Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

12. Sonntag nach Trinitatis, 14. August 2005
Predigt über Jesaia 29, 17- 24, verfasst von Johannes Block
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Universitätsgottesdienst, St.-Nikolai Leipzig

Wohlan, liebe Universitätsgemeinde! Wohlan! Mit dieser Aufmunterung beginnt das Predigtwort. Mitten im August prophezeit Jesaja einen großen Advent. Wohlan, es ist noch eine kleine Weile! Dann steht vor uns ein neuer Anfang. Dieser Advent mitten im Sommer fällt urplötzlich wie vom Himmel, gegen den Kalender und gegen alle Erwartung. Vielleicht kann man die visionäre Botschaft des Jesaja auf diese Formel bringen: Am Ende wacht auf einmal ein neuer Anfang auf. Das Predigtwort stellt dafür die Bilder vor Augen: am Ende wird aus dem trockenen Libanon ein blühendes Land; am Ende sehen Blinde und hören Taube; am Ende jubeln die Ärmsten unter den Menschen, und die Gerechtigkeit siegt. Wohlan, liebe Universitätsgemeinde!

I.

Genießen wir doch diese himmelweite Aussicht! Sie ist so selten und so seltsam wie eine Adventsfeier im August. Hätten wir nicht Jesajas Worte im Buche stehen, so hätten wir keinen Anhaltspunkt und keinen Ausblick. Dann bliebe alles beim alten. Dann bliebe es bei den nackten Zahlen und Ziffern der Gegenwart: die Wirtschaftskraft sinkt; die Deutschen bringen immer weniger Kinder zur Welt; die Altersversorgung nimmt ab, und der Steuersatz nimmt zu. Am Ende hat man Glück, wenn man nicht ganz am Ende ist.
Nicht einmal die Kirche verströmt prophetische Phantasie. Auch hier herrschen Hochrechnungen und Tabellen: sinkende Mitgliederzahlen, sinkende Beiträge und Personalstellen. Aus lauter Angst vor der Zukunft könnte man meinen, die Kirche sei blind und taub geworden für das Buch des Jesaja. Das aufmunternde Wohlan liegt vergraben zwischen zwei Buchdeckeln. Es gibt Zeiten, weiß Martin Luther, da liegt die Heilige Schrift wie im Staub unter der Bank.

Was könnte der Grund dafür sein? Warum schlägt sich der Ausblick des Propheten kaum nieder im Lebensgefühl der Menschen und in der Tagungsordnung der Kirche?
Möglicherweise paßt der prophetische Advent im Sommer einfach nicht in den Terminkalender. Wer verschiebt schon gern seinen Urlaub! Die Vision des Jesaja klingt nicht praktikabel genug. “Wer Visionen habe, möge doch zum Arzt gehen!“ So lautet ein spitzes Resumee des Albundeskanzlers Helmut Schmidt. Unterm Strich scheint es, daß sich mit dem visionären Wort des Propheten kaum kalkulieren läßt: weder im knappen Haushalt eines Instituts noch in dem einer Landeskirche; weder im ausgeklügelten Gang der Karriere noch im kostbaren Gang des Urlaubs. Visionskraft und prophetische Seherkunst sind nicht planungssicher genug in der hochgezählten, festgeklopften Lebensperspektive. Am Ende hat man Angst, etwas verpasst zu haben oder gar zu kurz gekommen zu sein. Daß am Ende ein neuer Anfang blüht, das spricht gegen die Erfahrung.

II.

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile! Manchmal sind es Texte und Worte, die Visionen wachhalten. Wenn niemand mehr etwas weiß von einem Anfang im Ende, dann überwintert die prophetische Kraft im gedruckten Wort. Vor einiger Zeit hat der Schriftsteller Salman Rushdie in einer großen Tageszeitung an “die revolutionäre Kraft der Literatur“ erinnert. Salman Rushdie hat am eigenen Leib die lebensgefährliche Wirkung eines seiner Bücher erfahren und wurde mit dem Tod bedroht. Er schreibt:

Tyrannen fürchten die Wahrheit von Büchern, weil sie niemandem verpflichtet ist. Eben darin steckt die revolutionäre Kraft der Literatur, in diesen kleinen Revolutionen in der Phantasie des Lesers. Die Feinde der Phantasie, all die Politbüros (und) Ajatollahs wollen diese Revolution ein für allemal unterbinden, doch das gelingt ihnen nicht.

Bücher, die die Phantasie der Menschen beflügeln, können eine prophetische Aussicht schenken. Auch Gedichte können den Blick auf eine neue Zeit öffnen. “Wir träumen einen Traum“ heißt ein Text von Günter Hildebrandt:

Wir träumen einen Traum
und wenn auch alle lachen,
wir träumen einen Traum
von einer besseren Welt.

