Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2005
Predigt über Lukas 6, 36-42, verfasst von Niels Henrik Arendt
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(Text der dänischen Perikopenordnung)

Es geht darum, der Wirklichkeit in die Augen zu sehen – das ist geradezu ein Glaubenssatz unserer Zeit. Zum Beispiel haben die Fernsehsender eine Struktur, in der das, was man Sendungen über Fakten nennen könnte, einen hervorragenden Platz einnimmt, und wenn man sich mal die Mühe macht, das gesamte Radio- und Fernsehprogramm für die kommende Woche durchzusehen, kann man sehen, wieviele Programme es auf sich nehmen, den gewöhnlichen Zuschauer und Hörer mit der nicht besonders schönen Wirklichkeit zu konfrontieren; dann kann man beobachten, wie wichtig dieser Realismus für die Programmpolitik ist – die Philosophie, die dahintersteht, ist die, dass besonders die menschliche Wirklichkeit so nüchtern und direkt wie möglich darzustellen ist. Und genau dasselbe sehen wir in Zeitungsberichten, in Wochenzeitschriften, Illustrierten und ähnlichen Medien; wir können diskutieren, ob da denn auch ein wahres Bild der Wirklichkeit des Menschen geboten wird. Aber es besteht kein Zweifel, dass das ein Teil der Zielvorstellung ist – auch bei den geringsten unter den Blättern. Siehe der Wirklichkeit in die Augen und lass deine Leser ihr in die Augen sehen – erlaube dir nicht, die Tatsachen herauszuputzen und lass dich nicht von deinen Gefühlen mitreißen. Eine Reportage, die von Mitgefühl getragen ist, gehört zu den Ausnahmen; und wenn soetwas dann ausnahmsweise doch einmal vorkommt, dürfen wir uns wohl mitreißen lassen, aber wir haben im Innersten dennoch Vorbehalte: es ist ja eine gefärbte Reportage, sie ist nicht ganz realistisch; die Augen, die hier sehen, sind nicht neutral. Sieh der Wirklichkeit in die Augen, und lass dich nicht von deinen Gefühlen blenden.

Aber in den Worten Jesu, die wir vorhin gehört haben, ist das Interesse auf die Augen gerichtet, die die Wirklichkeit sehen. Sieh der Wirklichkeit in die Augen, sagen wir, jawohl, aber mit welchen Augen? Jesus spricht davon, wie Blinde nicht andere Blinde führen können, und er erzählt das Gleichnis von dem Mann, der glaubt, er könnte einen Splitter im Auge seines Mitmenschen sehen, während er selbst einen Balken im Auge hat. Der Sinn dieser Worte und Bilder ist der, dass das, was wir Realismus nennen, in Wirklichkeit eine Form von Blindheit ist. Jesu Botschaft ist die, dass nur derjenige, der mit klaren Augen auf seinen Mitmenschen sieht, diesen Mitmenschen so sehen kann, wie er oder sie wirklich ist. Aber klare Augen hat nur der, der die Balken und, was sonst noch die Sicht behindern kann, aus ihnen entfernt bekommen hat. Ohne Bilder gesagt: nur derjenige, der selbst Vergebung empfangen hat, kann über seinen Mitmenschen urteilen – und kann deshalb gerade nicht über ihn urteilen.

Wir sprechen davon, der Wirklichkeit in die Augen zu sehen. Aber nicht alle Augen können die Wirklichkeit sehen. Das können nur die Augen, die Mitgefühl, Barmherzigkeit, Solidarität kennen. Das Gefühl, das Mitgefühl macht nicht blind, es macht vielmehr sehend. Es gibt – anders als man gewöhnlich annimmt – keinen Realismus ohne Barmherzigkeit; nur der, der selbst Barmherzigkeit erlebt hat, sieht hinreichend klar, um hinter all das zu schauen, was wir Wirklichkeit nennen, und für den Blick der Barmherzigkeit schwindet der Balken in den Augen deines Bruders zu einem Splitter.

In dem, was wir Realismus nennen, geschieht in der Regel das Entgegengesetzte: der Splitter schwillt an und scheint zu einem Balken zu werden, die Fehler anderer Menschen werden vergrößert, wenn wir sie kühl und anteilnahmslos betrachten. Und eben deshalb ist das, was wir Realismus nennen, in Wirklichkeit eine Form von Verblendung. Oder anders gesagt: man kann einen anderen Menschen nicht verstehen, ohne Nachsicht mit ihm zu haben. Das Elend ohne Mitgefühl zu schildern heißt, dass man darüber lügt.

