Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2005
Predigt über Lukas 5, 1-11, verfasst von Birgitte Siemen (Dänemark)
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Neulich konnte man im Fernsehen eine Sendung über einen jungen Dänen sehen, der vor etwa 12 Jahren, als er in den USA reiste, in San Francisco von der Moon-Bewegung eingefangen worden war. Nach mehr als 2 Jahren in der Bewegung gelang es dem Vater und dem kleineren Bruder des jungen Mannes, ihn aus der Bewegung heraus zu kidnappen. Und erst nach Tagen hinter Schloss und Riegel und einem wochenlangen Aufenthalt in einem „Entwöhnungslager“ wurde dem jungen Mann klar, woran er eigentlich teilgenommen hatte. Dass er sich freiwillig einem System unterworfen hatte, das wir nur totalitär und autoritär nennen können, und in dem u.a. Gehirnwäsche ein Teil der alltäglichen Rutine war.

Und es ist denn auch erschreckend zu sehen, wie sich ganz normale junge Menschen von solchen neureligiösen Systemen einfangen lassen können.

Und es ist wohl dieser Ekel, der so manchen dazu veranlasst zu sagen: ja, demgegenüber steht unsere dänische Volkskirche als das einzige solide Angebot und Schutz. Die Volkskirche, die kennen wir, und sie frisst die Menschen nicht so einfach mit Haut und Haar.
Und das ist sicherlich völlig richtig.

Aber zugleich werden wir hier in der Kirche doch auch sagen, und zwar ganz besonders mit dem heutigen Text im Sinn, dass auch wir keinen Hehl daraus machen, dass wir gern Menschen einfangen möchten, und dass die Botschaft, die wir bringen, mindestens ebenso umfassend und ergreifend ist wie das, was neu- und altreligiöse Gruppen anbieten.

Im Grunde sollte man sich also gar nicht so sicher fühlen, auch nicht der anscheinend so friedlichen Volkskirche gegenüber.

Jedenfalls muss die Kirche dagegen Stellung nehmen, dass Religiosität etwas völlig Ungefährliches und Friedliches wäre, wir müssen bekennen, dass wir gern einfangen, es liegt im Selbstverständnis der gesamten Kirche, dass wir genau dies tun sollen. Wir sollen nicht bloß aufklären und erzählen – wir sollen, wie ich einmal in einer Konfirmandenstunde gesagt habe, indoktrinieren.

Das darf man nicht, sagte ein aufmerksamer Schüler. Es ist verboten zu indoktrinieren. Ja, sagte ich, so ist es in der Schule, aber hier sind wir nicht in der Schule, ihr seid in der Kirche, und hier indoktrinieren wir. Daran sollt ihr nicht zweifeln, keinen Augenblick! – Da sahen sie mich an, die Konfirmanden, denn sie sind es nicht gewohnt, dass man die Dinge so direkt beim Namen nennt. Indoktrinierung ist ja seit den 70’ern eines der absolut verbotenen Wörter gewesen, eines der Wörter, auf die wir scharf reagieren. Und wir kennen ja auch alle die Beispiele, dass Kinder an gewissen Orten nicht zum Weihnachtsgottesdienst in der Schule gehen dürfen, eben weil man weiß, dass die Kirche es ja nicht unterlässt, die Kinder zu beeinflussen.

Man denke nur daran, wie wir immer als festen Bestandteil unserer Kindergottesdienste das Abendmahl feiern. Und ich erkläre nicht einmal, was Abendmahl bedeutet, ich sage einfach nur, dass wir, wenn wir in die Kirche gehen, dann auch zum Abendmahl gehen. Und die Kinder strömen mit Freuden zum Altar und nehmen am Mysterium des Abendmahls teil. Und auf diese Weise bringen wir hoffentlich der neuen Generation bei, was ihre Eltern nicht können, nämlich ein natürliches Verhältnis zur Feier des Abendmahls zu haben.
Ja, das kann man sehr wohl Indoktrinierung nennen.

Ich glaube, dass die Angst vor Indoktrinierung oder der Wunsch, sich nicht einfangen zu lassen, ein sehr fundamentaler Zug unserer Kultur ist.

In einem Essay schrieb Suzanne Bögger einmal: „Verführt werden heißt, von unserer Wahrheit weggeführt werden. Es heißt, an einen anderen Ort geführt werden. Der moderne Mensch und besonders der moderne Mann hält an sich selbst fest und fürchtet Verwandlung.”