Da sind die Blumen nicht aus Schaum,
da sind die Tränen nicht aus Glas,
da ist die Freude nicht geschminkt,
da ist das Leben schön.

Wir träumen einen Traum
und schenken ihm das Leben,
wir träumen einen Traum
und machen uns die Welt.

Gewiß, Träume kann man für verrückt erklären. Und doch ist mit ein paar Gedichtzeilen ein Türspalt aufgegangen. Jetzt öffnet sich der Blick über die geplante Tagesordnung hinaus. Wie gesagt, in dürftiger Zeit ist manchmal allein das gedruckte Wort ein Träger der Vision.
Möglicherweise ist es Jesus von Nazareth ähnlich gegangen, als er zu seiner Zeit das Buch Jesaja aufschlug. Im Lukasevangelium wird davon berichtet. Jesus ging nach seiner Gewohnheit in Nazareth am Sabbat in die Synagoge:

Da wurde Jesus das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: “Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen.“ Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich (Lukas 4,17-18).

Im Buch des Propheten wird die visionäre Botschaft überliefert. Jesus von Nazareth lernt an Jesajas Text, daß Gottes Kommen alle Dimensionen sprengt. Der Tag des Herrn (Jesaja 2,12) ist kein üblicher Kalendertag. Wenn man davon erzählen will, dann muß man von Umsturz und Umkehr erzählen. Dann wird das Alte neu, und aus Letzten werden Erste: Gefangene werden frei; Blinde sehen; Arme jubeln.

III.

Will man ein Freund dieser Botschaft werden, dann müßte man sich seiner eigenen Armut freuen. Endlich wäre das möglich: sich seiner eigenen Armut freuen. Auf einmal werden die alten Kisten im Keller kostbar, die man so gern vergessen wollte. In dunklen Kisten hat man die eigene Armut abgestellt: das mittelprächtige Diplom; die gestapelten Bewerbungsmappen; die dicken Scheidungsakten; die alten Hochzeits- und Familienbilder, die jetzt nur noch traurig machen. Inmitten dieser dürftigen Gefühle verkündet Jesaja großen Jubel. Er sieht den Tag des Herrn bei denen, die in Dunkel und Finsternissen sitzen. An diese umstürzende Sicht der Dinge erinnert Jesus von Nazareth, als er zu Tisch sitzt zwischen Zöllnern und Sündern (vgl. Lukas 5,30; 15,1). Auch das berichtet das Lukasevangelium: vom fröhlichen Tisch des Herrn voller verlorener Menschen. Das ist wie Weihnachten im Sommer. Und manch ein Augenzeuge hält den visionären Mann aus Nazareth für den wiedergekommenen Propheten (vgl. Lukas 9,19).

Jesaja und Jesus - beiden gemeinsam ist jedenfalls, daß sie nicht nur Freunde gefunden haben, sondern auch Feinde. Die Feinde von Gottes Advent inmitten der armselig Verlorenen sind die, die sich eingerichtet haben. Es sind diejenigen, die ihre feinen Zeugnisse und Diplome an der Bürowand hängen haben. Es sind diejenigen, die ihre schönen Bilder auf dem Kaminsims zeigen. Man hat sich eingerichtet und ahnt, daß man bei der himmlischen Umkehrung der Verhältnisse nur den kürzeren zieht. Daß aus Ersten Letzte werden, macht Angst. Und Ängste gebären Abwehr und Agression. Am Ende wird Jesaja zum leidenden Gottesknecht, wie es das Prophetenbuch notiert (vgl. Jesaja 52,13ff.). Am Ende wird Jesus zum gekreuzigten Mann aus Nazareth, wie es im Evangelienbuch zu lesen ist (vgl. Lukas 23,32ff.).

Nun scheint am Ende doch das Ende zu stehen. Was gäbe es jetzt noch zu sagen?
Wohlan, liebe Universitätsgemeinde! Es ist wiederum ein gedrucktes Wort, das an die visionäre Botschaft erinnert. Dieses Wort taucht in jedem Gottesdienst auf: Es ist das Vaterunser (vgl. Lukas 11,2-4). Es ist ein zur Schrift gewordenes Gebet und nimmt die vorausblickende Botschaft des Jesaja auf. Möglicherweise ist unser alttestamentliches Predigtwort ein Abschnitt, an dem sich Jesus von Nazareth geschult hat. Vielleicht hat sich in der Auseinandersetzung mit dem Jesaja-Text das Vaterunser herausgeschält: Geheiligt werde dein Name! Dein Reich komme! Die erste und die zweite Bitte im Vaterunser klingen wie Überschriften über Jesajas Vision. Mit ihrer Hilfe können wir die Botschaft des Propheten abschließend zusammenfassen. Beginnen wir mit der ersten Hälfte des Predigtwortes. Es läßt sich mit der Bitte überschreiben: Dein Reich komme!

