Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 7. August 2005
Predigt über Matthäus 21, 28-32, verfasst von Klaus Schwarzwäller
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Das Gleichnis ist klar. Es bedarf keiner Auslegung, zumal Jesus selbst so etwas wie eine „Anwendung“ hinzufügt, die auch den Verstocktesten unter seinen Gegnern im damaligen Israel die Augen dafür geöffnet haben müßte, worum es hier geht: nämlich daß sie selber auf dem Spiel stehen. Wenn ich’s einmal ein wenig locker sagen darf: Es dürfte nicht Jesus gewesen sein, wenn nicht eine herausfordernde Umkehrung der gültigen Ordnung mit enthalten gewesen wäre: Die Frommen als die Ungehorsamen gegen Gott und damit den Heiden gleich und die üblichen Sünder als die, die am Ende gehorsam werden, aus dem Heidentum emportauchen und das Gottesvolk durch ihren Gehorsam beschämen und ablösen. Damit werden scharfe Grenzen gezogen und beinhart Fronten aufgebaut. Ein kuschelnder interreligiöser Dialog ist hier nicht vorstellbar: Entweder – oder. Etwas Drittes gibt es nicht.

Das paßt uns, wie ich vermute, ganz und gar nicht; zumindest aus zwei Gründen. Zum einen ist diese klare, scharfe Trennlinie zwischen Christenheit und Judentum Anlaß zu so grauenhaften Konsequenzen geworden, daß wir uns kaum getrauen, sie als solche auch nur anzugucken. Und zum anderen ist, auf die Christenheit selbst bezogen, die Grenzlinie zwischen denen, die fromm sind, aber ungehorsam, und denen, die offenkundige Sünder sind, doch zum Gehorsam finden, ausgewaschen bis zur Unkenntlichkeiten; wer die einen, wer die anderen sind: Wir wissen es nicht.

Doch zunächst zu der Trennlinie zwischen Christen und Juden. Nach meiner Erfahrung fällt es der Mehrheit unserer Mitmenschen schwer, Andere und Anderes stehen zu lassen – einfach so. Etwa daß Kinder toben und lärmen: „Ja, die müssen aber doch...! Die müssen lernen, daß sie Grenzen...!“ usw. Wenn sie trotzdem toben oder lärmen oder gar beides, dann kennen sie somit keine Grenzen oder sind ungezogen, so oder so entsprechend zu behandeln. Oder daß Muslime rituelle Waschungen vornehmen, bevor sie in eine Moschee eintreten: „Wieso denn das? Sind die sonst so dreckig? Man wäscht sich doch nicht öffentlich! Was sind das bloß für Leute!“ Oder auch, daß man in den USA nur in Ausnahmefällen gutes Brot kaufen kann: „Wie leben die denn eigentlich? Nicht einmal anständiges Brot...! Und überhaupt...“ und dann folgt eine Aufzählung dessen, was „die Amerikaner“ negativ auszeichnet und warum man froh ist, nicht dort leben zu müssen. Mir ist aufgefallen: In all dergleichen Abgrenzungen gegen Menschen oder Verhaltensweisen, die uns fremd sind, steckt immer wieder Selbstgerechtigkeit, vor allem aber Abwertung und Verurteilung derjenigen, die sich nicht an das halten, was wir für richtig oder normal halten. Das sind dann „die!“, und mit „denen“ hat man lieber nichts zu tun. Noch besser, es gäbe sie gar nicht... Man ist entsprechend immer wieder schnell bei der Hand, sie zu diskriminieren, zu mobben, zu drangsalieren, zu eliminieren...

Durch Jahrhunderte hindurch haben es Christen immer wieder auf vergleichbare Weise mit den Juden gehalten und sich dabei obendrein angemaßt, für Jesus Christus sozusagen als Grenzwächter und Gerichtsvollzieher aufzutreten. Im Erschrecken über diesen fürchterlichen Irrweg geriet in Vergessenheit oder wurde verdrängt und verwischt, daß Jesus, der Christus Israels, eine Grenze zog gegen seine eigenen Volksgenossen, nämlich insoweit sie ihn ablehnten. Er zog eine schneidende Grenze. Nur, er sagte dreierlei nicht: Er sagte nicht, daß diese Grenze nicht mehr überwunden werden könnte. Er sagte nicht, daß wir unsererseits irgend ein Recht zur Ausgrenzung hätten. Und er sagte nicht, daß die auf seiner Seite die Besseren wären, die da Privilegien für sich in Anspruch nehmen könnten. Er sagte all dergleichen nicht. Damit stellt er uns eine Frage: Können wir stehen lassen? Können wir gelten lassen? Bringe ich das, andere Menschen zu akzeptieren auch in unangenehmen oder belästigenden Eigentümlichkeiten oder in Zusammenhängen, gegen die ich mich nur strikt verwahren kann; sie in alledem einfach als Menschen zu nehmen: wie ich Geschöpfe Gottes, der seine Sonne aufgehen läßt über Gute wie Böse?

