Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2005
Predigt über Matthäus 6,24-34, verfasst von Hans-Ole Jørgensen (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Wer von euch kann sein Leben auch nur mit einem Tag verlängern, indem er sich sorgt? So lautet die Frage, die uns Jesus heute stellt. Und wir kennen die Antwort! Sind wir nur ein einziges Mal von einer richtigen Sorge umgetrieben gewesen, die uns nicht hat loslassen wollen, dann wissen wir, jeder Einzelne von uns, mehr als zur Genüge, dass Bekümmernis kein Freund, sondern ein Feind des Lebens ist. Und dass sie nichts zu unserem Leben hinzuzufügen vermag. Bekümmernis ist eine Bürde. Etwas, das uns hinabzieht. Ein Klotz am Bein: wenn es schlimm um uns steht, wäre es eine große Erleichterung, wenn wir den Klotz fortwerfen könnten. Bekümmernis ist verwandt mit Kummer, sprachlich und in der Sache. Sich bekümmern heißt sich Kummer schaffen. Mehr Kummer als den, der zu jedem Tag dazugehört.

Sören Kierkegaard nennt das – mit einer überraschenden Wendung – Habgier. Dass wir in der Bekümmerung jedem Tag seine Sorge nicht lassen wollen, das ist eine Art Habgier. Der Bekümmerte will sich nicht zufrieden geben, will sich nicht mit dem heutigen Tag und mit dem, was zu ihm gehört, zufrieden geben, er will das fassen, was größer ist, und vor allem das, was kommt, er will alle Sorgen der Zukunft auf einmal an sich raffen, ja, bis hinein in die Ewigkeit will er gelangen, und das lähmt ihn. Du sollst genügsamer sein, sagt Kierkegaard, du sollst Gottesfurcht mit Genügsamkeit üben, denn nur so bist du frei von der Sorge des nächsten Tages. Du sollst nicht so weit greifen, wie du gerne willst – darin besteht die Habgier der Bekümmerung – dir geht es gut mit dem, was weniger ist, dir geht es gut mit dem, was dir jeden Tag zugemessen ist, denn jeder Tag bringt just genug in seiner Sorge.

Also: du sollst bleiben, wo du bist, und du sollst die Dinge so nehmen, wie sie nun einmal kommen. Denn willst du zu viel oder gar alles auf einmal – willst du dein Leben auf Vorschuss – dann bist du gelähmt, oder du wirst zu einem, der gar nicht dort zur Stelle ist, wo er ist. Du wirst zu einem, der in seiner Sorge immer woanders ist. Und nachher, ja sehr oft sehen wir obendrein, dass wir uns die Sorgen, die wir uns machten und von denen wir uns vom heutigen Tag vertreiben ließen, gar nicht hätten zu machen brauchen. Denn es ging doch alles gut. Es zeigte sich, dass die Zukunft auch Lösungen und Möglichkeiten bereit hatte, die wir vor lauter Sorge nicht sehen konnten. Und also war es doppelt dumm. Wir betrogen uns nicht nur um das gegenwärtige Leben und die Freuden, die darin zu finden waren, denn wir ließen sie ja hinter uns, unsere Sorgen waren obendrein überflüssig, sie halfen uns nicht. Sie waren bloß im Wege.

Wer von euch kann sein Leben auch nur mit einem Tag verlängern, indem er sich sorgt? Das gelingt nur allzu selten. Sieh deshalb zu, dass du jedem Tag seine Sorge lässt!

Aber nun haben Sorgen es so an sich, dass sie nicht recht Vernunft annehmen wollen. Bekümmernisse sind etwas, was dem Menschen im Herzen sitzt, und die lassen sich nicht einfach mit noch so vernünftigen Argumenten oder Wahrscheinlichkeitsberechnungen vor die Tür werfen. Wollen wir sie loswerden, geht der Weg nicht durch den Kopf. Da gibt es nur den Weg durchs Herz.

Und deshalb nützt es – eigentlich – gar nicht so furchtbar viel, möchte ich meinen, so zu reden, wie wir es hier tun. Wir können ja leicht mit unserer Klugheit sagen „lass davon ab“ und „es ist doch dumm, sich so aufzuführen“ und „du erschwerst dir nur das Leben mit all den Sorgen, die du dir machst“. Wir können leicht sehen, dass es so ist, und wir sagen es ja denn auch immer wieder zueinander und hoffen dabei, dass das hilft. Aber es nützt nicht viel. Sorgen fliehen nicht vor rationalen Argumenten. Jedenfalls nicht die schwersten Sorgen. Sorgen sind etwas, was im Herzen sitzt. Und deshalb ist auch etwas ganz anderes nötig als Argumente.

