Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 28. August 2005
Predigt über Markus 1, 40-45, verfasst von Reinhold Mokrosch
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40. Zu Jesus kam ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst Du, so kannst Du mich reinigen. 41. Und es jammerte ihn und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun; sei rein! 42. Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. 43. Und Jesus drohte ihm und sandte ihn fort 44. und sagte zu ihm: Sage niemandem etwas, sondern geh und zeige Dich dem Priester und opfere für Deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. 45. Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte so bekannt zu machen, dass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen, an einsamen Orten. Doch sie kamen zu ihm von allen Enden.

Liebe Gottesdienstfeiernde, liebe Gemeindeglieder!

I.) Diese Erzählung des von Jesus berührten und geheilten aussätzigen Mannes bewegt mich zutiefst. Sie erinnert mich an ein erschütterndes Erlebnis, das ich während meines längeren Aufenthaltes im ostafrikanischen Tanzania erlebt habe. Ich möchte es Ihnen vor Augen führen:

Die 18jährige Rua hatte an einem heißen Sonntag wie gewohnt ihren kärglichen Maisbrei in ihrer finsteren Hütte eingenommen. Mühsam hatte sie mit ihrer verwachsenen Hand in den Napf gegriffen, kleine Klumpen geformt und mit Schmerzen bei jeder Armbeuge diese in ihren anmutigen Mund geschoben. Ihr liebevolles, noch etwas kindliches Gesicht hatte sich dabei unversehens mit kleinen Maisflocken gefüllt. Sie bemerkte es nicht. Niemand bemerkte es, weil sie allein war. Niemand sah sie. Niemand redete mit ihr. Niemand berührte sie. Nur ihr Bruder kam herein, um den Napf wortlos wieder abzuholen. Mit ihren verwachsenen dünnen Beinen konnte sie nicht selbst gehen.

Ihre Familie hatte sie versteckt. Ihre spastische Behinderung galt in ihrem Stamm der Sukumas am Victoria-See als böses Omen, Strafe und Stigma; und das wollten die Verwandten nicht noch demonstrieren.

Am Nachmittag dieses Sonntags trat ein schwarzafrikanischer christlicher Missionar aus dem Nachbarstamm auf dem Dorfplatz auf. Rua hörte in ihrer schwarzen, fensterlosen Hütte seine Worte. Sie konnte von Ferne seine Kisuahili- Sprache verstehen. Unter Schmerzen robbte sie sich zum Hütteneingang. Sie wagte sich noch weiter: über das sandige Feld bis zum Dorfweg. Sitzend hatte sie sich fortbewegt. Lange hatte sie das Tageslicht nicht mehr erblickt. Alles kam ihr fremd vor.

Plötzlich bewegte sich der Prediger mit seinen Begleitern in ihre Richtung. Er trat auf sie zu. Er reichte ihr die Hand. Er streichelte ihre Wange. Er strahlte sie an. Es durchfuhr Rua. Seit Jahren hatte sie niemand mehr berührt. Niemand hatte sie angelächelt. Niemand hatte sie beachtet.

Der Missionar redete zu einem Mitarbeiter. „Rollstuhl“ – konnte sie verstehen. Und: „Zusammenleben“. Ein Strahl der Freude huschte über ihr Gesicht. – Am nächsten Tag wurde sie von ihren Brüdern aus der schwarzen Hütte geholt. Sie erhielt einen Rollstuhl – und wurde aufgenommen in ihre Familie und in die Dorfgemeinschaft. Rua war ins Leben zurückgekehrt. Sie war heil, wenn auch nicht geheilt.

