Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

7. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juli 2005
Predigt über Markus 8, 1-9, verfasst von Kirsten Bøggild (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung, alte Reihe)

HUNGER

Wir haben das Glück, in einer Zeit und Gesellschaft zu leben, wo niemand weiß, was Hunger wirklich ist. Nicht viele von uns haben ihn am eignen Leib erfahren. Wir leben in einer Gesellschaft des Wohlstandes und Überflusses, in der wir es als Selbstverständlichkeit betrachten, dass wir satt zu Bett gehen. Obwohl wir von Hunger und Not in anderen Gegenden der Welt hören, kennen wir den körperlichen und seelischen Zustand, der Hunger heißt, nicht. Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass Hunger auch hier in den nordeuropäischen Ländern Wirklichkeit war. Jedenfalls für die Armen. Wie das ist, beschreibt der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun in einem autobiographischen Roman über einen mittellosen Dichter in Kristiania, dem heutigen Oslo, am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Roman mit dem Titel Hunger. Darin wird der körperliche und seelische Zustand eines Menschen beschrieben, wenn er überhaupt kein Geld hat und sich also kein Essen kaufen kann und also auch tagelang nichts zu Essen bekommt. Er wird krank – ja todkrank. Er wird wunderlich und seltsam bis zum Wahnsinn. Zuletzt ist es ihm fast egal, ob er stirbt. All das könnten wir uns auch selbst sagen. Aber da ist etwas, was wir uns vielleicht doch nicht selbst sagen können: es ist die Scham, die damit verbunden ist. Der Stolz, der den Weg versperrt und ein Bein stellt, sodass Andere einfach nicht helfen können. Fast völlig ohne Rücksicht darauf, wie es um ihn bestellt ist, verbirgt der junge Dichter seine menschliche Tragödie und Entwürdigung Anderen gegenüber. Er schämt sich seiner Armut und nimmt keinen Almosen an. Ganz im Gegenteil. Sobald er Geld in der Tasche hat, verschenkt er es. Wie um seine eigene Würde zu bewahren, sein humanitäres Gefühl, seine Ehre als ein liebevoller Mitmensch. Es kann irrational wirken, dass ein Mann, der drauf und dran ist, an Hunger zu sterben, sein letztes Geld einem anderen armen Unglücklichen schenkt, der jedoch nicht so hungert wie er selbst. Unbewusst aber ist das Ehrgefühl stärker als der körperliche Hunger. Wie ja die Scham über eigene Armut oft stärker ist als der Drang, die Hilfe eines anderen Menschen in Anspruch zu nehmen. Es ist die menschliche Würde, die auf dem Spiele steht, wenn der Hunger Leib und Seele zu vernichten droht.

Das gehört meiner Meinung nach dazu, wenn wir heute eines der Speisungswunder Jesu als Thema haben. Die Menschen, deren sich Jesus erbarmt, waren hungrig und hatten keine Möglichkeit, sich selbst Essen zu verschaffen. Ihre menschliche Würde stand auf dem Spiel. Nicht so ausgesprochen wie in Hamsuns Roman oder in den Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkireges oder in den Gegenden der Welt, die noch heute von Hungersnot oder Krieg gepeinigt werden – aber immerhin: Wenn der Hunger grassiert, tut er etwas an Menschen, was nicht gut ist. Er bedroht die Solidarität zwischen Menschen, die Mitmenschlichkeit, all die guten humanitären Prinzipien, denen wir normal huldigen. Aber verstehen wir das auch, wenn wir es denn nicht am eigenen Leibe erfahren?

Es gibt allerdings eine Art des Hungers, die wir kennen und die wir in unserem Teil der Welt vielleicht besonders gut kennen: Es ist die Sehnsucht, die aus Mangel an Lebensinhalt erwächst. Es ist der Lebenshunger, der mitten in einem Gefühl von totaler Leere entsteht. Ein Gefühl, das oft vom Mangel an Zusammengehörigkeit mit anderen Menchen herrührt. In einer armen Gesellschaft kann es mehr Gemeinsamkeit zwischen Menschen geben als in einer modernen Gesellschaft, wo jeder seines eigenen Glückes Schmied sein muss oder es auch nur sein lassen kann, glücklich sein zu wollen. Denn in einer modernen Gesellschaft kann jeder sich selbst genug sein und sich zurechtfinden. Nur vermag er nicht sich selbst das zu geben, was die Fülle in einem jeden Leben ist. Er kann sich nicht selbst Liebe schenken. Liebe kann er von Gott bekommen, von anderen Menschen, niemals aber von sich selbst. Deshalb dieses Gefühl von Leere, daher dieser Hunger nach Lebensfülle, die er sich nicht selbst geben kann. Auch Hamsuns bettelarmer Dichter ist tief einsam. Einige wenige versuchen ihm zu helfen, aber niemand liebt ihn – auch nicht die Frau, die ihn begehrt, bis sie entdeckt, wie elend er lebt. Da kehrt auch sie ihm den Rücken und findet einen anderen Mann. Ist das nicht ein genauso großes Elend wie der körperliche Hunger? Der Hunger danach, glücklich zu sein, glücklich geliebt zu sein?

