Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

12. Sonntag nach Trinitatis, 14. August 2005
Predigt über Markus 7, 31-37, verfasst von Arne Ørtved (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Es gibt den Typ des „Knotenmannes”. Es gibt wohl recht viele davon. Sie sind sehr verschieden, aber sie sind sich ähnlich in den „Knoten“. Der Knotenmann ist mitten in seinem Leben sozusagen erstarrt. Vorher konnte er lachen und singen. Er konnte schöne Dinge zu seiner Frau sagen und lustig mit den Kindern plaudern. Wenn Freunde zu Besuch kamen, sprach man über alles Mögliche; auch über das, was ihnen misslang, über Hoffnungen und Enttäuschungen. Lauter gute Gespräche, wie sie nur unter Freunden stattfinden können.

Damals, bevor er die „Knoten bekam“, schlief er nachts gut; und es gab morgens immer etwas, was beim Aufstehen half. Der Tag lag vor ihm, voller Möglichkeiten und Überraschungen. Das Gehalt war damals bestimmt nicht schwindelerregend, und es gab auch massenhaft Probleme. Aber er hatte auch die Energie und Phantasie, sie zu lösen; und er konnte sich ohne weiteres mit dem einrichten, was er hatte. Gott bewahre, man konnte auch sauer sein und wütend; aber das war schnell wieder vorbei, weil die Heiterkeit stärker war.

Jetzt aber kann man sich nicht mehr erinnern, wie und wann die „Knoten“ auftauchten. Sie kamen wohl nach und nach und immer öfter. Er begann, sich an Kleinigkeiten zu klammern. Und dann fühlte er sich ungerecht behandelt. Es waren immer nur die Anderen, die Glück hatten. Den Anderen fiel alles leicht: Die Kollegen, die Nachbarn, die Freunde, die Familie, die Ehefrau, die Kinder. Er war der Einzige, der hart zu arbeiten hatte, der Einzige, der Probleme hatte, der Einzige mit Schwierigkeiten im Straßenverkehr, der Einzige, der Regen hatte, der Einzige mit solchen Kindern. „Die Jungen“ nannte er sie. Das hatte er auch vorher getan, aber da war der Tonfall ein völlig anderer gewesen. Jetzt klang das Wort die Jungen gereizt, ja, es verriet fast Abscheu.

Anfangs waren es vielleicht gar nicht so viele, denen es auffiel, dass er sich veränderte. Die Veränderung kam ja unmerklich und allmählich. Eines Tages setzte er sich in der Kantine an einen anderen Tisch. Oder er stürmte aus dem Haus und hielt dem Nachbarn eine Standpauke, weil dessen Hund auf seinen Rasen pinkelte. Das hatte der Hund allerdings schon 14 Jahre lang getan, und der Rasen wuchs immer noch. Er wuchs nur allzu gut, denn manchmal musste man ihn mehrmals wöchentlich mähen, und immer dann, wenn man am allerwenigsten Lust dazu hatte.

Jeden Tag war irgendwas nicht in Ordnung: Das Fernsehen, das Wetter, der Werkführer, das Auto, die Außenpolitik, der Supermarkt, die Ausländer. Man wusste nie, wo es bei ihm losbrach. Aber man erlebte es immer öfter, wie wenn alle und alles ausgerechnet ihm in die Quere kamen. Und wären es auch nur die Wechselkurse gewesen, die er vorher nie gebraucht hatte, so konnte er sie in der Zeitung finden, bloß um sich über sie aufzuregen.

Trotz allem war es besser, er war so, verglichen mit der Zeit, als er sich völlig verhärtete. Er schloss sich in sich selbst und in seine eigene Bitterkeit ein. Als er völlig vergaß zu lachen, zuzuhören, Eindrücke aufzunehmen, Antworten zu geben, überhaupt Gespräche zu führen. Jede Berührung war ihm wie störende Fliegen, jede Rede wie störender Lärm. Man konnte ihn nicht mehr erreichen. Er war kein Roboter geworden, denn wenn man ihn kannte, konnte man sehr wohl sehen, dass er litt. Und das machte es auf gewisse Weise noch schwerer. Einen Roboter oder eine steinerne Statue konnte man ja ignorieren; aber sein Leiden bewirkte, dass man ihn nicht einfach sich selbst überlassen konnte.

