Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 7. August 2005
Predigt über Lukas 18, 9-14, verfasst von Niels Henrik Arendt (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Das Christentum handelt davon, aus seiner Finsternis herausgeholt zu werden und sich in der Welt umsehen und auch anderen Menschen in die Augen sehen zu können, weil sie weder diejenigen sind, mit denen man sich vergleichen soll, noch diejenigen, die Gericht über einen halten sollen. Gott setzt den Maßstab für unser Leben, Gott wird das Urteil darüber fällen. Das ist zunächst einmal eine ernste, eine erschütternde Botschaft, die wir da bekommen. Das Evangelium behauptet, dass wir nichts Erfreulicheres zu hören bekommen könnten; zum einen, weil es besser ist, von Gott gerichtet zu werden als dem Urteil von Menschen ausgeliefert zu sein, zum Andern, weil Gott barmherzig ist.

Wir kennen nicht viele Pharisäer beim Namen, aber einen kennen wir nun doch. Ihm begegneten wir in einem anderen Text heute (1. Kor. 15,1-10), nämlich dem Pharisäer Paulus. Das ist eine denkwürdige Begegnung. Wir pflegen ihn den Apostel Paulus zu nennen, aber am Anfang war er Pharisäer. In dem Text, den wir vorhin vom Altar hörten, spricht Paulus unstreitig von sich selbst auf eine Art und Weise, die eher an den Zöllner erinnert. Er bezeichnet sich selbst als eine Missgeburt. Das heißt: im Verhältnis zu dem, was er hätte sein wollen, ist er unentwickelt, nicht der ganze Mensch, der zu sein ihm bestimmt war.

Der Pharisäer Paulus bringt damit eine große Demut zum Ausdruck. Er hatte sehr wohl Gründe, so von sich selbst zu reden, nicht zuletzt weil er wusste, dass diejenigen, an die er schrieb, seine Vergangenheit kannten. Er hatte Grund, sich schuldig zu fühlen, er hatte Christen verfolgt, er hatte sich verschworen, um sie auszurotten, er hatte Plane ausgearbeitet, die ihm selbst Einfluss und Macht verschaffen und einen todbringenden Schlag gegen die noch junge christliche Kirche führen sollten.

Man kann gut verstehen, dass Paulus sich verlegen fühlte, beispielsweise gegenüber den klugen Menschen in Korinth, an die er schreibt. Aber trotzdem sieht er ihnen ganz freimütig in die Augen, ja ihnen und allen Anderen, auch den leitenden Personen in der jungen Kirche, Simon Petrus und den übrigen Aposteln. Bei mehreren Gelegenheiten tritt er ihnen sogar sehr nahe. Das liegt an der Botschaft, deren Diener er geworden ist. Paulus weiß sehr wohl, dass die Leute in Korinth sich ihre eigenen Gedanken über ihn machen: was bildet der sich ein, mit der Vergangenheit, die er hat? Aber seine Antwort lautet: ja, ich habe eine Vergangenheit, ich war in einer tiefen Finsternis, ich bin eine Missgeburt, der Geringste unter den Aposteln. „Aber,“ so fährt er fort, „mir, der Missgeburt, dem Schuldigen, ist Christus erschienen.” Das heißt: Ich bin in Gottes Augen etwas wert, sonst hätte er seinen Sohn nicht zu mir gesandt, mag ich auch noch so unvollkommen sein. Durch die Gnade Gottes bin ich etwas wert. – Daher seine Freimütigkeit. Er sollte nicht von Anderen gerichtet werden, sondern mit ihnen zusammen sollte er durch den Christus gerichtet werden, den er abgelehnt hatte, der aber dennoch zu ihm gekommen war und ihn in Gnaden angenommen hatte. Gott selbst hatte sich seiner angenommen und ihn zurechtgewiesen.

Von Gott angenommen und zurechtgewiesen zu werden, davon handelt auch die kleine Erzählung von dem Pharisäer und dem Zöller im Tempel.

Die Erzählung spricht nicht davon, dass der Pharisäer ein Heuchler und der Zöllner ein Held ist; nein, sie ist ein Einspruch gegen die ganze Art und Weise, wie wir über uns selbst denken, und sie ist ein Einspruch gegen unsere Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Wir benehmen uns im Großen und Ganzen wie der Pharisäer, wie sehr wir uns auch von ihm abgestoßen fühlen mögen.

Der Pharisäer behauptet sich selbst, indem er sich an denjenigen misst, die geringer sind als er selbst. Das ist etwas, was wir alle tun. Unsere Gesellschaft ist durchwachsen von dieser Art des Vergleichens, die uns selbst erhöhen soll. Wir sehen heimlich auf die Anderen, wir machen die Meinung Anderer über sie oder deren Meinung über uns zum Maßstab des Lebens. Innerhalb dieser Art, die Welt und die Anderen aufzufassen, ist reichlich Platz für Minderwert und Hochmut, für Neid und Schadenfreude.

