Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 28. August 2005
Predigt über Markus 1, 40-45, verfasst von Hinrich Buß
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,
1.
ein Aussätziger aus der großen Schar der Leprakranken nähert sich Jesus und kniet vor ihm nieder. Natürlich möchte er vom Aussatz geheilt werden und spricht es auch aus: „Willst du, Jesus, so kannst du mich rein machen.“ Es ist dieser Freimut, dass er eine Bitte aussprechen kann, die dem Leprakranken seine Menschenwürde zurückgibt. Die entscheidende Bewegung, die er vollzieht, liegt darin, dass er aus seiner Asozialität heraustritt. Er begibt sich mitten unter gesunde Menschen. Das erfordert Mut und Kraft. Doch er wagt den Schritt. Er will vom Aussatz gereinigt werden. Er hat großes Vertrauen in die heilende Kraft Jesu.

Aber zu jeder vollzogenen Heilung gehört auch die große Schar der Nichtgeheilten an denen man das nackte Elend sehen kann. Dem einzelnen Geheilten steht die Masse der unheilbar Kranken und Geplagten gegenüber. Wie wird Jesus, wie werden die Jünger und die heutigen Christen damit fertig?

Jesus fällt dadurch auf, dass er zunächst nichts sagt. Nur eine Gefühlsregung wird von ihm berichtet, und die hat es in sich. „Es jammerte ihn.“ In diesem Augenblick ist aller Jammer der Welt in Jesus versammelt. Es zog ihm gewissermaßen die Eingeweide zusammen. Er war im Innersten aufgewühlt. Und dies durch die Begegnung mit nur einem Aussätzigen. Was wäre gewesen, wenn viele Leprakranke zu ihm geströmt wären und um Heilung vom Aussatz gebeten hätten? Das wäre gar nicht auszudenken. Zugleich ist aller Jammer der Welt auf die Haut des Aussätzigen geschrieben. Da kann einem schon der große Jammer und das tief innen gespürte Elend kommen. Freilich kann man auch ein entgegen gesetztes Gefühl empfinden, und zwar Ekel beim Anblick des Aussätzigen und Entsetzen über das entstellte Gesicht. Es kann auch jenes schaurig-schöne Gruseln auslösen, das einem vor dem Fernseher bei Horrorbildern bestens unterhält und so die Not auf Abstand hält.

Doch Jesus hält sich nicht lange bei Gefühlen auf, er schreitet zur Tat. Er berührt die Haut des Aussätzigen. Er hat offensichtlich keine Angst vor einer solchen Berührung und fügt hinzu: „Ich will’s tun; sei rein!“ Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein, so der Wortlaut des Markustextes. Warum handelt Jesus so? Es tritt ihm ein Mensch entgegen, ein Geschöpf Gottes. Ein Mensch – das ist Anspruch. Das Wort springt einen an, ohne Ansehen der Person. Womit deutlich wird: Das Gebot der Nächstenliebe sprengt jeden Rahmen, den der Familie, der Schicht, des Verbandes, der Religion. Der einfache Satz „Er ist ein Mensch“ reicht, um andere und vor allem Jesus in Bewegung zu setzen.

2.

Aber warum in aller Welt droht Jesus dem Aussätzigen nach vollbrachter Tat und treibt ihn von sich? Ich kann nur Vermutungen vorbringen. Wilhelm Stählin hat in seinen Predigthilfen gesagt. Jesus wollte den Geheilten auf eigene Beine stellen, damit er wieder Zutrauen zu sich selber fasst. Dass Jesus den Geheilten geradezu anfaucht, ja regelrecht von sich stößt, unterstreicht, dass er keine falsche Nähe, wie zu einem Guru, entstehen lassen will. Sicher will er auch jede falsche Anhängerschaft vermeiden. Nur kein Personenkult. Natürlich kann auch William Wredes „Messiasgeheimnis“ eine Rolle spielen, welches das ganze Markus-Evangelium durchzieht. Die Theologie des Messiasgeheimnisses hat eine doppelte Funktion: Jede Heilung wird zum Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft
und die Theologie schärft den Unterschied zwischen Glauben und Schauen, zwischen Hoffnung und endgültiger Erlösung ein.

O ja, das ist in der Tat ein großer Unterschied, vor allem der zwischen Hoffnung und endgültiger Erlösung: „Kein Aug hat je gespürt, kein Ort hat mehr gehört solche Freude. Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für.“ Am meisten freilich überzeugt mich das Argument, dass Jesus sich auf keinen Fall mit Jammer und Elend abfinden will und auch den dahinter stehenden Verursachern den Kampf ansagt.