Manchmal war es geradezu, wie wenn er stammelte und stotterte, um etwas, was er sagen wollte, hervorzubringen; aber es kam nicht. Stattdessen presste er die Lippen zusammen, und es kam eine eisige Stille, die nicht nur ihn erfasste, sondern auch seine Umgebung. Er war „taubstumm“ geworden. –

Es gibt auch etwas, was wir Weiberknoten nennen. Das sind keine verkehrten Knoten, es ist etwas, was Frauen in ihrer Seele bekommen können. Es tut so unheimlich weh, aber man kann es auf keinem Röntgenschirm sehen. Die Frauen sind so traurig, aber wenn sie erklären sollen, warum es so um sie steht, können sie keine Gründe nennen. Sie haben alles, was ihr Herz begehrt: Ein schönes Heim, einen gutmütigen Mann, liebe Kinder. Vielleicht haben sie trotzdem nicht alles, was eben das Herz begehren kann. Es fällt ihnen so schwer, davon zu sprechen. Und mit denen, die ihnen am nächsten stehen, können sie ganz und gar nicht darüber reden. Die Worte verwirren sich zu Knoten. Weiberknoten.

Knotenmänner und Weiberknoten! Die moderne „Taubstummheit“! Die Worte erfrieren irgendwo zwischen der Seele und dem Mitmenschen. Sie können weder hineinfinden noch herauskommen. Der Mensch wird immer einsamer in seinem eigenen Schmerz. Es ist, wie wenn die Verzweiflung sich selbst in den Schwanz beißt.

Menschen diskutieren so oft, was Sünde ist. Und sie nennen verschiedene mehr oder weniger unglückliche Dinge, die sie unternommen haben. Aber wie sieht die Sache aus, wenn Sünde genau dieser verzweifelte Zustand des in sich Eingeschlossenseins ist? Etwas, was Macht über einen hat und einem das Leben stiehlt. Es trifft die Tatkraft, die man hatte; und man tut sich schwer damit, sich helfen zu lassen. Es braucht natürlich nicht jeden Tag und immerzu so zu sein; aber vielleicht erlebt man es dennoch immer öfter. Die Ehe wird immer schweigsamer. Der Arbeit wird einem mehr und mehr zuwider. Die Gesellschaft ist geradezu hoffnungslos; und überhaupt gibt es nur ganz wenige Lichtblicke. Vielleicht gelingt es einem, das Gefühl in Alkohol zu ertränken oder durch abstumpfendes Fernsehen zu betäuben.

Wie nun, wenn es so etwas ist, das Sünde ist? Dann ist Sünde jedenfalls ein weitaus gefährlicherer und umfassenderer Begriff, als man sich vorgestellt hatte. Dann ist Sünde nicht bloß etwas, was man so tut oder nicht tut. Sondern es ist etwas, das einen im Griff hat. Sicher kann man dagegen ankämpfen; aber das verschlägt nicht richtig. Die Knoten sind die ganze Zeit stärker als die Lösungen; und sie werden immer strammer. Sünde ist nicht einfach so ein unschuldiges Lächerlichmachen von Ordnungsregeln; sondern sie ist eine Nichtübereinstimmung mit dem Leben selbst, – mit Gott!

Sie kamen mit einem Knotenmann zu Jesus. Er konnte nicht hören, und das Reden fiel ihm schwer. Es handelt von den Worten, die eigentlich das Adelszeichen des Menschen sind: Geschaffen zum Bilde Gottes. Jetzt lebt er in der eingeschlossenen Verzweiflung, die Sünde heißt. Die Sünde geht nicht spurlos an einem Menschen vorüber. Hier hat sie das Gehör und die Rede getroffen. Da wissen wir, worum es geht.

Jesus nimmt ihn beiseite. Er tut merkwürdige Dinge an ihm. Die Neugierigen stellen sich auf die Zehenspitzen, vielleicht um ihm die Kunst abzulauern. Aber es ist überhaupt keine Kunst, die er mit ihm vorhat. Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll; aber der Mann soll ja offenbar auf irgendeine Weise überrannt werden.

