Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 31. Juli 2005
Predigt über Lukas 19,41-48, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

FRIEDEN

Damals, zur Zeit Jesu, wie heute, in unserer eigenen Zeit, sprach man über Frieden. Dieses oft gebrauchte, um nicht zu sagen verbrauchte Wort. Mißbraucht ohne Ende. Dennoch können wir es nicht entbehren. Aber es ist ein Wort, das durch seinen Gebrauch im Kampf um die Macht, durch seinen wiederholten Gebrauch als Vorwand für Gewaltanwendung allmählich allen Inhalt verliert und sich geradezu in sein Gegenteil verkehrt. – Als Jesus in Jerusalem einzog und seine Anhänger ihm als Erlöser und Befreier huldigten, als dem lange ersehnten Messias, da weinte er über die Stadt und sagte: „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen.“ Auch er sprach also vom Frieden. Man beachte aber, wie viel Gewalt herrscht um das, was er sagt. Er hat gerade einen Streit mit den Pharisäern gehabt, die von ihm verlangten, er solle seine jubelnden Anhänger zum Schweigen bringen. Jetzt weint er über Jerusalem, das von Krieg bedroht ist und seinem sicheren Untergang entgegengeht, weil es mit seiner Umwelt nicht in Frieden leben will oder kann. Weil es nicht weiß, was dazugehört, um Frieden zu erlangen. Dann geht er in den Tempel und fängt an, die Kaufleute hinauszujagen, er nennt sie Räuber und Banditen. – Schließlich schmieden die führenden Männer der Volkes, die Hohenpriester und die Schriftgelehrten Pläne, wie sie diesen Jesus töten können! – Mit anderen Worten: Da ist nicht viel Frieden in diesem Text; da ist fast nichts Anderes als Unfrieden und Gewalt. Vom Frieden reden ist also eine Sache, aber die Wirklichkeit ist etwas Anderes, die Welt, in die hineingesprochen wird, die Welt der Gewalt. Frieden ist nur ein Wort, ein Wunschtraum. Gewalt ist die rohe Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, die den Traum und das Wort zu Schanden macht.

Es ist ein unheimlich aktueller Text, den wir heute gehört haben. Und es scheint mir, dass ich das wohl schon oft gesagt habe. Jerusalem ist heute Zentrum der Gewalt. Buchstäblich! Selbstmordbomben und darauf folgende Vergeltung. Die Spirale der Gewalt. Immer wieder siegt die Logik der Rache über die Logik des Friedens. Jerusalem ist die Quelle des Unfriedens. Man wundert sich, wenn man daran denkt, dass das so viele Male vorher gesagt und geschrieben worden ist, ja, schon in den Psalmen im Alten Testament. Täglich wird in dem Gebiet vom Frieden gesprochen. Die ganze Welt diskutiert, was seinem Frieden dient – aber unterdessen nimmt die Gewalt zu und bedroht nicht nur Jerusalem und diese ganze Ecke der Welt mit Tod und Untergang, Krieg und Bürgerkrieg, einer neuen Berliner Mauer und allen möglichen anderen Dingen, die Menschen trennen, anstatt sie zu vereinen. Aber die Gewalt bedroht auch den Frieden in der Welt. Terror ist nicht etwas, was nur Jerusalem trifft, und Rache ist nicht etwas, was nur die Palästinenser trifft, er ist eine Bedrohung sozusagen aller Gesellschaften in der Welt. Auch wir haben das ganz konkret erfahren durch den Krieg im Irak. Unweigerlich stellt man sich selbst die Frage, ob Menschen überhaupt Frieden wollen? Oder fehlt uns nur die Fähigkeit, Frieden zu schaffen? Hat die häufige Gewaltanwendung ihre Ursache darin, dass wir von der Gewalt und der Spannung, die damit verbunden ist, angelockt werden, oder hat sie ihre Ursache darin, dass wir ganz einfach nicht klug genug sind, darauf zu kommen, was einem Leben in Frieden miteinander am besten dient? Ich muss wie alle anderen Menschen die Antwort schuldig bleiben. Ich weiß es nicht. Es ist unlogisch, es ist ein Selbstwiderspruch, dass wir eine Welt schaffen, die durch Waffengewalt regiert wird. Aber wir tun es trotzdem. Und die zahlreichen Versuche, eine Alternative zu der tyrannischen Macht der Waffen aufzustellen, haben alle nur relativen Erfolg gehabt. Was sind wir nur für Menschen? Warum können wir nicht damit aufhören, einander zu erschlagen? Das ist eine furchtbar naive Frage, aber wir sind gezwungen, sie zu stellen! Auch wenn wir möglicherweise selbst keine Antwort geben können.