3.

Schließlich die Frage: Warum ist Jesus nicht ganz und gar der Auferstandene ohne das schreckliche Kreuz? Oder anders gefragt: Warum wird Christus zu einem solchen Erlöser, dass er gleichzeitig der Gekreuzigte und der Auferstandene ist?

Liebe Gemeinde, um diese Frage zu beantworten, ist es gut zu bedenken, wie es mit den Wunden steht, die uns an Leib und Seele geschlagen wurden. Einige wenige haben noch Splitter im Leib, die aus dem 2. Weltkrieg stammen. Andere haben Streitigkeiten hinter sich, die Narben an der Seele hinterlassen haben. Bei Dritten darf man ein Thema nicht ansprechen, ohne dass sie sofort hoch gehen. Die Wunden sitzen zu tief, als dass sie geheilt werden könnten. Sie sind ein Stück unserer Lebensgeschichte. Sie zeigen, dass ich nicht aalglatt durch das Leben gekommen bin, sondern Kämpfe zu bestehen hatte. Mitunter habe ich gesiegt, mitunter auch herbe Niederlagen erlitten. Wunden zeigen den Realitätsbezug des Lebens an. Sage mir, wo deine Wunden sind, und ich sage dir, wer du bist.

Nun auf Jesus bezogen: Wäre mit seiner Auferstehung die irdische Leidensgeschichte abgestreift, ein für allemal, wie könnte er dann Mitleiden haben mit unseren Kümmernissen? Wie könnte ihn Leid und Schmerz in dieser Welt noch betreffen? Es ist das Besondere an Jesus Christus, dass er zugleich der Leidende und der Auferstandene ist. Er identifiziert sich mit den Mühseligen und Beladenen. „Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. In jedem Mühseligen begegnen wir gleichzeitig der Gestalt Jesu, die uns mit durchdringenden Augen anblickt. Zugleich ist er der Auferstandene, der Hoffnung auf Überwindung des Leidens weckt. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“ (Offb. 21,4) Mit einem Satz: Jesus ist der Leidtragende und der Überwinder allen Elends. Die Seligpreisungen sprechen hier eine glücklich machende Sprache. „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ - „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden (Matth. 5,4.6) Selbst wer bereits verloren ist, ist bei Jesus gut aufgehoben. Kreuz und Auferstehung sind eine unschlagbare Verbindung.

Es gibt heutzutage viele, die der Botschaft von der Auferstehung ausgesprochen skeptisch gegenüber stehen. Sie sagen es deutlich: „Herr Pastor, Frau Pastorin, daran kann ich nicht glauben. Sie will mir nicht in den Kopf.“ Wer dem gegenüber blinden Glauben verlangt, nach dem Motto „Augen zu und durch“, ist nicht gut beraten. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, hat Immanuel Kant gesagt und geschrieben. Wer seinen Verstand anstrengt, wird der Philosophie nicht gerecht und der Religion auch nicht. Der Glaube macht den Menschen nicht klein, er lässt ihn vielmehr in höchste Höhen greifen. Zum Bespiel wenn wir singen: „Ehre sei Gott in der Höhe“. Wir strecken uns sonntäglich mit unserem Gesang nach dem Höchsten aus und können ihn doch nicht erreichen. Zum Glauben gehört Bescheidenheit, gewiss. Doch zu ihm gehört auch der Verstand in Gestalt des Zweifels, der wider den Stachel löckt.

Jesus lässt dem zweifelnden Thomas eine Sonderbehandlung widerfahren. Sie, liebe Gemeinde, können die Erzählung im Jovannesevangelium Kap. 20 nachlesen. Thomas kann, wenn er will, Jesu Wunden berühren, die Narben seines geschundenen Körpers, die Zeichen seiner Verletzlichkeit. Ich wiederhole noch einmal den Satz aus dieser Predigt: „Das ist das Besondere an Jesus Christus, dass er zugleich der Leidende und der Auferstandene ist“. Als Jesus ihm gestattet, seine Wunden zu berühren, bricht es aus ihm hervor: „Mein Herr und mein Gott.“ Er erkennt den Auferstandenen. Im Allertiefsten erblickt er den Allerhöchsten. Sein Zweifel ist der Durchbruch zur Wahrheit. Nun hat er endlich Durchblick.

Amen

Landessuperintendent i. R. Dr. Hinrich Buß
Ludwig-Beck-Str. 4
37075 Göttingen
Hinrich.Buss@evlka.de


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