Plötzlich sagt Jesus zu ihm: Effata! Das bedeutet: Tue dich auf! – Genau dies ist das Problem. Es gibt wohl nichts, was der Mann lieber tun würde. Er ist völlig verschlossen dem Leben gegenüber und Gott gegenüber. Nur Gott allein kann ihm helfen. Der Mann muss in Wirklichkeit völlig von vorne anfangen, wie damals, als er geschaffen wurde mit lebendigen Worten auf seiner Zunge. Hat Jesus die Vollmacht, die so stark ist wie Gottes eigenes Wort? Denn es ist das Einzige, was hier helfen kann. Es ist keine Hexerei, die hier nötig ist. Es ist Gottes-Macht.

Ja, Jesus hat tatsächlich die Vollmacht, denn in dem Augenblick, da die Worte ausgesprochen werden, tut sich der Mann für das Leben auf; und er kann hören und sprechen. Seine Sünde ist überwunden – und vergeben. Das Wunder ist geschehen, und der Jubel will natürlich kein Ende nehmen. Es ist kein Heilungswunder, über das sie jubeln; sondern es ist der Sieg über die Sünde. Gott hat vor ihren Augen seine Macht gezeigt. Und obwohl Jesus sie zu beschwichtigen sucht, verbreitet sich die Kunde von ihm über die ganze Gegend.

Die Kunde ist denn auch bis ganz hierher in unsere Breitengrade vorgedrungen. Und unterwegs ist sie immer stärker geworden. Was Jesus an jenem Tag am Galiläischen Meer getan hat, war nicht das Einzige seiner Art. Überall dort, wo er hinkam, befreite er Menschen von der Qual der Sünde. Die Gelähmten konnten gehen, die Tauben hören, die Blinden sehen, ja selbst die Toten kamen für eine Zeit wieder zum Leben.

Das alles ist Zeichen für ein und dieselbe Sache: Wo Jesus ist, dort ist Gott auch. Wo Jesus spricht, dort spricht Gott auch. Es geht nicht um Wunder und Heilungen, sondern um den Kampf gegen und den Sieg über die Sünde. Aber wohlgemerkt: Die Sünde als das verzweifelte Getrenntsein vom Leben, von anderen Menschen und von Gott. Die Verzweiflung, die uns überwältigen kann, immer wieder.

Die Kunde ist zu unseren Breitengraden gekommen. Es ist eine Kunde, über die wie Gottesdienst halten. Hier kommt er, der diese Verzweiflung in die Flucht jagen kann. Hier kommt er, der der Knoten lösen kann.

Es ist keine Mirakelkur. Es ist auch keine psychiatrische Behandlung, – nicht einmal Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist nur dies, dass Gott durch seinen Sohn Jesus Christus zu uns spricht. Und die Worte sind so stark, dass sie Menschen auftun, öffnen können. Effata! sagt er zu den kleinen Kindern, die getauft werden. Sie sollen immer wieder daran erinnert werden. Wenn sie anfangen, sich um ihre eigene Verzweiflung einzuschließen. Tue dich auf! Gott hat für dich gebürgt und bürgt weiterhin für dich. Tue dich auf! – Lebe! Siehe Gott und deinem Nächsten in die Augen. Es besteht kein Grund zur Furcht, wenn Gott für dich gebürgt hat.

Warum ist Gottes Wort so stark? Weil es Gottes Wort ist – und weil es das Wort der Liebe ist. Die Liebe ist das Einzige, was das verschlossene Herz aufschließen kann. Die Liebe wirkt jeden Tag in der ganzen Welt mit diesem Ziel vor Augen. Und wenn Menschen aufgeben müssen oder versagen, dann steht Gott doch immer da mit seinem Effata! Tue dich auf! Höre, dass Jesus dich liebt! Gehe hinaus und lebe davon und siehe: Alles blüht um dich herum wie ein Rosenbeet!

Amen

Pastor Arne Ørtved
Birkebæk 8
DK-7330 Brande
Tlf.: ++ 45 – 97 18 10 98
E-mail: ortved@mail.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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