Vielleicht geht es darum. Vielleicht ist es im Grunde eines der Probleme unserer Kultur und führt dazu, dass sich junge Menschen, die sich von dieser vorherrschenden Auffassung in der Kultur absetzen, eben verführen lassen. Und zwar dann im Rausch des Aufruhrs sich verführen lassen an einen Ort, wo das mit Haut und Haaren geschieht, in den neureligiösen Bewegungen. – Während die Träger der Kultur mit Schrecken zusehen, weil sie die Veränderung fürchten.

Aber vielleicht auch, weil sie ein Abweichen von der Richtung fürchten, von der Lebensanschauung, auf die der moderne Mensch seit der Zeit der Aufklärung sein Leben gebaut hat, und nicht zuletzt seit dem industriellen Durchbruch im letzten Jahrhundert, nämlich von der Lebensanschauung oder Philosophie, die darauf hinausläuft, dass wir die Schöpfer und Herren des Daseins sind, dass wir die Maschine am Laufen halten, dass wir die Entwicklung und alles in Gang halten – oder kürzer gesagt: Wir sind unseres eigenen Glückes Schmied. Diesem Glauben gegenüber, der vielleicht einer der stärksten ist, die die Welt bisher hervorgebracht hat, melden sich die Volkskirche und die neuen und alten religiösen Bewegungen und versuchen, den Menschen beizubringen, dass sie ja gerade nicht die Schöpfer und Erhalter des Daseins sind, sondern im Gegenteil ein Teil des Ganzen, und dass sie gewissen grundlegenden Regeln und einer höheren Macht unterworfen sind.

Bis an diese Stelle folgen viele, wenn auch nicht alle neureligiösen Bewegungen der Botschaft, die auch hier in der Kirche verkündet wird, und man kann daher mit einigem Recht behaupten, dass wir deshalb auch ein Stück des Weges eine gemeinsame Front mit anderen Religionen und Bewegungen bilden, gegen den Köhlerglauben des modernen Menschen, dass wir im Stande wären, uns selbst zu verwalten und zu schaffen.

Aber selbstverständlich gibt es große und ganz grundsätzliche Unterschiede zwischen der Botschaft, die uns bei den neureligiösen Bewegungen gebracht werden, und dem Evangelium, das in der Kirche verkündet wird.

Auf einen der Unterschiede hat Grundtvig hingewiesen, als er in einer Predigt über diesen Text ausdrücklich darauf aufmerksam macht, dass das griechische Wort, das Jesus Petrus gegenüber benutzt, mit „lebendig gefangennehmen” zu übersetzten ist. Und das bedeutet ja gerade, dass die Menschen, die vom Wort des Evangeliums eingefangen werden, anerkannt werden als die, die sie sind; wir sind, was wir sind, und wir müssen nicht erst Gehirnwäsche und Persönlichkeitsprogramme durchmachen, ehe wir in die Gemeinschaft passen. Wir müssen nicht erst der Autortät des Leiters oder der Gruppe unterworfen werden.

Und hier nähern wir uns einem der grundlegenden Probleme der neureligiösen Bewegungen, nämlich dass sie stahlhart geführt werden, dass sie im Grunde auf ein ausgesprochen autoritäres System bauen. Die Berichte darüber, was geschieht, wenn man die Bewegung verlässt, kennen wir alle, dass Familien zerbrechen usw.

Aber einer der Gründe, dass Grundtvig darauf aufmerksam war, dass die Erweckungsbewegung, die zu seiner Zeit das ganze Land überschwemmte, in gewissen Fällen Strukturen entwickelt hatte, die denjenigen Strukturen ähneln, die wir von den modernen neureligiösen Bewegungen her kennen – eine völlige Unterwerfung unter die Autorität und ein starres Regelgeflecht, was man durfte und was man nicht durfte.

Und genau dies ist in meinen Augen der absolute Unterschied zwischen der Botschaft, die unsere Kirche vermittelt, und derjenigen, die es in manchen anderen religiösen Gruppen gibt, mögen sie sich nun christlich nennen oder nicht: Der Unterschied ist nicht die Verführung oder Lust, zu fangen, wenn man so will, nein, der Unterschied liegt darin, was die Verführung bringt, was ihre Absicht und ihr Inhalt ist.

Und wir wissen es ja nur zu gut – dass Verführung und Verführung mancherlei sein kann, auch wenn wir das Wort in seiner urprünglichen Bedeutung verwenden – also wenn vom Erotischen die Rede ist.

Die Verführung kann zur Bindung an Händen und Füßen führen, zur Unterdrückung des Verführten, sie kann zu Ausnutzung und Verderben des Lebens führen.