Jesus weinte über Jerusalem und rief: „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient!“ Er sprach, wie wenn er es selbst wüsste. Wie wenn er etwas wüsste, was Andere nicht wussten. WAS? Was dient denn einem Leben in Frieden, hier und dort, jetzt und einst? Könnten wir etwas lernen, was wir nicht wissen und nicht verstehen, etwas was noch heute verborgen ist vor unseren Augen? Was war das wohl für ein Frieden, an den er dachte? – Er selbst kam auf einem Esel reitend in die Stadt. Er sollte einen König vorstellen. Einer, der mit Frieden kommt. Aber er sah lächerlich aus auf seinem armen Arbeitstier. Und Waffen, mit denen er sich selbst und seine Leute und den Frieden, mit dem er kam, hätte verteidigen können, hatte er nicht. Aber war vielleicht gerade das die Pointe? Er besaß keine Waffen! Er kam nicht, um seine Feinde totzuschlagen. Das war nicht die Art und Weise, wie er Frieden schuf. Ist das buchstäblich zu verstehen? Dass Waffen und Frieden unvereinbare Größen sind? Ja, in der Welt, mit der Jesus kommt, sind sie unvereinbar. Der Frieden, für den Jesus spricht, ist ein Frieden, der aus Liebe kommt und in dem Waffen ausgeschlossen sind. Er bringt eine andere Welt in die altbekannte Welt der Gewalt. Und das tut er auch heute. In der Welt als solcher ist im Großen und Ganzen alles beim Alten. Aber in diese wohlbekannte Welt bringt Jesus immerfort eine andere Welt, seine eigene Welt und die Welt Gottes. Es ist das Reich der Liebe. Hier erwirkt man Frieden, indem man den Feind liebt. Nicht indem man ihn totschlägt. Nicht durch Rache. Sondern indem man liebt. Du sollst deinen Feind lieben – das ist eine radikale Forderung aus der Bergpredigt, an die wir uns erinnern und die unsere Ruhe und Selbstsicherheit das eine über das andere Mal anficht. Und sie klingt heute genauso unmöglich und unwirklich wie damals. Aber sie ist eine Versicherung, die unserem Frieden dient. Könnten wir das nur verstehen!

Es war nicht so, dass Jesus ohne Zorn gewesen wäre, ohne Temperament. Er war kein blasser, weichlicher Mann, der weder ja noch nein sagen konnte. Und er nahm sich denn auch sogleich der Krämerseelen im Tempel an und warf sie hinaus. Das ist wohl das einzige Mal, dass wir davon hören, dass er Gewalt anwendete. Aber es war eine milde Form von Gewaltanwendung. Sie war nicht tödlich, nur zurechtweisend. Sie hatte ein Ziel: Frieden im Haus Gottes. Es war wie eine notwendige Kritik an dem, was in der Kirche geschieht, an dem, was nicht geschehen darf. Es gibt Situationen, in denen es ein feiges Versäumnis wäre, wenn man nicht seine Stimme erhöbe und den notwendigen Protest formulierte. – Gottes Haus ist ein Bethaus – kein Ort, an den man kommt, um aneinander zu verdienen. Kein Ort, an dem man um des eigenen Vorteils willen betrügt und hintergeht. Gottes Haus ist kein Ort für Krämerseelen irgendeiner Provenienz. Wir suchen ihn auf, um zu Gott zu beten, nicht um einander auszunutzen. Was bedeutet das für den Frieden, von dem Jesus spricht. Beten heißt, sich zu Gott zu verhalten. Sich dem hinzugeben, was Gott mit dir will. Beten heißt demütig fragen, was Gott will, dass ich es tue. Es ist eine Form der Selbsthingabe, das genaue Gegenteil von Selbstbehauptung. Zu dem barmherzigen Gott beten heißt, sich angesichts der Fragen, die die Welt stellt, zu der Antwort der Barmherzigkeit zu bekennen. Im Haus Gottes verhalten wir uns nicht zu dem Gott der Rache, sondern zu dem Gott der Barmherzigkeit. Deshalb sind die Antworten, die wir in diesem Haus bekommen, immer Antworten der Barmherzigkeit, niemals Antworten der Rache. Rache gehört der Vergangenheit, den Göttern der Vergangenheit an. Der christliche Gott, der Vater Jesu Christi, befindet sich jenseits der Logik der Rache. Er ist Liebe – und Liebe und Rache sind unvereinbar. Sie können nicht im selben Zimmer sein.