II.) Liebe Gemeinde! Ein Vergleich zu unserem Markus-Predigt-Text legt sich nahe: Jesus hatte den Aussätzigen ebenfalls berührt und vom Tod ins Leben zurückgerufen. Aussatz, eine Sammelbezeichnung für alle möglichen Hautkrankheiten, galt damals als von Gott geschicktes Stigma, das folglich nur von Gott und keinem Menschen geheilt werden könne. In der Tora, 3.Mose 13, war alles bis ins Detail geregelt: Nur Priester hatten das Recht zu entscheiden, ob Narben und Flecken, die plötzlich auf der Haut eines Menschen auftraten, als Aussatz zu werten seien oder nicht; ob der Betroffene ‚rein’ oder ‚unrein’ sei. Lautete das Urteil „Unrein!“, so war das Todesurteil gesprochen. Der Aussätzige musste Familie, Freunde und Dorfgemeinschaft verlassen und ohne Habe in entlegene, menschenleere Regionen ziehen, um dort in Felsklüften und Erdlöchern dahinzuvegetieren. Er musste zerrissene Kleider tragen, durfte sich seine Haare nicht binden und schneiden und sollte seinen Bart verhüllen. Wenn sich ein sog. Gesunder näherte, hatte er „Unrein! Unrein!“ zu schreien, damit dieser sich nicht weiter als 30m ihm näherte. Folglich sah er aus wie ein Gespenst und Monster. Er war ein lebendiger Toter – wie Rua. Er galt als von Gott gestraft und geschlagen – wie Rua. Er wurde vom Leben ausgeschlossen, isoliert, weggesteckt und lebendig begraben – wie Rua.

Die Parallelen gehen noch weiter: Wie Rua und der Missionar durchbrachen in der biblischen Erzählung auch Jesus und der Aussätzige die herrschenden Gesetze: Der Aussätzige schrie nicht „Unrein! Unrein!“, als Jesus sich ihm näherte. Im Gegenteil: Er ging auf Jesus zu, kniete nieder und – das war die größte Gesetzesübertretung – bat Jesus um Heilung, obwohl er genau wusste, dass kein Mensch, sondern allein Gott ihn vom Aussatz heilen könnte. Sein Glaube und seine Hoffnung überschritten aber alle Gesetzesgrenzen. Er glaubte grenzenlos!

Genauso durchbrach auch Jesus alle Reinheitsvorschriften: Er hielt keinen 30m-Abstand, sondern trat direkt an den aussätzigen Mann heran. Er streckte seine Hand aus und – berührte ihn. Eine unverzeihbare Gesetzesübertretung! Jesus setzte sich damit nicht nur der Gefahr einer Ansteckung, sondern auch der einer Todesstrafe aus. Und noch radikaler: Natürlich wusste auch Jesus um den jüdischen Glauben, dass nur Gott und kein Mensch vom Aussatz therapieren könne. Aber er glaubte sich in der Vollmacht Gottes und riskierte damit seine Anklage und einen Prozess vor dem Synhedrium, dem jüdischen Gerichtshof.

Freilich: In gewisser Weise hielt Jesus sich auch an das jüdische Gesetz: Er „drohte“ dem Geheilten, nicht weiter das Gesetz zu übertreten (V43), wie es in der Tora, 3.Mose 13, vorgeschrieben war. Und er schickte ihn zum Priester, der die Heilung feststellen sollte, wie es in der Tora vorgeschrieben war. Aber trotzdem: Jesus riskierte sein Leben! Warum tat er das? Weil er den Mann heilen wollte. Und dazu war ihm keine Gefahr zu gefährlich. Also: Beide, der Aussätzige und Jesus brachten sich in Todesgefahr um der Heilung willen.

Auch Rua und der Missionar brachen alle Gesetze: Rua war als Behinderte verdammt, in ihrer finsteren Hütte versteckt und isoliert dahinzuvegetieren. Aber sie durchbrach dieses Gesetz, machte sich auf und erreichte das helle Tageslicht. Und der Prediger schob alle Vorstellungen von Behinderung als Stigma, Strafe oder bösem Omen beiseite und brachte Rua in die Gemeinschaft der Familie und des Dorfes zurück. Freilich setzten Rua und ihr Heiler sich nicht Todesgefahren aus wie Jesus und der Aussätzige. Aber sie durchbrachen genauso wie diese alle unmenschlichen Riten und Gesetze ihrer Gesellschaft.

Und eine weitere Gemeinsamkeit entdecke ich zwischen der biblischen Erzählung und meinem ostafrikanischen Erlebnis: Der Aussätzige und Rua fühlten sich durch Berührung geheilt. Wie viele Jahre mochten sie von niemandem mehr berührt worden sein? Niemand hatte sich gerührt, niemand war gerührt, niemand hatte sie angerührt. Und jetzt diese Berührung und Anrührung! Sicherlich durchfuhr es die beiden. Wieder berührt werden! Jeder von uns kann das nachvollziehen. Schon als wir Kinder waren, war jedes Aua verflogen, sobald jemand unsere wunde Stelle streichelte und „Heile, heile Segen…“ sang. Und heute wissen wir erst recht, was liebevolle Berührungen bedeuten. Zusammenleben heißt, sich gegenseitig berühren und anrühren.