Und wir sollen im Übrigen wohl auch nicht dem Glauben verfallen, wir sollten den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Feld so sehr ähneln, dass wir aufhören sollten, Menschen zu sein. Wie schwer es auch sein mag, – es ist etwas daran, Mensch zu sein, dem wir uns nicht entziehen können. Etwas, das uns entscheidend von Vogel und Lilie trennt. Sören Kierkegaard stellt seinem Leser einmal die Frage: Ja, wenn du dich auf dieselbe Art wie der Spatz und die Lilie freuen kannst, dann bitte, tu es! Aber du kannst es nicht. Denn der Spatz und die Lilie sind das Einfache, der Spatz ist kein Doppelwesen, das ist nur der Mensch.

Wir haben es unrettbar in uns, dieses Doppelte, das die Sorgen hervorbringt. Und deshalb können wir uns nicht wie die Vögel und die Blumen damit begnügen, einfach nur zusein. Wir sind dazu verurteilt, dabei zuzusehen, während wir unser Leben leben, und uns Gedanken darüber zu machen, was wir sehen. Wir sind dazu verurteilt, uns auch zu uns selbst zu verhalten, dazu, Fragen zu stellen, beispielsweise, wer wir sind und was wir sind, wie es gestern ging und ob es denn wohl auch morgen gehen wird, – und deshalb sind wir auch den Bekümmernissen mit Haut und Haar ausgeliefert. Und dem Durcheinander mit der Zeit, dass wir oft gar nicht da sind, wo wir sind.

Die äußere Zeit – die Zeit auf unserer Armbanduhr – ist sehr oft eine ganz andere als die Zeit in unserem Bewußtsein. Vor einem Augenblick war ich vielleicht bei etwas, was gestern geschah oder vor einer Woche, und gleich bin ich vielleicht schon bei etwas, was ich für morgen oder für den kommenden Monat erhoffe oder fürchte. Auf diese Weise fallen die innere und die äußere Zeit bei uns nur jeweils in bestimmten Augenblicken zusammen, und wir haben es nicht richtig in unserer Hand, dem zu steuern.

Das ist eine Lebensbedingung. Wir können uns dem nicht entziehen, und wir würden auch mit unserer Menschlichkeit mogeln, wenn wir es täten. Denn gewiss erleben wir, wenn wir gegenwärtig sind und im Jetzt leben, so dass unsere äußere und innere Zeit eines sind, gewiss erleben wir da wohl unsere größten und besten Stunden, Sternstunden und Glücksrausch, – wir können dann sagen, die Zeit stehe still, als wäre es die Ewigkeit selbst, mit der wir es zu tun hätten. Aber das Leben ist auch anderes als das vollzogene Leben dieses Augenblicks. Als Menschen sind wir auch hierher gestellt mit Verantwortung, wir haben auch Entscheidungen zu treffen und zu lenken und an der Ordnung einer komplizierten Welt mitzuwirken, wir haben Sorge zu tragen für uns selbst und füreinander, haben uns unseres Nächsten anzunehmen, wir haben es in allen Zusammenhängen so gut zu machen, wie wir nur irgend können, und am liebsten besser als zuvor. Darüber hat ja beispielsweise auch Jesus etwas gesagt.

Als Blumenkinder können wir kein Menschenleben leben.

Und deshalb kann es sehr wohl nach einem Konflikt aussehen, in dem wir mit dem heutigen Text gefangen werden. Wir können ihn nicht einfach wörtlich nehmen, wenn Jesus auf die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Feld verweist und damit unsere Sorgen für den morgigen Tag als für heute unangebracht beiseite schiebt. Wir können das nicht. Wir sind Doppelwesen und können nicht wie ein Vogel leben. Und wir können uns das auch gar nicht erlauben, selbst wenn wir es könnten. Denn wir haben hier auch Verantwortung. Wir haben zu verwalten, was uns anvertraut ist.

Was aber will der gute Mann dann von uns? Was will er mit diesen Worten, wenn man nicht so ohne Weiteres nach ihnen leben kann?

Ja, ich glaube, wir müssen beachten, dass er nicht „ähneln“ oder „gleichen“ sagt, wenn er auf die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Feld zeigt. Das tut er nämlich nicht. Er sagt nicht, wir sollten wie sie sein oder wie sie leben. Sondern wir sollen sie schauen, sie ansehen. Also irgendetwas lernen. So ist es vielleicht möglich.

Ja, denn das, was wir von ihnen lernen können, ist nämlich etwas, was wir in unserem christlichen Glauben können. Wenn wir die Zügel loszulassen wagen. Es geht nämlich um Geborgenheit.

