Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

6. Sonntag nach Trinitatis, 3. Juli 2005
Predigt über 5. Buch Mose 7, 1-12, verfasst von Christoph Ernst
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Vom Glauben abfallen…

Liebe Gemeinde,

manchmal möchte ich beim Lesen der Bibel vom Glauben abfallen.

Denn: immer wieder einmal begegne ich beim Lesen in meiner Bibel Texten, von denen ich – wenn ich es nicht schwarz auf weiß sähe – kaum glauben könnte, dass sie tatsächlich so im Buch der Bücher stehen. Ich spreche hier vor allem von solchen Texten, die unser gewohntes christliches Empfinden von Gerechtigkeit und Toleranz so ganz und gar nicht widerspiegeln wollen; von Texten, die unserer Erwartung an göttliche Sanftmut und Liebe, an Gnade und reichen Segen für uns Menschen geradezu ins Gesicht schlagen…

Der für diesen Sonntag vorgesehene Predigttext gehört - in seinem Zusammenhang jedenfalls - zu diesen „unglaublichen“ Abschnitten der Bibel. Doch hören, lesen und urteilen Sie selbst. Damit der Zusammenhang auch deutlich wird, habe ich den Predigttext um die davor stehenden Verse ergänzt.
Ich lese aus Deuteronomium 7, (1-5) 6-12:

(Wenn dich der HERR, dein Gott, ins Land bringt, in das du kommen wirst, es einzunehmen, und er ausrottet viele Völker vor dir her, die Hetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind als du, und wenn sie der HERR, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben und sollst dich mit ihnen nicht verschwägern; eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen für eure Söhne. Denn sie werden eure Söhne mir abtrünnig machen, dass sie andern Göttern dienen; so wird dann des HERRN Zorn entbrennen über euch und euch bald vertilgen. Sondern so sollt ihr mit ihnen tun: Ihre Altäre sollt ihr einreißen, ihre Steinmale zerbrechen, ihre heiligen Pfähle abhauen und ihre Götzenbilder mit Feuer verbrennen.)

Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.

So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen.

So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.

Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat…

Entsetzen

Liebe Gemeinde, was für ein Kontrast tut sich hier auf! Entsetzen – das war meine Reaktion, als ich diese Verse nach langer Zeit wieder einmal las. Entsetzen! Denn das kann doch eigentlich nicht wahr sein, was Mose seinem Volk hier verkündet – in einer Art göttlichem Testament kurz vor dem Einzug ins verheißene Land.

Machen wir die Probe: ersetzen wir einmal die Namen der aufgezählten und auszurottenden Völker, die wir kaum kennen, durch andere – etwa Amerikaner, Israelis, Deutsche, Italiener oder Kanadier… Ganz schnell kommen wir jetzt zu dem Schluss, dass wir es hier wieder einmal mit einer akuten Bedrohung durch islamische Fundamentalisten zu tun haben müssen. Dass so etwas auch als Text der Bibel vor uns steht – unglaublich!

Unlängst haben wir bei unserem monatlichen „Gespräch über Gott und die Welt“ die Frage diskutiert: Brauchen wir das Alte Testament noch? Wir hätten wohl nur diesen Abschnitt aus dem fünften Mosebuch aufschlagen müssen, um ein düster-abschreckendes Beispiel für die unbedingte Verneinung dieser Frage zu erhalten. Schnell wären wir uns schnell einig gewesen: Nein, dieses Alte Testament brauchen wir gewiss nicht mehr!

Erwählung I – Geschichte

Nun hören und lesen wir – im scharfen Kontrast zur blutrünstigen Vernichtungsorgie – als eigentlichen Predigttext aber etwas gänzlich anderes. Da ist mit einem Mal von Erwählung die Rede, von Gottes Treue zu seinem Volk, von Heil und Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied, von einer Generation zur nächsten. Welch krasser Widerspruch zu dem, was sich zuvor als Hass entlädt…

Ich denke, wir müssen weit zurückgehen, um diesen schwierigen, widersprüchlichen Abschnitt überhaupt verstehen und vielleicht sogar für uns selbst Gewinn daraus ziehen zu können. Vor zweieinhalb tausend Jahren mag man über vieles anders gedacht haben, als uns heute nachvollziehbar scheint.