Viele der Zeitgenossen Jesu meinten, sie besäßen den klaren Blick für die Wirklichkeit im Gegensatz zu allen Heiden. Sie nannten sich selbst „Erzieher der Unaufgeklärten“, sie erhoben den Anspruch, „Führer der Blinden“ zu sein. Wir sind die, die sehen, sagten sie, wir haben ja das Gesetz Moses, mit dem wir die Wirklichkeit beurteilen. Wir müssen die Richtigen sein, um die zu führen, die selbst nicht sehen können. Aber Jesus sagte zu ihnen: Ihr seid selbst blind. Schon die Tatsache, dass ihr die Anderen für blind erklärt, offenbart eure eigene Blindheit. Aber sie wandten dagegen ein: ja, aber wir können doch sehen, wie sie sündigen und sich irren in allen möglichen Bereichen. Sie waren die Realisten jener Zeit, sie bildeten sich nichts ein über die Menschen, sie nahmen kein Blatt vor den Mund, sie nannten Sünde Sünde. Aber Jesus sagte zu ihnen: Ihr könnt eure eigenen Fehler nicht sehen. Und sie behindern eure Sicht, und deshalb macht ihr Fehler in dem, was ihr über Andere zu wissen glaubt.

Sich all des Unbedeutenden und Kleinlichen an den Menschen anzunehmen, seinen Blick auf all das zu richten, was man anklagen kann, das trübt im Grunde den Blick – und hat nichts damit zu tun, der Wirklichkeit in die Augen zu sehen, obgleich wir das wohl so auffassen.

Und dem stellt Jesus nun dies gegenüber, dass man seine Mitmenschen ansieht, ohne einen Balken im eigenen Auge zu haben, und damit meint er nicht, dass sich der Mensch selbst fehlerfrei machen und auf diese Weise seine Sicht allmählich verfeinern kann; nein, er meint das Ansehen des Mitmenschen mit dem Wissen, dass einem selbst vergeben worden ist. Und das heißt, den Anderen in Solidarität anzusehen, sich selbst genauso abhängig von Nachsicht zu wissen, wie man den Anderen davon abhängig sehen kann. Den Balken im Auge zu haben bedeutet, dass man sich selbst ganz anders sieht als den Anderen, es bedeutet, dass man sich distanziert. Ohne Balken zu sein bedeutet, dass man sich selbst mit dem Anderen verbunden weiß, das bedeutet, mit dem Anderen in dessen Not solidarisch zu sein, das bedeutet, dass man sich selbst von dem Splitter im Auge des Anderen getroffen fühlt, es bedeutet, dass man einsieht, dass der Fehler des Anderen nicht etwas ist, was uns verschieden macht, sondern im Gegenteil etwas, was uns verbindet.

In einer Erinnerungsrede erzählt ein alter russischer Mönch von seinem Bruder, der allzu früh verstarb. Der Bruder sei eigentlich ein ziemlich hochmütiger Mensch gewesen, einer, der sich besser und klüger und aufgeklärter wähnte als Andere, aber eines Tages wurde er von der galoppierenden Schwindsucht ergriffen, und da fing er an, sich ganz merkwürdig zu benehmen: er begann alle Menschen um Vergebung zu bitten, sogar für Versehen, die gar keine Versehen waren. Der Arzt sagte: die Schwindsucht hat ihm den Verstand geraubt. Und so sah es auch aus: er begann sogar, die Vögel und andere Tiere um Vergebung zu bitten. Seine Mutter versuchte verzweifelt, in zur Vernunft zu bringen: Du nimmst allzu viel Sünde auf dich, sagte sie unter Tränen zu ihm. Aber der Totkranke selbst weinte vor Freude, erzählt der alte Mönch viele Jahre später, und er sagte, dass er im Paradies war. Wie kann man sich so schuldig fühlen und zugleich so glücklich sein, fragt der Alte. Müsste das Schuldgefühl einen nicht niedergedrückt machen? Aber der junge, todkranke Mann ist glücklich, denn er ist nun nicht mehr über die Anderen erhaben; er sieht klar, dass er mit ihnen in ihren Fehlern gleichgestellt ist, in ihrer Schuld, ihrer Schwäche, und nur so kann er der Barmherzigkeit, der Vergebung, dem Mitgefühl begegnen. Und wo die Barmherzigkeit und die Vergebung ist, da ist auch das Paradies. Das Paradies ist nicht, wo der Mensch rein und fehlerfrei ist, das Paradies ist da, wo der Mensch sich schuldig und mitschuldig weiß.

Seinen Mitmenschen mit Barmherzigkeit, in Solidarität, mit Mitgefühl, mit innerlichem Verständnis und tiefer Zusammengehörigkeit anzusehen, das heißt, ihn mit einem klaren Blick anzusehen. Und so sieht Gott den Menschen an, erzählt Jesus.

Gott sieht nicht nur unserer menschlichen Wirklichkeit in die Augen mit all dem Geringen und Elend, das sich gewiss von ihr sagen lässt, nein, er sieht unsere menschliche Wirklichkeit mit den Augen der Barmherzigkeit an, mit dem klarsten Blick von allen. Deshalb sieht er tiefer als die, die uns ohne Teilnahme ansehen. Weil Gott den Menschen nie ohne innerliches Verständnis ansieht, ist Gott der große Realist. Und er lädt uns dazu ein, dass wir einander auf dieselbe Weise ansehen. Amen.

Bischof Niels Henrik Arendt
Ribe Landevej 37
DK-6100 Haderslev
Tel.: 74 52 20 25
E-mail: nha@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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