Einmal wendet er sich zu Gott hin und gibt ihm die Schuld. In einer Mischung aus Zorn und Verachtung und demütigem Gebet. Ja, auf dem ganzen Weg seiner Leiden ruft er unwillkürlich Gott im Himmel um Hilfe an. Aber nicht systematisch. Nur als Aufschrei, wenn er in äußerster Not ist. Zuletzt wendet er sich rasend gegen ihn und leugnet ihn – ob er nun existiert oder nicht. Er findet Genugtuung daran, ihn zu verhöhnen und seiner zu spotten. – Aber wer hat die Schuld an dem Elend, und wer vermag zu helfen? Sind es nicht die Menschen, die einander dem Hunger und dem Elend überlassen? Die Reichen, die die Armen arm sein lassen? Sind es nicht die Menschen, die kein Mitgefühl füreinander haben? Die Menschen, die einen Dichter Hungers sterben lassen? Die Liebe der Frau, die abstirbt, als sie entdeckt, welch einen elenden Menschen sie liebt? War es denn nicht das Mitgefühl der Menschen, um das er betteln müsste? Aber in Wirklichkeit richtet der Notleidende seine Gebete und seinen Zorn gegen den Gott, der ihm das Leben geschenkt hat. So grundlegend ist das Unglück, dass es der Schöpfer des Lebens sein muss, der die Antwort dafür hat. So fassen wir es unwillkürlich auf. Nicht als das Ergebnis philosophischer Erwägungen, sondern als Ausdruck eines spontan erlebten Verhältnisses zu der Macht, die das Leben und die Lebensbedingungen, so wie sie sind, geschaffen hat. Die Menschen haben nicht nur ein Verhältnis zueinander. Sie haben vor allem ein Verhältnis zu Gott.

In der Erzählung des Markusevangeliums ist es Jesus, der mit den Hungrigen fühlt. Jesus handelt. Jesus kommt den Notleidenden zu Hilfe. Er handelt wie ein wahrer Mitmensch, aber es ist noch mehr als das: er handelt wie Gott selbst! Denn es ist keinem Menschen beschieden, aus fast nichts Speise zu schaffen. Gott schöpft aus dem Nichts, wenn er will. Jesus handelt, wie wenn er Gott selbst ist. Er zeigt, dass Gott gut ist. Dass Gott uns mit Brot und Fisch und Liebe segnet. Dass Gott Mitgefühl mit den Hungernden und Sehnsüchtigen hat. Dass Gott Fürsorge für den Menschen zeigt. Niemand hatte darum gebeten. Es geschah von selbst, durch Jesu Eingreifen. Was will der Evangelist damit sagen? Dass Gott gut ist. Dass wir Gott im Menschen Jesus begegnen. Dass Gott nicht fern und gleichgültig ist. Der sehnsuchtsvolle Mensch, der meint, nichts anderes zu erleben als Leere, wird darüber belehrt, dass er in einem Verhältnis zu einem liebenden Gott lebt und dass dies Lebensfülle für alle Zeit und Ewigkeit ist. Der verzweifelte Mensch kann Gott, soviel er will, verleugnen, Gott verleugnet ihn nicht. Im Bericht des Evangeliums sättigt er die Hungernden mit Hilfe eines Menschen – und das ist ein weiteres Zeichen dafür, wo der göttliche Eingriff stattfindet: Im Menschen und seiner Fürsorge für den anderen Menschen.

