber wenn es wahr ist, wird es göttlich sein und herrlich und stärker als der Tod.

Ich lese aus dem Evangelium des Lukas, 18.Kapitel: [Lesung Lk.18,28-30]

Erschrecken sie nicht gleich. Da kann man ja erschrecken. Soll das der Weg sein: Alles aufgeben und aussteigen? Haus und Frau und Geschwister und Eltern und Kinder verlassen für das Reich Gottes? Was ist denn das, das Reich Gottes? Das klingt diffus, utopisch, abgehoben und nicht von dieser Welt. Dagegen die Familie, Eltern, Kinder, das ist doch unsere wirkliche Liebe, da muß sie sich doch bewähren! Gerade da ist doch Treue gefordert, statt die Frau, die Kinder, die alten Eltern zu verlassen. Familie, Eltern, Kinder - das kann doch kein Gegensatz zum christlichen Leben sein! -

Aber diese Jünger haben alles verlassen, Haus, Familie, Broterwerb. In der tiefsten Gewißheit, das Richtige zu tun, sind sie mit ihm gegangen. Sie lebten in dem Glauben an eine unerhörte Zeitenwende, in der nichts bleiben kann wie es war. Aber auch dann, auch wenn das göttliche Kraft und Wahrheit bedeutete, fragt doch: was heißt das für uns? Ist ein Leben sozusagen im Kloster, ohne Familie, ohne Eigentum, heiliger als das Leben des Familienvaters oder der Familienmutter, die zu Hause die schmutzigen Windeln ihrer Kinder wechseln? Ist ein Leben in Eheliebe und Familie nicht so heilig wie ein Leben, daß im Zölibat darauf verzichtet? – Das Leben im Zölibat ist nicht heiliger. Und natürlich sind Familie, Elternliebe, Kinderliebe kein Gegensatz zum christlichen Leben. Also schauen wir genauer hin.

Es gibt eine Vorgeschichte, auch Lukas 18. Da war ein Mann, der fragte Jesus: was muß ich tun, damit ich das wahre Leben habe, das ewige Leben? Und Jesus sagte: Du hältst die Gebote, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten usw. Aber dir fehlt eins. Verkaufe alles was du hast und gibs den Armen und folge mir nach. - Da wurde der Mann traurig und ging weg, denn er war reich.

Darum ging es: um den Besitz, um all das, durch das der Mensch sich selbst definiert. Und das ist die Frage: Wenn die Freiheit davon die Bedingung ist, die Bedingung des wahren Lebens, wer überhaupt kann es dann erreichen? Und da sagt Petrus: wir haben alles, was wir hatten, verlassen, und sind dir nachgefolgt.

Es geht nicht um das Haus, die Frau, den Mann, die Eltern, die Kinder als solche. Sondern es geht um den Besitz, um die Freiheit vom Besitz – und damit ist eben nicht nur materieller Besitz gemeint. All das, wodurch wir uns selbst definieren, selbst aufbauen, festmachen - all das, worin du dir selbst deine Identität baust, worin du dich spiegelst, weil es deins ist: all das trennt vom wahren Leben – wenn seine Wahrheit denn dies ist, daß du von der Liebe Gottes lebst, die bis in den Tod reicht, und sie in dir zum Andern strömt, und du das Eigenste findest, indem du es schenkst.

Aber wer sich festklammert an seinem Besitz, weil er seine Identität ist, wer sich spiegelt und festhält in dem, was vermeintlich ihm gehört, der bleibt in Wahrheit mit sich allein. Der ist in Wahrheit in sich selbst gefangen. Auch die Familie, selbst die eigenen Kinder können in diesem Sinn Besitz sein. Mein Haus, meine Frau, mein Auto, meine Kinder. Und das Schönste, das Lebendigste kann unter der Hand zur Lüge werden. Wenn du nur auf dein eigenes Kind schaust, wenn du dich durch es definierst, durch seine Klugheit, seinen Erfolg, und die Kinder der Anderen sind dir egal, dann stimmt was nicht. Wenn dich deine Familie nicht verbindet mit den Andern, sondern wenn du in ihr von den andern abgrenzt, dann stimmt was nicht. Wie schwer kommen die Reichen, die sich definieren in ihrem Besitz, in das Reich Gottes!

Die Freiheit, die die Bedingung wahren Lebens ist, kann sich keiner selbst geben. Die Jünger hätten ihren Besitz nicht verlassen, wenn sie das Neue, das Wahre nicht gesehen hätten. Wenn der wirkliche Gott sie nicht berührt hätte und ihnen die Augen geöffnet hätte, dann wäre nichts passiert.

Deswegen ist diese Freiheit, die Freiheit vom Besitz, auch keine Leistung, die du bringen kannst. Und so weh es vielleicht tut, den Lebenslügen ins Gesicht zu sehen - um Askese geht es nicht. Wenn Gott der Schöpfer ist, dann empfangen wir seine Liebe auch im Licht, im Atem, im Essen, im Trinken, und zwar reichlich, auch in Küßen und herrlicher Leidenschaft, und im Leben der Kinder. Aber es ist immer ein Geschenk, kein Besitz; und das Leben ist, die Liebe dieses Geschenkes weiterzugeben – es annehmen und die Liebe genießen, aber nicht festhalten, sondern weiterschenken.

Die Freiheit, die der reiche Jüngling nicht hat, die Freiheit des Petrus, zu der auch wir bestimmt sind, und die wir doch oft nur ahnen, das ist kein trauriger Rückzug aus der Welt, sondern es ist die Freiheit zum wahren Leben. So redet Luther von der Freiheit eines Christenmenschen. Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Wenn Gott der Schöpfer und Grund in Christus zu ihm gekommen ist, dann ist er frei vom Tod, frei von allen Dingen und Gesetzen. Es gibt keinen Besitz, der ihn beherrscht. Er hat seine Identität woanders. Kein Ding ist so gut, so böse, es muß mir zugut dienen, wenn ich glaube. Aber zugleich gilt: Der Christenmensch ist ein Knecht aller Dinge. Das heißt: wenn Christus ihn hochhebt in göttliche Freiheit, dann schickt ihn von da wieder runter mitten ins pralle Menschenleben, um für den andern dazusein: zur Frau, zum Mann, zum Bruder und zur Schwester, zu den Eltern und Kindern. Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, daß ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt (oder in seinem Besitz), sondern in Christus und in seinem Nächsten. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und in göttlicher Liebe.

Amen.

PD Dr. Tom Kleffmann
Göttingen
tom.kleffmann@theologie.uni-goettingen.de

 


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