Denn wenn auch die Lebensbedingungen und Lebensweise der Vögel und Lilien andere sind als die unsrigen – und wenn sie auch leichter ihre Geborgenheit erlangen als wir die unsrige –, so sind sie mit dieser ihrer Geborgenheit ein Bild – so sagt Jesus – für die Geborgenheit, in der ein Mensch im Glauben an Gott leben darf. Wir besitzen sie nicht von Natur aus, diese Geborgenheit – denn wir fürchten mit Recht alles Mögliche – aber als Kinder Gottes, sagt Jesus, sollten wir im Grund in derselben Geborgenheit leben, die diese Einfach-Wesen so gnädig von der Hand der Natur besitzen. Er benutzt sie als ein Bild: denn wenn Gott so für das Gras auf dem Felde sorgt, das heute dort steht und morgen in den Ofen geworfen wird, wieviel mehr tut er das dann nicht für seine Menschenkinder? Seid ihr nicht mehr wert, so fragt er, als all dies, das ihr dort seht?

Darum geht es meiner Meinung nach in diesem Text. Um eine große, allumfassende Geborgenheit, möglich gemacht für uns im Glauben an die Fürsorge Gottes für seinen Menschen. Diese Geborgenheit will er, Jesus, uns gewähren, dass wir uns ihr hingeben und in ihr Ruhe finden – und wohlgemerkt auch dann, wenn wir selbst nicht sehen können, dass sie trägt und taugt.

Denn das können wir natürlich nicht immer. Manchmal ist Gottes Sorge für seine Kinder nicht zu erkennen. Aber wir sollen trotzdem an sie glauben, sagt Jesus. Auf sie vertrauen und alles hier seine Stütze finden lassen. Denn Gottes Fürsorge ist mehr, als wir sehen können.

Vom Altar hörten wir den schönen Text über den Bund Gottes mit Noah nach der Sintflut. Wir hörten Gott sagen, dass er von jetzt an nicht mehr die Erde verfluchen will um der Menschen willen, obwohl wir so sind, wie wir sind, sondern dass, solange die Erde steht, Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht miteinander abwechseln sollen. Und zwar alles aus Fürsorge für seinen Menschen.

Aber Gottes Fürsorge ist mehr als tägliches Brot und gute Lebensbedingungen. Gottes Fürsorge ist auch, was Jesus sagt, wenn er uns heute Geborgenheit zuspricht. Denn Gottes Fürsorge ist ja auch dort, wo Bauern an Hunger sterben oder andere Grausamkeiten geschehen, denn Gottes Fürsorge ist auch, dass er in Liebe seinem Menschen überall folgt, im Leben wir im Tode, aber auch wenn, das Unglück zuschlägt, wenn das Leiden eintritt, wenn die Freude schwindet und wir nicht aus noch ein wissen.

So groß und fürsorglich ist der Gott, den Jesus uns sehen lässt und bei dem er uns Geborgenheit zuspricht. Und weniger konnte es auch gar nicht sein, wenn es denn zu etwas taugen sollte. Der Gott, der uns das Leben und alle seine Gaben gegeben hat, ist größer als das Leben. Das ist es, was Jesus sagt. Größer als das Grauen des Lebens und größer als die Freude des Lebens. Ja, Gott ist Gott, wie wir in einem Lied singen. So groß ist es. So geborgen ist es. So weit reicht es über alle Tage hin.

Es ist nicht die Geborgenheit, die es uns erlässt, durch Untergang und Niederlage mit allen ihren Folgen zu kommen. Das Leben kostet noch immer das Leben. Aber seine Wege zu gehen in dem Bewusstsein im Griff des Glaubens, dass du viel wert bist – mehr wert als viele Spatzen, die doch auch Gott am Herzen liegen – das ist eine Geborgenheit, die auf dem Wege viel Unruhe und Sorge aushalten kann, eine Geborgenheit, die es uns ermöglichen kann, die Menschen zu sein, die wir sind, ohne dass wir damit alles tragen und verantworten müssten. In einer solchen Geborgenheit lässt sich gut wandern. Sie ist kein Argument, aber sie ist ein Wort ans das Herz, ein Wort, das uns in allem warm an der Hand hält, ein Wort, das uns erlaubt, uns damit zu begnügen, dass wir die Geringen sind, die wir sind, und Gott sich all des Großen annimmt. Wie heute so auch morgen. Jeden Tag durch seine Sorge. Und seine Freude.

Amen

Pastor Hans-Ole Jørgensen
Hyrdestræde 5
DK-6000 Kolding
Tel.: ++ 45 – 75 52 06 61
E-mail: haoj@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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