IV.

Die Bitte um das kommende Reich faßt zusammen, was Jesaja mit umstürzenden Bildern beschreibt (Verse 17-21): das fruchtlose Land blüht auf; die tauben Sinne öffnen sich; im Gerichtssaal siegt das Recht. Endlich beginnt ein neuer Anfang! So vieles scheint ja falsch und verkehrt in unserer Welt: Landstriche in Afrika versteppen und ernähren keinen Menschen mehr; die laute Beschallung und der akustische Konsum rauben vielen Jugendlichen in Europa den gesunden Gehörsinn: ist das die moderne Variante dessen, mit Taubheit geschlagen zu sein?; viele Kinder in Asien haben keinen Zugang zu Bildung und Büchern; Arme werden scheinbar auch in Deutschland immer ärmer, und immer gibt es die schneidigen Typen, die vom Unglück der anderen profitieren.
Dein Reich komme! Es steht also noch etwas aus! Eigentlich ist nichts verloren, weil Gottes Reich wie hinter der nächsten Kurve seine Flügel breitet. Dann wird das Krumme gerade! Dann hat Gott seine Hand im Spiel, und aus dem Ende wird ein Anfang. Aus dem toten Land wächst das Brot. Den ungerechten Typen wird das Maul gestopft - vielleicht mit einem himmlischen Rechtshaken. Gottes Reich kommt immer auch als Gericht. Dann jubelt man auf den billigen Plätzen und singt wie im Chor: “Seht, seine Rechte sieget wieder, sein heilger Arm gibt Kraft und Mut!“ (Ps 98 / EG 286,1). Wir werden dieses kommende Reich spüren wie im Gerichtssaal, wenn Recht gesprochen wird. Wir werden Gottes Reich spüren, wie man die Ernte sieht, riecht und schmeckt im fruchtbaren Land.

Ein Vorgeschmack davon leuchtet dann und wann im Leben auf. Daß am Ende alles anders kommt, das spürt der Ruheständler, der sich beim Abschied noch wie auf dem Abstellgleis fühlte. Aber aus dem Ende wurde ein neuer Anfang. Das spürt der Teenager, den die große Liebe verließ. Das spürt die Unfall-Patientin, die dem Tod in die Augen blickte. Am Ende ist man doch nicht am Ende. Im Predigtwort wird Abraham als Augenzeuge aufgerufen. Abraham, heißt es, den der Herr erlöst hat (Vers 22). Halten wir uns an die, die einen Vorgeschmack erfahren haben. Unsere Geduld können wir etwa an dem Mann aus Nazareth stärken - an dem, der am Lebensende Gottes Anfang spürte. Vielleicht kann es auch jener Ruheständler oder jener Teenager sein, die uns vom Anfang im Ende erzählen. Wohlan, es ist noch eine kleine Weile!

V.

Ein weiteres und letztes Geländer in das Predigtwort ist jene andere Bitte im Vaterunser: Geheiligt werde dein Name! Nach der Umkehr der äußeren Verhältnisse denkt das Predigtwort jetzt an die Umkehr des inneren Menschen (Verse 22-24). Auch beim inneren Menschen steht noch etwas aus: das ist eine unverkrampfte Frömmigkeit voller Gesang und ohne Zwang. Es ist eine selbstlose Liturgie, die Jesaja schaut. Er schreibt:

Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten .

Wie die Luft zum Atmen von selbst kommt, so wird auch der Glaube wie von selbst sich bewegen - ohne Krampf und ohne Druck. Die Glaubensfreude stellt sich von selbst ein, sobald Gottes Werk sich sehen, fühlen, schmecken läßt - fühlen und schmecken wie die Gerechtigkeit im Gerichtssaal und wie das frische Brot zum Wein. Dieser Geschmack entfaltet sich im Abendmahl. Hier steht Gottes Werk in unserer Mitte. Hier leuchtet der Geschmack des Reiches Gottes auf: aus totem Korn wird neues Brot, aus dem Tod wächst ein neuer Anfang. Wohlan! Jetzt singe, liebe Universitätsgemeinde! Jesaja schaut den neuen Anfang und singt bereits mit voller Liturgie: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! (Jesaja 6,3).

Amen.

Dr. Johannes Block
Universitaet Leipzig, Institut fuer Praktische Theologie
Otto-Schill-Str.2
04109 Leipzig
Tel: 0341-9735460 Fax: 0341-9735469
Internet: www.uni-leipzig.de/~prtheol


(zurück zum Seitenanfang)