Aber die Verführung kann auch zu neuem Leben führen, zu Freude und Entfaltung – es ist der Augenblick, in dem die Verführung letzten Endes zu einer gemeinsamen Tat wird. Und wir wollen ehrlich sein – das christliche Evangelium ist auf Verführung aus. Es will uns verführen, uns zu dem Glauben verführen, dass wir geliebt sind, von vornherein, für immer.
Sören Kierkegaard nannte das Evangelium auch Gottes Liebesbrief an uns Menschen.

Aber hier scheiden sich die Geister, wie gesagt – denn es ist nicht der Geist des Evangeliums, Gehirnwäsche vorzunehmen oder das Leben begrenzende Zäune im Leben eines Menschen zu errichten.

Das Evangelium akzeptiert uns als die Menschen, die wir sind, oder wie Paulus es ausgedrückt hat: Alles ist erlaubt – wenn auch nicht alles nützlich ist.

Das Evangelium verkündet die große Freude, dass Gott wie der Liebende ist, der uns annimmt mit all den Vorzügen, Fehlern und Mängeln, die wir nun einmal haben.

Und wenn wir die Botschaft hören, wenn wir uns von ihr verführen lassen, dann ist es lebensnotwendig für uns, ja, dann sind wir gefangen, dann sind wir lebendig eingefangen. Aber wir sind zugleich in all unserer Eingefangenheit eben in die Freiheit entlassen, weil die Freiheit darin besteht, sich geliebt zu wissen.

Dies hatte Grundtvig vor Augen, als er in dem Lied „Nun wird offenbart“ über das Wesen der Liebe schrieb: „Je stärker sie bindet, desto freier macht sie!“

Und darin besteht die wahre Stärke, in der ganzen Welt, dass wir geliebt sind. Nicht die Stärke der rohen Macht, die nur beherrschen und unterwerfen will, sondern vielmehr die Stärke, die darauf beruht, dass wir unter dem Vorzeichen der Liebe leben, dass wir ein Teil des Ganzen sind und dass wir davon leben, den anderen Teilen in dem Ganzen zu geben und von ihnen zu empfangen.

Für dieses Evangelium wollen wir hier in unserer Kirche Menschen fangen. Und ich bin mir durchaus bewusst, dass die Volkskirche oft ihrer weiten Geräumigkeit wegen, oder, wie man es auch nennt, ihrer Haltungslosigkeit wegen, kritisiert wird.

Die Kirche stellt zu wenig Forderungen an die Menschen, sie umfasst mit Freuden auch Menschen, die vielleicht nur selten den Weg in die Kirche finden, die aber ihr ganzes Leben hindurch Mitglieder der Kirche bleiben.

Und ja, es kann vielleicht ein bisschen lau wirken im Gegensatz zu den starken Gruppenbildungen von „Erlösten“, mit denen die religiösen Gruppen in den Sekten oder den neuen Bewegungen aufwarten können. Das mag wohl etwas auf sich haben.

Aber ich habe es nun immer als die Stärke der Volkskirche empfunden, dass in ihr Freiheit herrscht und Platz ist.
Freiheit von einengenden Bindungen und Regeln – und nicht zuletzt das Antiautoritäre, das zum Geist der Volkskirche gehört.
Eine geordnete Anarchie haben viele den Aufbau der Kirche genannt, und damit bin ich ganz einverstanden.
Nein, die Kirche zeichnet sich nicht gerade durch viel Programmerklärung aus.

Aber es herrscht Anerkennung deines und meines Lebens, wie sie nun einmal sind, im Gegensatz zu der gehirngewaschenen Lebenveränderung, die die Sekten verlangen, um die Gruppe einheitlich zu machen.

Also, anstatt sich zu beklagen über mögliche Lauheit und fehlende Strenge, lasst uns heute, in diesem 150sten Jahr unseres Grundgesetzes und damit auch unserer Volkskirche, die wir so sehr lieben, die Verschiedenheit lobpreisen, die hinter diesen Mauern gedeiht.
Diese Verschiedenheit ist nämlich im Grunde unsere Stärke.

Wir sind von sehr verschiedener Art, manche sind stark, andere sind schwach, aber wir alle sind geliebt, weil wir sind.

Das ist im Kern die Botschaft von Weihnachten, Ostern und Pfingsten, das ist die Botschaft, die die Kirche 2000 Jahre lang aufrecht erhalten hat. Und das kann sie und uns tragen, das ganze Jahr und bis ans Ende unserer Zeit.
Weil es von dem Geist getragen ist, der der Geist der Liebe und der Wahrheit ist. Amen.

Pfarrerin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: ++ 45 – 45 85 63 30
e-mail: ebsi@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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