Aber Jesu Einzug in Jerusalem endete doch mit dem Gericht über ihn, mit Tortur, Kreuzigung, Tod. Der Geist des Friedens, mit dem er kam, erlitt eine Niederlage, die allen völlig klar war. Vielleicht einen Augenblick lang auch ihm selbst, als er rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – Er bekam nicht Recht in seiner Verkündigung der Gewaltlosigkeit und Feindesliebe. Oder vielleicht doch? Seine Auferstehung am Ostersonntag ist eine Verkündigung, dass er trotzdem Recht bekam. Der Geist des Friedens stand aus dem Grab auf, in das seine Feinde ihn gelegt hatten. Die gewalttätige Welt, in der wir noch immer leben, ist wie das Grab, in das man Jesus legte. Aber das Grab war leer. Die Welt der Gewalt war nicht das letzte Wort. Es war das Wort Jesu, das den Sieg davontrug. Und das ist das Wort, das der Grundstein unserer Kirche ist. Der Geist des Friedens ist der Beginn der Hoffnung, die weiter in uns lebt. Dass die andere Welt, das Reich Jesu Christi, auch in dieser Welt immer deutlicher werden wird. Dass die beiden Welten mit der Zeit miteinander verschmelzen und eins werden. Dies ist etwas von dem Sinn der Tatsache, dass wir eine Kirche haben, einen Glauben, eine Hoffnung. Um im Glauben an den Geist des Friedens ermuntert zu werden, an den Geist der Barmherzigkeit und der Liebe, – darum hören wir das Evangelium und versuchen wir zu verstehen, was wir zu tun haben. – Der Franzose Renee Girard, der wegen seiner Theorien über Religion und Gesellschaft weltberühmt ist und sich selbst zum Christentum bekennt, meint, dass die Menschen dank der Religion geschichtlich betrachtet weniger gewalttätig geworden sind. Er ist der Meinung, es bestehe Hoffnung, dass die Menschen sich ständig in der Richtung von geringerer Gewalt in ihrer Natur entwickeln. Dass sich die Menschheit – u.a. dank der Leidensgeschichte in den Evangelien von Jesu Tod am Kreuz als unschuldiger Sündenbock der Menschheit – bewusst geworden ist, dass wir einander so nicht mehr behandeln dürfen. Wir dürfen die anderen nicht totschlagen, und wenn jeder Mensch das einsieht, dann wird die Gewalt aufhören. Es klingt unmöglich, aber es ist ein schöner Glaube und eine zarte Hoffnung, und ist es nicht das, was wir alle empfinden, wenn wir daran glauben, was Jesus wollte, als er in Jerusalem einzog und sich selbst als Sündenbock hingab für diese Stadt und für die Welt? Damit hat er ja offensichtlich gemacht, wie grausam es ist, einen unschuldigen Menschen zu töten, ja überhaupt, irgendeinen Menschen totzuschlagen.

Amen.

Pfarrerin Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 

 


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