Die Verfasser unseres Bibelabschnitts blicken hier wohl nicht nach vorn, wie es den Anschein hat, sondern sie blicken zurück. Sie erinnern daran, wie wohl dereinst einmal alles gekommen sein mag. Und warum also jetzt alles so ist, wie es nun einmal ist: warum so viele Menschen und Völker in diesem ach so schmalen Streifen Land zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben. Warum es zwischen diesen Völkern immer wieder Krieg gibt. Warum die einen offenbar erfolgreicher sind als die anderen. Sie erinnern auch daran, was den eigenen Glauben wirklich ausmacht und von der Religion der anderen unterscheidet.

Was wir hier lesen, ist auch ein verklärender Rückblick auf vergangene Zeiten. Bevor dies alles vor zweieinhalb tausend Jahren schriftlich festgehalten wurde, mag einer gesagt haben: „Lasst uns unsere Geschichte schreiben, denn wir wollen doch nicht vergessen, wie es war!“, oder ein anderer: „Könnt ihr euch noch erinnern? Damals, als unsere Vorfahren unterwegs und noch nicht hier sesshaft waren…“

Wir lesen in diesem Bibelabschnitt erklärende Geschichte, die Deutung der eigenen Geschichte, die dem Volk Israel sagen möchte, wie es heute, also vor zweieinhalb tausend Jahren, um das Volk bestellt ist, was die Erfolgsgeschichte des eigenen Volkes ausmacht.

Und, liebe Gemeinde, es hat sich doch bis heute nichts daran geändert: der eigene Erfolg - beim Gewinn von Land, in der Wirtschaft, im ganzen Leben eigentlich – dieser eigene Erfolg baut immer auch auf dem Misserfolg anderer mit auf. Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit, dass alle immer und überall gleichermaßen vorankommen. Gleichwohl entbehrt es nicht eines gewissen Zynismus’, wenn der Erfolgreiche, ohne nach rechts und links zu schauen, im eigenen Gelingen eine Erwählung Gottes zu erblicken vermag. Oder wenn er wenigstens Gott für sich und gegen die anderen am Werke sieht. Oder wenn er gleich selber Gott auf seine Seite stellt und gnadenlos dessen vermeintlichen Willen vollstreckt…

Wir merken sehr schnell, wie gefährlich eine solche Lesart der eigenen Geschichte ist. Und das nicht nur, weil ihr in der Menschheitsgeschichte bereits Millionen von Menschen zum Opfer gefallen sind – zahllose Indianerstämme hier in Nordamerika, Sinti und Roma, Juden, ganze Völker in Afrika, Armenier. Die Aufzählung ließe sich lange fortsetzen. Immer wieder glaubten und glauben Menschen, dass sie auf Geheiß und mit Unterstützung ihres Gottes andere Menschen und Völker ausrotten dürften.

An einen Gott aber, der solches Vernichten verlangt, kann ich nicht glauben. Selbst wenn es so in der Bibel steht. Dann schon lieber vom Glauben abfallen…

Das einzig Positive, das für mich in den ersten Versen dieses Bibelabschnitts zutage tritt, ist die schonungslose Ehrlichkeit, mit der die eigene Geschichte beschrieben wird. Ganz anders als etwa hier bei uns in Kanada, wo bis heute viele Menschen überzeugt sind, dass ihre Vorfahren einst von einem Niemandsland Besitz ergriffen haben, das auf die europäische Einwanderung nur gewartet hat.

Erwählung II – wo wir stehen

Liebe Gemeinde, vor diesem dunklen Hintergrund in der biblischen Sicht der Welt und ihres Gottes tritt nun ein anderer Aspekt umso leuchtender hervor. Es ist die Erwählung Israels durch seinen Gott. Dieser Gedanke, dieses theologische Konzept hat an Faszination bis heute nichts eingebüßt – im Gegenteil. Wenn ich persönlich auch nicht zu glauben vermag, dass die vermeintliche Erwählung eines Volkes, einer Volksgruppe oder einzelner Menschen zwangsläufig die Zurücksetzung oder gar Vernichtung anderer, offenbar weniger oder nicht erwählter Menschen einschließt.

Erwählt zu sein, mehr als andere geliebt und so vor anderen ausgezeichnet zu werden, gehört zu den menschlichen Ur-Sehnsüchten. Und ob wir es wollen oder nicht: das Funktionieren unserer Welt hat sich dieser tiefen menschlichen Sehnsucht nach Erwählung ganz hervorragend angepasst. Denn zu den menschlichen Eigenarten gehört es doch, den eigenen Selbstwert aus der lebendigen Erfahrung von Erwählung zu ziehen. Daraus, dass uns immer wieder bestätigt wird, dass wir uns von anderen positiv unterscheiden und abheben; daraus, dass uns eine besondere Bedeutung zuwächst – und mag sie noch so klein sein.