Ja, es gibt sie, es gibt die scharfe, die schneidende Grenzlinie zwischen dem alten und dem neuen Gottesvolk. Doch nicht wir ziehen sie – Er zieht sie. Nein, genauer: Diejenigen ziehen sie, die sich ihm und seinem Wort und Willen entziehen, verschließen, verweigern. Sollte uns die Versuchung anwandeln, diese Grenze unsererseits ziehen und bewachen zu wollen, dann mögen wir uns fragen, auf welche Seite wir uns selbst damit bringen – ! Genauer: Wo stehen wir und wohin stellen wir uns mit unserem eigenen Tun und Lassen? Das ist hier die Frage. Wo also stehe ich, wo?

Das andere ist die unscharf gewordene Grenze. Ich weiß von einem Banker, der war in einer Großstadt Direktor der örtlichen Filiale einer deutschen Großbank. Seine Freizeit verbrauchte er fast völlig in einem Nebenamt – „Ehrenamt“ nennt man das jetzt: Er war Mitglied in einer Kirchenleitung, und er nahm dieses sein Amt ernst und engagierte sich hier mit großem Einsatz. Nur: Seine Bank als Ganze war beteiligt an internationalen Geschäften, die notorisch Institutionen stabilisierten, die die Menschenrechte mit Füßen traten. War der Mann schizophren? Oder hätte er ehrlicherweise seiner Bank kündigen oder aber die Konsequenz ziehen sollen, er sei eben kein wirklicher Christ, und aus seinem kirchlichen Amt ausscheiden? – Mir wurde unser Predigttext noch einmal Anlaß, über ihn und seine Situation nachzudenken. Er dürfte für viele Personen und Positionen stehen, bei denen sich der Glaube und vom Glauben Ausgeschlossenes in der eigenen Existenz kreuzen und sich allenfalls auf dem Reißbrett klar voneinander abgrenzen und sozusagen auf Anteile verteilen lassen. Gesetzt, er hätte uns gefragt: Was hätten wir diesem Mann antworten sollen – antworten können?

Ich denke, wir alle sind in irgendeiner Weise hineinverworren und -verwickelt in Zusammenhänge, die unser Glaube ausschließt – nur: Wir können nicht anders, oder wir müßten diese Welt verlassen. D.h. die von Jesus gezogene Grenze geht dann mitten durch uns hindurch – das halte aus, wer‘s kann! Vermutlich gibt es niemand unter uns, der oder die ganz eindeutig nur auf der einen oder der anderen Seite der Grenze stünde. Ich deute es nur an: Viele Menschen sind auf die billigen Discounter und auf die Sonderangebote der Supermärkte angewiesen. Wir glauben doch, bitte, nicht im Ernst, daß diese Niedrigpreise möglich wären ohne Ausbeutung der Erzeuger bzw. von deren Arbeitern oder vielmehr: Arbeitssklaven oder auch – „Made in Korea“ – ohne die brutale Zwangsarbeit in nordkoreanischen „Umerziehungslagern“! Das muß nicht breitgetreten werden; denn allen unter uns, die nachdenken, könnte und wird klar sein, daß wir allesamt – teils mehr, teils weniger – auch Nutznießer von Unrecht, Ausbeutung und gnadenloser Willkür sind. Längst wurde durchdacht und sozusagen durchgerechnet: Wir wären es auch als „Aussteiger“ – beginnend mit den Steuern, die wir zahlen...

Jesu Worte eignen sich nicht zu Flohfängereien oder Haarspaltereien; will sagen: Es wäre Mißbrauch, aus ihrem Anlaß gleichsam zu berechnen, zu wieviel Prozent wir auf dieser oder jener Seite der Grenze uns befinden und was wohl mehr zähle u. dgl. m. Die Grenze geht mitten durch uns hindurch; demgegenüber ist es zweitrangig, wie es sich mit den Anteilen verhält – übrigens: Wer wollte sie exakt bestimmen und wägen? Wir haben, wahrhaftig, allen Grund zu der Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld.“ Wir sind in einer Weise in Zusammenhänge von Schuld und Sünde verstrickt, die uns schwindeln lassen könnte, ließen wir die Einsicht nur nahe an unsere Seelen heran. Und da wir das System des Welthandels und auch unserer eigenen Gesellschaft nicht zu durchschauen vermögen, können wir nicht einmal sicher sein, ob wir nicht am Ende – wer weiß – mit unserer besten Absicht und voll guten Glaubens immer schon dabei sind, zu Gott und seinem Willen zwar „Ja“ zu sagen, doch „Nein“ zu tun. Wir übersehen’s einfach nicht.