In Hamsuns Roman kommt ein beherzter Kapitätn vor, der dem halbtoten Dichter eine Heuer auf seinem Schiff gibt. Er rettet sein Leben. Unsentimental, unmittelbar, mit einer verborgenen, unausgesprochenen Liebe und Mitmenschlichkeit. Wir erfahren nicht, aber der Dichter Gott dankt, aber wir hören nun nichts mehr über seine Verfluchung Gottes im Himmel.

Ja, aber, werden manche einwenden wollen: Es gibt doch Menschen, die tatsächlich Hungers sterben, und Menschen, die mit Leere im Herzen sterben. Wo ist da die Güte Gottes? Niemand kann eine Antwort geben. Wir verstehen das Unglückliche, das Böse nicht. Aber das schließt nicht aus, dass wir die Güte und den Segen im Leben nicht sehen könnten. Wenn wir auch Leid und Schmerz nicht zu fassen vermögen, können wir doch sehen, dass das Leben ein Wunder ist und dass es voller Wunder ist. Unser Leben ist nicht eindeutig glücklich, aber es ist von Gott geschaffen, und es ist daher in einem engen Verhältnis zu ihm und seinem Willen zu leben. Und dann ist da etwas Böses, das wir nicht verstehen und nicht anerkennen, aber wir haben nur zu tun, was wir selbst tun können und uns in der Perspektive der Ewigkeit auf den Gott zu verlassen, den wir nur teilweise verstehen. So zornig und so unglücklich zu werden, dass wir Gott verleugnen, ja verfluchen, – das ist eine nicht notwendige Verzweiflung – wenn man das so sagen kann. Eine ungerechte Verzweiflung. Deshalb mag es sehr wohl geschehen, dass wir trotzdem hin und wieder von ihr getroffen werden. Aber ich glaube nicht, dass sie in einem Menschen andauert und Bestand hat. Weil sie sich nicht im Pakt mit dem Leben selbst befindet. Das Leben ist positiv, es kann unmöglich negativ sein, denn dann würde es sich selbst auflösen, vereinfacht gesagt – von dem, dessen Umfang – oder Usprung – wir nicht zu begreifen vermögen.

Wenn ich die phantastische Geschichte von dem Speisungswunder draußen in den öden Bergen wieder lese, dann ist es, wie wenn mir besonders zwei Bedeutungen in Erinnerung bleiben: Die eine, dass das Leben von Gottes wunderbarer Güte gesegnet ist. Dass Gott das Menschenleben aufrecht erhält, weil er es liebt. – Die andere, dass der Mensch sich in der Liebe spiegeln kann, um sie seinerseits an seinen Nächsten weiterzugeben. Dass diese Liebe die Antwort auf Hunger und Geführ der Leere, Hunger nach Lebensfülle ist.

In der Kirche haben wir eine rituelle Speisung im Gottesdienst. Das Abendmahl ist eine Form des wiederholten Speisungswunders. Brot und Wein sind eine göttliche Liebesmahlzeit. Eine Mahlzeit zur Erinnerung an die Liebe, die Jesus uns in seinem Tod um unseretwillen gezeigt hat. Diese Mahlzeit ist eine Segnung wie jene Mahlzeit draußen in den Bergen. Und sie zeigt uns, was wir tun sollen: Wie die 4000 Männer, Frauen und Kinder die sieben Brote und einige kleine Fische teilten, so sollen wir die vorhandene Speise und die empfangene Liebe miteinander teilen. Vielleicht war es die Solidarität unter den versammelten Menschen, die die Brotkörbe überlaufen ließ und die leeren Bäuche füllte? Und wie wir Brot und Wein am Altar teilen, so auch in der Welt draußen außerhalb der Kirche. Könnte es nicht vielleicht ganz einfach sein – wenn wir daran glaubten?

Aber glauben wir denn nicht daran? Die Frage muss ein jeder für sich selbst beantworten. In der Welt kann es so aussehen, als ob es viel Zweifel und Gleichgültigkeit gäbe. Aber es gibt auch Glauben. Wenn sich nämlich jemand um das Leben und Schicksal anderer Menschen Sorgen macht. Wenn jemand sein Leben mit hungrigen und sehnsuchtsvollen Menschen teilt, dann ist da Glaube. Glaube daran, dass das Leben, das Gott will, ein gesegnetes Leben für uns alle ist. Amen

Pfarrerin Kirsten Bøggild
Thunøgade 16
DK-8000 Århus C
Tel. +45 86124760
E-mail: kboe@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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