Und so überschlagen sich heute die Erwählungsbotschaften, die uns einreden wollen, dass sie uns wirklich meinen: Du bist erwählt – denn außer dir erhalten nur noch ganz wenige diese besondere Kreditkarte zu so günstigen Konditionen angeboten. Du bist erwählt – denn als Mitglied deines Klubs genießt du gewisse „Members only“-Privilegien. Du bist erwählt – denn du kannst im Flugzeug deine Beine in der First Class ein wenig weiter ausstrecken als der Rest der Normalbürger ein paar Reihen weiter hinten; und dich empfängt überdies ein breiteres Lächeln der Stewardess. Du bist erwählt – denn du bist zu einem Empfang eingeladen, von dem andere nur träumen können…

Wir sind ansprechbar für diese „exklusiven“, also: andere bewusst ausschließenden Angebote. Bei ein genauerem Hinsehen merken wir aber schnell, wie trügerisch solche Erwählung ist.

Erwählung III – wo Gott vorkommt

Liebe Gemeinde, worauf es wirklich ankommt, steht nun auch noch im heutigen Predigttext: dass Gott ausgerechnet Israel erwählt hat, dafür gibt es gar keinen Grund…

Außer den der Liebe. „Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker, sondern weil er euch geliebt hat.“

Die Liebe Gottes kennt offenbar keinen Grund, keine Ursache. Darin ist Gottes Liebe wie jede Liebe unverwechselbar. Gottes Liebe ist einfach da, und man sieht ihre Früchte wachsen – oder eben nicht. Wahre Liebe und echte Erwählung kann man sich weder verdienen noch erkaufen, man kann sie weder einfordern noch erwarten. Das lernt bereits jedes verwöhnte Kindergartenkind, wenn es irgendwann trotz der größten Bonbontüte ohne Freunde dasteht. Kinder sind da brutal, aber ehrlich.

So kann man Liebe erhoffen und ersehnen, aber man hat darauf keinen Anspruch. Zuneigung, Liebe und Erwählung ereignen sich – einfach so. Oder eben nicht.

Und ich bin sehr zuversichtlich: so ist es auch bei Gott und seiner Liebe zu den Menschen – zu allen Menschen. Begründen kann man das nicht, letzte Sicherheit wird darin niemand erlangen. Ist sie da oder nicht? Wir wissen es nicht. Aber Gottes Liebe wird uns zugesprochen, sie wird immer wieder verheißen.

Was wir allerdings tun können ist, dass wir ein Gefühl für die Liebe Gottes zu uns entwickeln können; einen Glauben, dass da ein liebender Gott ist, der uns behütet und bewahrt. Einen Glauben an Gottes grenzenlose Zuwendung zu uns, der sich aus unserer eigenen Lebenserfahrung speist. Wir können eine Haltung der Dankbarkeit entwickeln, die uns täglich neu und staunend auf unser Leben blicken lässt.

Wir werden dann sehr schnell merken, dass Erwählung, dass Gottes Liebe nicht nur allgemein dem Volk Israel, sondern uns, Ihnen und mir ganz persönlich, in unserem Leben geschenkt ist.

Und vielleicht werden wir dann sogar kräftig mit einstimmen in die alte Liedstrophe:
Bis hierher hat mich Gott gebracht
durch seine große Güte,
bis hierher hat er Tag und Nacht
bewahrt Herz und Gemüte,
bis hierher hat er mich geleit’,
bis hierher hat er mich erfreut,
bis hierher mir geholfen.

Wer so glauben kann, braucht keine Angst davor zu haben, irgendwann vom Glauben abzufallen - nicht einmal dann, wenn er die Bibel liest.

Amen

Lied nach der Predigt: EG 329, Bis hierher hat mich Gott gebracht

Weitere Liedvorschläge: EG 514, 1-4, Gottes Geschöpfe, kommt zuhauf; EG 504, Himmel, Erde, Luft und Meer; EG 325, 1-2+10, Sollt ich meinem Gott nicht singen?; EG 171, 1+4, Bewahre uns Gott, behüte uns Gott

Literatur: Predigtstudien 2004/05, GPM

Christoph Ernst, Pfr.
826 Colson Ave
Ottawa, ON K1G 1R7
Canada
pfarrer.ernst@sympatico.ca

 


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