In unserem gemeinsamen Leben ist das leider ungeheuer häufig. Wenn man irgendetwas besitzt oder etwas kann, bekommt dies oft seine Bedeutung aus der Tatsache, dass Andere einen darum beneiden müssen. Der eigene Wert und das eigene Selbstgefühl hängen oft davon ab, dass man sich umfassend mit Anderen vergleicht. Man stärkt seinen eigenen Glauben daran, dass man für etwas steht, indem man Andere heruntermacht. Das ist schon im Kindergarten so; unter jungen Menschen; unter denen, die den Ton angeben; es gilt im Grund von uns allen: Man behauptet sich im Vergleich mit Anderen. Es ist wie die Luft, die wir von Kindesbeinen geatmet haben. Der Vergleich ist ehrlich gesagt eine Pest in unserem Leben.

Der Fehler des Pharisäers war es nicht, dass er ordentlich zu leben versuchte, ja, nicht einmal, dass er seinem Streben Wert beimaß. Sein Fehler war es, dass er diesen Wert aus einem Vergleich mit den Anderen zog. Er meinte, er könne sich für sein Leben mit dem Maßstab begnügen, der in einem armen Zöllner bestand. Er meinte, mit ihm sei alles in Ordnung, wenn er nur besser war als die Geringsten. Wenn wir uns heute immerzu mit den Augen Anderer sehen, wenn wir herabsetzend über die Anderen reden oder ihnen die Schuld geben, aber nur selten die Ehre zuerkennen, es sei denn, dies könnte uns noch weiter über sie erhaben erscheinen lassen, dann ist das Ausdruck dafür, dass wir die Anderen nicht als Brüder und Schwestern sehen können, weil wir sie alle geringschätzen oder uns selbst geringschätzen. Das Evangelium verwendet einen größeren Maßstab, ja den größten. Es sagt: Gott existiert – er will dein Leben und er will etwas Bestimmtes damit. Wenn du dich selbst messen willst, dann messe dich selbst mit diesem Maßstab – anstelle mit den Anderen. So drückt die Kirche eine einzigartige Achtung vor einem jeden Menschen aus. Ein jeder Mensch steht in einem Verhältnis zu Gott, jeder Mensch ist deshalb auch etwas ganz Besonderes, auch wenn er vielleicht im Verhältnis zu Anderen nichts ist. Dass Gott existiert, bedeutet, dass jeder Mensch nicht nur an den Anderen gemessen werden soll, sondern mit einem Maßstab, der größer ist. Gemessen mit diesem Maßstab kommt der Mensch zu kurz. Dass sich der Mensch aber überhaupt an diesem Maßstab messen darf, das ist zugleich Ausdruck dafür, wieviel der Mensch wert ist.

Der Zöllner, der sich auf die Brust schlägt und sagt, Gott, sei mir Sünder gnädig, war gewiß, verglichen mit dem Pharisäer, ein armer Tropf. Das wußte er sehr genau, es gab nicht viele, die geringer waren als er. Aber er begnügte sich nicht damit, sich an dem bescheidenen Maßstab zu messen, der da heißt: diejenigen, die geringer sind als ich; er wagte es, sich an dem größten Maßstab zu messen, den es gibt, an Gottes Maßstab. Es gehört einiges dazu, zu Gott hinzugehen und zu sagen: Gott, sei mir Sünder gnädig. Das verlangt einen Glauben daran, dass man kein Wurm ist, sondern ein Mensch. Es verlangt einen Glauben daran, dass Gott etwas mit seinem Leben gewollt hat, wie sehr man es auch verfehlt hat. Der Zöllner ist zu kurz gekommen gegenüber dem, was Gott mit ihm gewollt hatte – auch in seltenem Ausmaß. Aber er ging gerechtfertigt nach Hause, sagt Jesus. Das heißt: er ging nach Hause als ein Mann, der sein Haupt erheben durfte, auch wenn er zufällig an einem Pharisäer vorbeiging. Denn es war Gott gewesen, zu dem er seine Augen nicht zu erheben wagte, und das durfte er jetzt.

Das Evangelium handelt davon, dass Gott sich unserer annimmt und uns zurechtweist. Das Evangelium holt uns aus unserer Finsternis, aus der Finsternis der Selbstverachtung oder des Hochmuts, und öffnet die Welt von neuem für uns. So wie Paulus es empfand – der Mann mit der Pharisäervergangenheit. Du bist etwas wert, unabhängig davon, ob du es in den Augen Anderer nicht bist. Du bist ein Sünder, vielleicht sogar ein großer Sünder. Aber das ist ein Adel, denn Gott hat seine Liebe Sündern zugewandt. Ganz einfältig gesagt: wer sich vor Gott beugt, braucht vor keinem anderen Menschen zu kriechen. Amen.

Bischof Niels Henrik Arendt
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Tel.: 74 52 20 25
E-mail: nha@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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