Es besteht aber auch ein großer Unterschied zwischen Rua und dem Aussätzigen: Der hautkranke Mann wurde, wie Markus berichtet, von seiner Hautkrankheit geheilt. Rua dagegen blieb behindert. Zwar erhielt sie Rollstuhl, Hilfe und Gemeinschaft. Aber ihre spastische Lähmung blieb. Trotzdem: Sie war zwar nicht geheilt, aber heil geworden. Heil beruht ja nicht immer auf Heilung. Man kann auch „heil“ sein trotz Krankheit und Behinderung. Ja, oft erfahren wir, dass Kranke und Behinderte „heiler“ sind als sog. Gesunde und Nichtbehinderte. Es könnte sein, dass Rua „heil“ geworden ist und sogar Heil ausgebreitet hat. . Ich weiß nicht, wie ihr Leben weiter verlief. Ich weiß nur, dass die Berührung ihr Leben und das Denken des Dorfes verändert hatte.

III.) Liebe Gemeinde, ich spüre eine Aufforderung aus dieser Wundergeschichte bzw. aus diesen beiden Wundergeschichten heraus. Zum einen: Wenn es um Tod oder Leben unserer Mitmenschen geht, dann sind wir aufgefordert, Gesetze, Bestimmungen und Gewohnheiten um Gottes und des Nächsten willen zu durchbrechen. Dann sollen wir gegebenenfalls gegen den Strom schwimmen. Dann sollen wir gegebenenfalls Gesetzesbrecher werden. Dann gilt nur noch das Leben der Mitmenschen. Dasselbe gilt natürlich für uns selbst, wenn wir ausgegrenzt, stigmatisiert oder gemobbt werden. Dann sollen wir aus dem Korsett der Gruppen- oder Gesellschaftsmeinungen und –bestimmungen um Gottes und unsretwillen ausbrechen und Hilfe suchen, - wie der Aussätzige und wie Rua.

Zum zweiten: Wir sollten beachten, dass Heilung oft mit Berührung beginnt. Allerdings nicht mit einer alltäglichen Berührung, sondern mit einer Berührung aus Rührung und Berührtsein. Die Berührung muss echt sein. Sie sollte aus wirklicher Empathie und Sympathie hervorgehen.

Zum dritten: Heil setzt keineswegs Heilung voraus. Wir wenden gegen biblische Wundergeschichten ja oft ein: Jesus heilte die Menschen damals physisch, heute aber nur spirituell. Das sei doch ungerecht und zu wenig. Ein Betroffener mag solche Ungerechtigkeit zu Recht herausschreien. Aber niemand sollte vergessen: Gottes Geist heilt auch ohne Heilung. Heilsein ist oft mehr als Geheiltsein.

Und zuletzt zum Vierten: Beide Wundergeschichten sind Hoffnungsgeschichten. Sie zeigen, dass Gott immer einen Weg aus der Finsternis weist. Er sendet trotz Not und Finsternis Menschen und Engel, die uns anrühren und zu neuem Leben erwecken. Manchmal soll ich selbst ein Engel sein, der Verzweifelte anrührt und heilt. Ein anderes Mal bin ich selbst der Verzweifelte, der sich nach Befreiung aus Leid und Isolierung sehnt.

In solcher Situation sollte ich mich an dem aussätzigen Mann und auch an Rua orientieren. Ihre Lebenshoffnung und ihr Gottvertrauen waren vorbildhaft. Es lohnt sich, sie oder andere leidende und hoffende Menschen zum Vorbild zu nehmen.

Gottes Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Jesus, dem Christus. Amen

Prof. Dr. Reinhold Mokrosch, Univ. Ev. Theologie
49069 Osnabrück, 0541-682134 oder 969-4284
Reinhold.Mokrosch@uni-osnabrueck.de

 

 

 

 


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