Was können, was sollen wir also machen?

Zweierlei, und beides gehört zusammen wie Adler und Zahl auf der Münze; d.h. eines ohne das andere wäre sinnlos und würde alles verfehlen.

Das ist sozusagen Adler: daß wir uns ernsthaft prüfen, ob, soviel wir können, sehen und erkennen, wir vor und über allem nach Gottes Wort und Willen fragen und hiernach uns richten – und daß wir entsprechende Korrekturen in unserem Tun und Lassen vornehmen, soweit dies möglich ist.

Und das ist gleichsam Zahl: daß wir, gerade weil und indem wir uns prüfen und korrigieren, als die Verstrickten, als die auf beiden Seiten der Grenze Lebenden uns in die Hand dessen lassen, der gekommen ist, uns zu erlösen, vorbehaltlos und im ganzen Wissen unserer unentrinnbaren Verstricktheit in Unrecht und Schuld: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“

Also daß wir gerade als die, die ganz auf Gottes Gnade angewiesen sind und an sie appellieren, ebendeswegen immer wieder prüfen, wo wir uns befinden und was wir tun, was uns wichtig ist und für uns gilt und entsprechend uns korrigieren. Und daß wir als die, die es ernst nehmen und immer wieder neu versuchen und besser, nicht der Illusion verfallen: Nun, nun hab‘ ich’s endlich geschafft!“, sondern uns dem barmherzigen Herrn in die Hand geben.

Heißt: daß wir so herum wie so herum aus dem Grenzen-Ziehen und Bewerten und religiösen Selbsteinschätzen und Es-recht-machen-Wollen; daß wir aus alledem herausfinden: „Herr, nimm mich, wie ich bin und kann. Und siehe, ob ich auf rechtem Wege bin, und führe du mich auf ewigem Wege.“

Das alles aber gilt es in diesen Wochen in einer uns bisher eher fremden Weise neu zu bedenken: nämlich vor dem Hintergrund von Bombenterror, der allmählich auch bei uns Alltag zu werden droht. Seit mit Madrid und London nunmehr auch in Europa jene Banden von verbohrten Killern sich austoben, die pro Woche im Iraq häufig so viele Menschen in den Tod reißen wie in Madrid und London zusammen, drängt sich uns die Frage nach den Grenzen neu auf. Denn jene blutrünstigen Fanatiker wüten immerhin ausdrücklich im Namen von Allah und im Vollzug eines gnadenlosen Krieges gegen uns als die „Ungläubigen“. Mögen Sprecher des Islam auch sich distanzieren und jenes Morden denunzieren, so brennt gleichwohl weltweit die Lunte eines „heiligen Krieges“, geführt von Muslimen, lichterloh und droht, Stück um Stück eine ihnen fremde und unheimliche Welt in die Luft zu jagen. Wie können, wie sollen wir uns dazu stellen?

Indem wir redlich sind und auf die von Jesus Christus gezogene Grenze acht haben. Dann ist dreierlei zu sehen: Erstens wurde nicht Allah in Jesus Christus Mensch für uns, sondern der, den Jesus Christus als seinen und als unseren Vater verkündigt. Zweitens wurde die Bomberei m.W. zuerst von Christen praktiziert und war im Zweiten Weltkrieg Mittel zu Schlächtereien und Massenmorden. Drittens aber gilt es, die Grenze zwischen den Terroristen und uns in der doppelten Weise zu respektieren: daß nur Gott selbst sie endgültig schließt und daß auch jene seine Menschen sind, die er sucht, wie er uns gesucht hat. Dabei mag uns zur Warnung dienen, daß, indem wir uns finden ließen, viele zuvor von Gott Gesuchte nicht wollten und sich vor ihm ins Abseits stellten – fromm, rechthaberisch, gleichgültig, eifernd, was auch immer. Der Herr aber bewahre uns alle davor, auf diese oder ähnliche Weisen uns vor ihm ins Abseits zu stellen oder Andere ins Abseits zu drängen.

AMEN.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
hweissenfeldt@foni.net


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